9. November: Ein Gespräch mit Elke-Marie Calic PDF Drucken E-Mail

Heute können und müssen wir reden

Ein Gespräch mit Elke-Marie Calic

Als überzeugte Antifaschistin haben wir sie vor ein paar Jahren kennen gelernt. Inzwischen ist sie nicht nur eine gute Freundin, sondern auch eine unverzichtbare Unterstützerin und Mitarbeiterin von Talk Together geworden: Elke-Marie Calic. Zum Anlass des Internationalen Tages gegen Faschismus und Antisemitismus haben wir sie in ihrem „Internationalen Salon“ besucht und sie gebeten, uns über ihre Erfahrungen zu erzählen.

Elke erzählt: „Als Kind sah und hörte ich die Flieger und wie die Menschen flohen, worum es in diesem Krieg ging, wusste ich aber nicht“. Die Jahre nach dem Krieg waren geprägt vom allgemeinen Schweigen. Niemand habe über diese Periode geredet, als ob sie ausgelöscht oder nie passiert sei, weder ihre Familie, noch die Lehrer in der Schule. Über dieses Thema zu sprechen war ein Tabu.

Ihren Eltern war es ein Anliegen, dass ihre Tochter eine gute Ausbildung bekam. Deshalb organisierte ihr Vater einen Sprachaufenthalt in Paris. Dieses, nach ihren eigenen Worten, wohlerzogene, gut behütete und naive Mädchen, das nicht viel Ahnung von der Welt hatte, lernte dort einen Journalisten und Schriftsteller kennen, der als Oppositioneller, und vor allem, weil er Verfolgten zur Flucht aus Deutschland geholfen hatte, die Jahre der NS-Diktatur im Konzentrationslager Sachsenhausen verbracht hatte.

Eine Zeitlang schonte der erfahrene Mann die junge Frau. Doch eines Tages, als die beiden in Paris die Champs Élysées entlang spazierten, begann er behutsam, ihr über die Konzentrationslager zu erzählen. Sie hatte noch nicht viel darüber gehört, nicht einmal so genau gewusst, was Konzentrationslager waren, erzählt Elke, und habe anfangs gar nicht viel mit seinem Bericht anfangen können. Nach einiger Zeit kamen sie sich näher und schließlich heirateten sie. Als sie begann, ihren Mann bei seiner Arbeit zu unterstützen, erfuhr sie mit der Zeit immer mehr Einzelheiten über seine Erlebnisse und die Vergangenheit ihres eigenen Landes.

Angefangen hatte es mit den Parolen der Nazis: „Kauft nicht in jüdischen Geschäften“, dann mussten Juden einen Davidstern tragen, um sofort erkennbar zu sein, schließlich endete der Weg in den Konzentrationslagern und Gaskammern. Am meisten irritierte Elke die umgedrehte Moral: Es wurde als Verbrechen angesehen, ein Brot zu stehlen, aber Menschen zu töten war ganz normal. All diese grausame Tat passierten im „Land der Denker und Dichter“, wie Harald Melzer es in seinem Buch: „Täter. Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder wurden“ (S. Fischer-Verlag) beschrieb.

Edouard Calic, ein gebürtiger Kroate, arbeitete in Paris bei der Zeitung „Combat“ und widmete sich mit aller Überzeugung und Leidenschaft der Aufgabe, die Wahrheit über die Verbrechen des NS-Faschismus ans Tageslicht zu bringen. Elke tippte nun für ihn Zeitungsartikel und zahlreiche Bücher in mehreren Sprachen und half ihm bei der Zusammenstellung von Ausstellungen, eine davon war: „Nicht vergessen und nie wieder“ aus dem Jahr 1978 (siehe nächste Seite). Durch diese Arbeit lernte Elke auch verschiedene prominente Menschen kennen, die wie ihr Mann das Konzentrationslager erlebt hatten - im KZ ausgehungerte Gestalten in Häftlingskleidung, und nun Persönlichkeiten des internationalen öffentlichen Lebens. Es handelte sich um Menschen unterschiedlicher Nationalität, Religion oder Ideologie. Es faszinierte und inspirierte sie, wie diese Menschen über ihre Weltanschauungen hinweg durch die gemeinsame Erfahrung und den gemeinsamen Widerstand so solidarisch und eng miteinander verbunden waren. So wuchs sie immer mehr in die für sie anfangs fremde neue Welt hinein, allmählich wurde Edouards Anliegen auch zu ihrem eigenen.

Warum die Menschen nach dem Ende des Krieges über diese Zeit so beharrlich schwiegen, fragen wir sie. Bei den einen, so glaubt sie, war es Scham über die unaussprechlichen Verbrechen, aber auch Scham, mehr oder weniger tatenlos zugesehen zu haben. Nicht zu vergessen die Gruppe derer, die mitschuldig geworden waren und es also vorzogen, über die Vergangenheit zu schweigen. Schließlich habe die Kollektivschuld, die den Deutschen vielfach vom Ausland aufgebürdet wurde, auch einen Anteil an dieser „Schwamm-drüber“-Haltung gehabt. Elke selbst hat die Erfahrung machen müssen, dass man ihr anfangs im Ausland allein aufgrund ihrer Herkunft gelegentlich mit Zurückhaltung oder Misstrauen begegnete, was sich, da sie noch sehr jung war, nicht gegen sie persönlich richtete, sondern vielmehr mit der Frage zu tun hatte: Wer waren ihr Vater, ihr Großvater?

Bedauerlicherweise gab und gibt es, auch in Historikerkreisen, noch immer Interessierte, die die Vergangenheit verharmlosen oder relativieren. Sehr viele Nazis, vor allem Richter, waren nach dem Krieg in die Dienste der Bundesrepublik übernommen worden. Revisionistische Historiker, die auch heute publizieren, dienen den Rechtsextremisten, deren Parteien sogar in den Landesparlamenten vertreten sind und entsprechend des Wähleranteils auch von der staatlichen Parteienfinanzierung profitieren, natürlich als angeblich wissenschaftliche Rechtfertigung ihrer Vergangenheitsinterpretation.

Auch heute noch fühlt sich Elke verpflichtet, über die Hintergründe der NS-Zeit aufzuklären, vor allem über die gezielten Provokationen und die perfiden Lügen, mit denen es den Nazis gelang, die Menschen zu täuschen und aufzuhetzen. Ein Gräuel sind ihr die Holocaust-Verleugner und Geschichtsrevisionisten, die trotz aller Beweise auch heute immer noch versuchen, die Tatsachen zu verdrehen und die Geschichte gemäß ihrer Ideologie zu verfälschen. „Diese Leute behaupten, es wären nur vier Millionen Todesopfer gewesen statt sechs, doch sage ich, was macht das für einen Unterschied? Selbst ein Mensch ist noch zuviel!“ Doch aktiver Antifaschismus bedeutet für Elke nicht allein, über die Vergangenheit zu sprechen, sondern auch gezielte Tätigkeiten zu setzen, um dem Rassismus entgegenzutreten. Um die Verständigung der Kulturen zu fördern, engagiert sich Elke in der Integrationsarbeit: Gemeinsam mit einer pensionierten Professorin hält sie Deutschkurse für Einwanderinnen, außerdem unterstützt sie Flüchtlingskinder bei den Schulaufgaben.


Im Folgenden stellen wir ein paar zusammengefasste Inhalte einer Dokumentation der Ausstellung "Nicht vergessen und nie wieder" der Stadt Oberhausen aus dem Jahr 1978 vor, die uns Elke-Marie Calic dankenswerter Weise zur Verfügung gestellt hat.

NICHT VERGESSEN UND NIE WIEDER!

„Reichskristallnacht" 9./10. November 1938

Eine Dokumentation der Stadt Oberhausen und des Archivs der sozialen Demokratie, Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn, 9.11.1978-7.1.1979, Gedenkhalle Schloss Oberhausen (Texte von Werner Krause und Horst-Peter Schulz)

Das Attentat als Vorwand

Als das Attentat auf den Botschaftsbeamten vom Rath in Paris bekannt wurde, hatte sich die NS-Prominenz am 9. November 1938 zum Gedenken an den misslungenen Hitlerputsch von 1923 in München versammelt. Goebbels hielt auf die Todesmeldung hin eine bewusst verschwommene Hetzrede gegen die Juden, die von den anwesenden NSDAP-Führern als Aufforderung zu einem Judenpogrom ausgelegt werden konnte. Fest steht, dass es sich in der Nacht vom 9. auf den 10. November nicht um spontane, sondern um befohlene Ausschreitungen gehandelt hat. Nach einem nazi-internen Bericht vom 12.1.1938, der aus verschiedenen Gründen eher untertreibt, wurden 177 Synagogen zerstört, 7500 Wohnungen und Geschäfte zerstört oder demoliert, 35 Menschen getötet, 20.000 Menschen verhaftet. Der offene Terror hatte begonnen.

Der Rassenwahn als politisches Kampfmittel

Wahr ist, dass die deutschen Nationalsozialisten den Antisemitismus in einer bis dahin nicht gekannten tödlichen Konsequenz interpretiert haben, wahr ist aber auch, dass der Antisemitismus der Nationalsozialisten auf schon längst vorhandene antisemitische Theorien und Praktiken zurückgreifen konnte. Diese pseudowissenschaftlichen Theorien hatten etwa folgende Kernthesen gemeinsam: Es gibt rassisch höherwertige und minderwertige Menschen. Die Geschichte der Menschheit lässt sich auf den Kampf zwischen höher- und minderwertigen Rassen zurückführen. Die menschliche Zivilisation ist dem Untergang preisgegeben, wenn es der höherwertigen Rasse nicht gelingt, sich durchzusetzen.

Vor allem in Deutschland und Österreich setzte sich jene Richtung durch, die die Juden als minderwertig einstufte und damit die bereits im Mittelalter virulenten Vorwürfe gegen die Juden wieder aufnahm. Den Juden wurde u.a. vorgeworfen, planmäßig eine Wirtschaftsdiktatur in Deutschland anzustreben; der bedeutende Beitrag von Juden zum deutschen Kulturleben wurde als Zeichen des Verfalls gedeutet; der jüdische Einfluss zersetze die Moral und die deutsche Niederlage im Weltkrieg sei auf eine gegen Deutschland gerichtete "jüdische Weltverschwörung" zurückzuführen. Zudem wurden den Juden bestimmte (sich zum Teil gegenseitig aufhebende) negative Eigenschaften zugesprochen.

Die Nacht der angeblich spontanen Ausschreitungen

Über die "Reichskristallnacht" liegen zahlreiche Berichte und Schilderungen vor. Erich Lüth, damals Werbeleiter eines Industrieunternehmens, der sich auf einer Geschäftsfahrt befand, wurde Zeuge: "Auf allen D-Zug-Stationen stiegen Augenzeugen des Pogroms hinzu. Alle hatten die nämlichen Ausschreitungen erlebt, den Feuerschein der brennenden Gotteshäuser am Himmel gesehen und die Spuren der Verwüstung jüdischer Privathäuser, Wohnungen, Kaufhäuser, Einzelhandelsgeschäfte und Büros wahrgenommen... Der Abgrund der Hölle hatte sich aufgetan. Die Wächter der Unterwelt aber, uniformierte Polizeibeamte, standen am Rande des gläsernen Sees im Schatten der Hauseingänge, offenbar auf nichts anderes bedacht, als ungesehen zu bleiben."

Am Nachmittag des 10. November 1938 ging der Aufruf des Propagandaministers von allen weiteren Aktionen abzusehen. Welche Motive standen hinter dieser Aufforderung? Nachträgliche Scham oder Bewusstsein des Unrechts? Gewiss nicht! Die Erklärung liefert eine der Nachwelt erhalten gebliebene Niederschrift Görings: "...Diese Demonstrationen habe ich satt. Sie schädigen nicht den Juden, sondern schließlich mich, der ich die Wirtschaft als letzte Instanz zusammenzufassen habe." Deutlicher können die Beweggründe für das befohlene Ende der Ausschreitungen nicht dargelegt werden. Es erstaunt daher nicht, dass man beschloss, dass die Juden für den von den Nazis angerichteten Schaden selbst aufkommen müssten. Doch dabei blieb es nicht. Nach der Reichskristallnacht hatte sich eine weitere Flug von Sondergesetzen, Ausnahmeregeln und anderen Schikanen über die noch im Reich verbliebenen deutschen Juden ergossen: "Arisierung" jüdischen Besitzes, Versuche, die Juden in Ghettos zu verbannen, Enteignung, Berufsverbote, Zwangsarbeit, Einschränkung der Bewegungsfreiheit...

Von der Gewalt gegen Sachen zur Gewalt gegen Menschen

Ab 1942 beginnt die physische Ausrottung der europäischen Juden, die nach dem Willen der Machthaber total sein sollte: Es wird totgeschlagen, erhängt, erschossen, vergast, verbrannt, ausgehungert - ein Mordprogramm von einem Ausmaß, das die Geschichte der Menschheit bisher nicht gekannt hat, wird im Namen des deutschen Volkes durchgeführt. Die Opferzahlen gehen in die Millionen. Vielleicht können sich manche von der These der Gesamtschuld des deutschen Volkes verteidigen: sie hätten diese Massenmorde weder gesehen noch von ihnen gewusst. Diese Entschuldigung gilt für die Reichskristallnacht jedoch nicht. Sie war unübersehbar. Sie hätte den Anlass für den Widerstand gegen die Verfolgung einer Minderheit werden können. Es ist keinesfalls ausgeschlossen, dass ein energischer Widerstand das Leben vieler gerettet hätte. Beweise dafür, dass die Nazis andere "Endlösungen" (Euthanasie, Ausmerzung des Christentums...) bei ausreichendem Protest aufgeschoben haben, sind genügen vorhanden.

erschienen in: Talktogether Nr. 22/2007