Dschelaleddin Rumi PDF Drucken E-Mail

Horch mit dem Ohr der Seele

den zahllosen Tönen…“

Musikalische Notizen über den Mystiker und Migranten Maulana Dschelaleddin Rumi

von Herbert Hopfgartner

Vor 800 Jahren wurde der islamische Gelehrte, Theologe, Poet und Mystiker geboren – die UNESCO hat deshalb das Jahr 2007 zum Rumi-Gedenkjahr erklärt. Es wird erzählt, dass nach seinem Tod am 17. Dezember 1273 Angehörige aller drei monotheistischen Religionsgemeinschaften in Konya am Leichenzug teilgenommen haben sollen. Rumi galt den Christen als „zweiter Jesus“ und den Juden als Nachkomme Moses. Im „Großen Diwan“ lässt Rumi selbst die Grenzen der Religionen weit hinter sich:

„(…) Ich bin weder Christ noch Jude,
auch Parse und Muslim nicht; (…)
Mein Ort ist da, wo kein Ort ist,
mein Zeichen ist ganz ohne Mal.“

Er bezeichnet sich als „Suchender“ und fordert seine Familie auf, sein Ableben als Fest Gottes wie eine Hochzeit zu feiern. So wird nach seinem Tod drei Tage lang musiziert und getanzt.

„Siehe, ich starb als Stein und ging als Pflanze auf
Starb als Pflanze und nahm darauf als Tier den Lauf
Starb als Tier und ward ein Mensch.
Was fürcht ich dann
Da ich durch Sterben nicht minder werden kann?
Wieder, wann ich werd als Mensch gestorben sein
Wird ein Engelsfittich mir erworben sein
Und als Engel muss geopfert sein ich auch
Werden, was ich nicht begreif, ein Gotteshauch.“

Friedrich Rückert übersetzt 1819 einige Ghaselen (ghasel = orientalische Gedichtform mit wiederkehrenden Reimen) ins Deutsche und macht damit den persischen Mystiker (Rumi verwendete das Persische, Türkische und Griechische sowohl als Mittel zur Verständigung als auch als Sprache seiner Lyrik) in Europa bekannt. Rückert beendet das obige Gedicht allerdings vorzeitig, Annemarie Schimmel, die international anerkannte Rumi-Expertin, ergänzt das Gedicht mit einem musikalisch-mystischen Bild:

„O lass mich nicht-sein!
Denn das Nichtsein ruft
Mit Orgeltönen aus:
Zu Ihm kehren wir zurück!“

Als Geburtstag von Maulana Dschelaleddin Rumi (eigentlich Muhammad Djalal du-Din Walad) wird der 30. September 1207 angenommen. Der Geburtsort, Balkh (auch Balch, zugleich der Geburtsort von Zarathustra) – 663 von den Muslimen erobert – liegt an der Seidenstraße im heutigen Afghanistan. Vor den Mongolen flüchtet die Familie 1218 zunächst nach Chorassan im heutigen Iran. Nach einer Pilgerfahrt nach Mekka lässt sie sich für kurze Zeit in Syrien (Arzanjan und Laranda) nieder (Dschelaleddin dürfte in Damaskus und in Aleppo studiert haben). Um das Jahr 1226 erreicht sie Konya, das alte Ikonium in Anatolien. Im Orient ist der Mystiker unter dem Namen Hazreti Mevlana (hazreti = „erhaben, höchst verehrungswürdig“ bzw. mevlana, maulana = „mein Herr“) bekannt, während die in Europa gebräuchliche Bezeichnung Rumi auf die „Provinz der Römer“ (diyar-i Rum) hinweist. Jajal bedeutet „Erhabenheit“, während din auf die Religion hinweist.

Das 13. Jahrhundert gilt nicht nur in Europa als Epoche der Mystiker. Während die Truppen von Dschingis Khan die „alte Welt“ das Fürchten lehren, erscheint die kontemplative und stille Frömmigkeit bzw. Innerlichkeit (gr. mýein = „sich schließen“) einer meditativen und zurückgezogenen Religiosität geradezu als notwendiges Gegengewicht. Während im Abendland die Vergeistigung bzw. Entrückung im schweigenden Gebet bzw. im einstimmigen Singen gregorianischer Choräle, in Ostasien durch eine absichtslose und gedankenleere Verschmelzung mit dem Dao vollzogen wird, gilt der Tanz der Derwische (Sufis) als orientalische Besonderheit. Im doppelten Sinn merkwürdig erscheint, dass Rumi als anerkannter islamischer Theologe und Gelehrter der griechischen Philosophie seine Stellung aufgab, um bei einem unbekannten Derwisch (Schams-i Tabriz, auch bekannt als Schamsuddin Tabrizi), seinerseits ein Migrant par excellence – zu lernen…

Im Folgenden sei nun lediglich versucht, das Ineinandergreifen von Religion und Musik in der morgenländischen Tradition am Beispiel dieses musikalischen Phänomens etwas näher zu beschreiben. Zum besseren Verständnis sei angemerkt, dass auch der europäische Begriff musike als sprachliche Wurzel der Musik ursprünglich eine wesentlich komplexere Bedeutung hinsichtlich eines integralen Verständnisses von Wort, Klang und Bewegung ausdrückt, als es die Dialektik der „klassischen“ abendländischen Tonkunst (gemeint ist die strenge Unterscheidung in aktiv Musizierende und passiv Konsumierende) vermuten lässt. Wie im christlichen Europa musste sich der Tanz auch im arabisch-muslimischen Raum von orthodoxen Geistlichen den Vorwurf gefallen lassen, dass er heidnischen Ursprungs sei und durch zuviel Sinnlichkeit die Gläubigen vom rechten Pfad abbringe. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, dass in der arabischen Welt sowohl der Gebetsruf (adan) des Muezzin als auch der rezitierende Vortrag (taghbir) aus dem Koran (qu’ran) nicht als „Gesang“ bzw. „Tonkunst“ verstanden wird, wiewohl der Lesende (mugri) bzw. Vorleser (tali) verschiedene Tonebenen, drei unterschiedliche Geschwindigkeiten und andere Aussprache-Regeln zu befolgen hat. Im Koran selbst bezieht sich erstaunlicherweise keine einzige Sure explizit auf Musik.

In der islamischen Mystik, dem Sufismus, bedeutet der Be­griff dikr („Erwähnung, Gedanken“) eine Zeremonie, in der mit Hilfe von Rezitation, Gesang und Instrumentalmusik, Tanz, Kostümierung und Weihrauch eine Form der Ekstase und Trance gesucht wird. Der Weg (tariqa) eines Sufi beginnt beim Auslöschen der sinnlichen Wahrnehmung bzw. bei der Aufgabe des Verhaftet-Seins an individuellen Eigenschaften. Erst durch das Sterben des Egos bzw. die Entsagung materieller Sehnsüchte (im Arabischen wird die „Selbstlosigkeit“, wörtlich das „Entwerden“ durch den Begriff fana umschrieben) ist das Eins-Sein mit Gott (tauhid) überhaupt möglich. Zum Zeichen der Buße und der Entsagung weltlicher Bedürfnisse und Wünsche trugen bzw. tragen Sufis Kleider aus einfacher grober Wolle (suf).

Der Aufstieg der Seele vom diesseitigen Dasein zur unio mystica wird in der Bildersprache der Sufis durch den Tanz symbolisiert, wobei dieser als Manifestation einer ekstatischen Liebe zu Gott verstanden wird. Da das grundlegende Ziel einer Dikr-Zeremonie das Herbeiführen von der Anwesenheit Gottes (hadra) ist, wird auch der Tanz wie die Musik als Mittel verstanden, aus dem irdischen Tun auszubrechen. Im „Hadra-Teil“ wird in einer Art Ostinato der Gottes-Name (la ilaha illa ’lla, ya allah, allah hu, al haqq – „Es gibt keinen Gott außer Gott, oh Gott, Gott, Er, der Wahre“) wiederholt, wobei der Solist einen hymnenartigen, reich verzierten Gesang intoniert. Der melismatische Gesang wird von tiefen Atembewegungen begleitet, wobei sich die Teilnehmer beim Ausatmen nach vorne bücken und beim Einatmen wieder aufrichten.

Der ekstatische Tanz der Derwische dient einerseits zur Demonstration der Gottesliebe, andererseits als Medium, die notwendige spirituelle Ebene zu erreichen. Der außergewöhnlichste Tanz ist jener der Mevlevi, deren Zentrum sich in Konya befindet – auch der Name des Tanzes leitet sich direkt von Maulana Dschelaleddin Rumi ab. (Rumi dürfte obendrein die Tracht der Derwische entworfen haben.) Die Tänzer (semazen) stehen auf einem achteckigen Podium (im Islam gibt es 8 Himmel) in der Nähe des saih, einem religiösen Führer. Die weißen Gewänder deuten auf das Totenhemd, die schwarzen Mützen auf das Grab. Nach einem rituellen Gebet, dem Singen des nat sarif (einem Lobgesang auf den Propheten) und einer Flötenimprovisation schreiten die Tänzer in schwarzen Mänteln dreimal um die Plattform und verneigen sich ebenso oft vor dem Meister. Nachdem dieser die Erlaubnis zum Tanz gibt, entledigen sich die Tänzer ihrer Mäntel, breiten ihre Arme aus und beginnen sich zu drehen. Die rechte Hand zeigt nach oben (diese Haltung symbolisiert die Ausstrahlung zu Gott), die linke dagegen auf den Boden (als Zeichen für die Verbundenheit mit der diesseitigen Welt). Die weißen Gewänder umflattern die Tänzer wie kreisende Scheiben. Während die Tänzer sich langsam (gegen den Uhrzeigersinn) um ihre eigene Achse drehen, bilden sie zusammen einen vollen Kreis, wobei sich der älteste Tänzer im Zentrum des Kreises auf der Stelle bewegt.

Neben diesem vergeistigten und spirituellen Tanz existieren auch rasende Derwisch-Tänze, in denen sich die Teilnehmer zu Selbstverstümmelungen hinreißen lassen. In besinnungsloser Trance steigern sich diese Tänzer zu gefährlichen Selbstgeißelungen. Diese öffentliche Zurschaustellung thaumaturgischer (auf Wunder bezogene) Prozesse sollte die Macht Gottes, die in den Tänzern wirkt, demonstrieren…

Auf einer Miniatur von Amir Khusran (Persien, 1485) sind tanzende Derwische mit langärmligen Gewändern und weißen Schals, deren Enden in der Luft flattern, zu sehen, die sich zu einer Musik von Flöte (nai), Tamburin (da’ira) und Händeklatschen bewegen. Statt dem Tamburin, das mitunter als Fraueninstrument angesehen wurde, werden auch größere Rahmentrommeln (mazhar und bandir) verwendet, in manchen Gegenden wird zusätzlich auch die rabab (rebab), eine (oft nur) doppelsaitige gestrichene Halslaute gebraucht. Der Kreis (in der Sanskritübersetzung „Mandala“) ist nicht nur ein Symbol für das Grenzenlose (ohne Anfang und ohne Ende, weder Richtung noch Orientierung) und Ewig-Absolute, sondern auch – im Sinne einer künstlerisch meditativen Selbstdarstellung – eines psychischen bzw. religiösen Zentrierungsprozesses (Individuation). Abu Said Ibn al-Arabi (+952) vertrat die Auffassung, wonach der Gottsuchende nur durch Ekstase zu letzter Erkenntnis gelangen könne – das mächtigste Mittel dazu sei allerdings schon das „Hören von Musik“ (sama, sema). Der persische Dichter und Mystiker Sa’adi (auch Moscharref od-Din Abdullah, +1291), ein Zeitgenosse Rumis ergänzt:

„Der Tanz öffnet die Türen der Seele dem göttlichen Einfluss (…) Tanzen ist gut, wenn es zur Erinnerung des Geliebten gepflegt wird; dann ist jeder flatternde Ärmel beseelt (…).“

In seiner höchsten Form wird die Musik bzw. dieser „Rund-Tanz“ ein rein spirituelles Erlebnis: Der Betende und Um-sich-Kreisende vergisst die tatsächliche Musik und hört mit dem geistigen Ohr. Nach Abu Said Ibn al-Arabi hat der spirituell weit fortgeschrittene Sufi Anteil am „göttlichen Gehör“. Für Maulana Dschelaleddin Rumi ist der Mensch ein Teil eines harmonischen Universums, wobei jeder einzelne durch Liebe Gott näher kommen kann. In seiner Poesie bezeichnet er Gott vielfach als den „Geliebten“ und die individuelle menschliche und suchende Seele als den „Liebenden“. In seinen Lehren wie in seinem Leben offenbart sich dieser Dialog durch Poesie, Musik und Tanz – Qualitäten, die nach Ad-Darani (+ca. 820) schon von Grund auf im menschlichen Herzen enthalten sind. Abu Hamid al-Gazzali (1058-1111) ergänzt diese Ansicht und versucht orthodoxes Gedankengut mit denen des Sufismus zu vereinen. Ein essentieller Gedanke seiner Argumentation ist die (an sich antike) Idee, dass sich durch Musik, Gesang und Tanz das Innere des Herzens „offenbare“.

So eröffnet sich dem Abendland in der Begegnung mit der Mystik der Sufis und dem Tanz der Derwische eine über Jahrhunderte vielfach unbeachtete islamische Kultur, wobei die Faszination dieser Bräuche einerseits von der Integration von Sprache (Gebet), Musik und Tanz (Rumi dürfte im arabischen Raum als erster den Gesang, die Musik und den Tanz „institutionalisiert“ haben), andererseits von der erstaunlichen Toleranz gegenüber anderen Religionen ausgeht. Der Sufismus überwindet zudem die dogmatische Strenge orthodoxer Ideologien, die in der Gottessuche epistemologisch (erkenntnistheoretisch) ein Primat der Offenbarungstexte (aus Koran und Sunna) einfordern!

Eingedenk der Forderung von Claude Lévi-Strauss, wonach „es notwendig ist, in einer von Monotonie und Uniformität bedrohten Welt die Verschiedenheit der Kulturen zu erhalten“, erscheint es ratsam, einen ethnozentrischen wie konfessionell unnachgiebigen Standpunkt zu verlassen. Andere Kulturen zu erforschen, um sie dann auf „unterschiedlich rückständige Repliken der westlichen Zivilisation zu reduzieren“, ist – wenn es um einen ernsthaften Dialog der Kulturen geht – als Diskussionsbeitrag zu wenig. Die Forderung, den Reichtum und die Originalität der verschiedenen Kulturen anzuerkennen, verlangt aber auch ein „Gefühl der Dankbarkeit und Bescheidenheit, das jedes Mitglied einer Kultur gegenüber allen anderen empfinden kann und muss“.

Prof. Bakk.art. Mag.art. DDr.phil Herbert J. Hopfgartner lebt und arbeitet als Musiker, Pädagoge und Wissenschaftler in Salzburg


Die Sufi-Bewegung


Die ersten Sufis soll es nach muslimischer Tradition schon zu Lebzeiten des Propheten Mohammed gegeben haben. Die Bewegung hat es in den darauf folgenden Jahrhunderten geschafft, sich über weite Teile der Welt zu verbreiten: vom Iran bis nach Indien, von der Türkei bis nach Ägypten, sowie nach Ost- und Westafrika. Andererseits ist die Geschichte des Sufismus geprägt von Verfolgung. Schon früh wurden die Mystiker von den Machthabern islamischer Länder verfolgt oder sogar getötet. Das wurde häufig mit religiösen Argumenten begründet. Tatsächlich erkannten die Mystiker Gott in allen Dingen, da ihrer Ansicht nach schließlich alles aus Gott als dem einzigen Schöpfer entsteht. Solche Äußerungen wurden fälschlicherweise als polytheistisch bezeichnet. Heute wird der Sufismus vor allem von fundamentalistisch geprägten Strömungen als unislamisch diffamiert und verfolgt, im wahabitischen Saudi Arabien sind Sufi-Orden verboten.

Doch waren für die Verfolgungen meist auch politische Gründe ausschlaggebend. Denn ab dem 12. Jahrhundert organisierten sich die Sufis in Bruderschaften, die insbesondere bei der einfachen Bevölkerung sehr beliebt und hoch angesehen waren, sodass manche Sufis sogar als Heilige verehrt wurden. Die Ordensgemeinschaften besaßen demnach großen Einfluss auf die Bevölkerung, wodurch sie den Machthabern gefährlich werden konnten. Und dass es Sufi-Orden gab, die für die Herrschenden durchaus eine Gefahr dargestellt haben, hat u.a. das Beispiel des kämpfenden Dichters Mohammed Abdille Hassan (von den Engländern „Mad Mullah“ genannt) gezeigt, der in Somalia eine militärische Widerstandsbewegung gegen die Kolonialmächte aufbaute.

Bekannt geworden sind die Sufis aber vor allem für ihre Poesie in arabischer und persischer Sprache, in Urdu und zahlreichen anderen Sprachen. In Europa wurde die Sufi Dichtung erstmals durch den persischen Lyriker Hafiz bekannt, der Goethe zu seinem West-östlichen Diwan (1819) angeregt hat. Seine Werkesammlung der „Diwan“ war erstmals 1812 durch den Orientalisten Joseph von Hammer-Purgstall ins Deutsche übersetzt worden. Heute hat vor allem die meditative wie auch ekstatische Qawwali Musik des indischen Subkontinents mit Vertretern wie Nusrat Fateh Ali Khan internationale Bekanntheit erreicht.

erschienen in: Talktogether Nr. 21/2007