Scottsboro, Alabama: Eine Geschichte von Rassen- und Klassenjustiz PDF Drucken E-Mail

Scottsboro, Alabama

Zeugnis einer dunklen Episode der amerikanischen Geschichte


Es begann in einem Güterzugwaggon. Neun schwarze Jugendliche - Charlie Weems, Ozie Powell, Clarence Norris, Olen Montgomery, Willie Roberson, Haywood Patterson, Andy und Ray Wright und Eugene Williams - wurden am 25. März 1931 aus dem Zug gezerrt und verhaftet. Sie wurden beschuldigt, zwei weiße Frauen vergewaltigt zu haben, Ruby Bates und Victoria Price, die ebenfalls beim Schwarzfahren auf diesem Zug erwischt wurden. Obwohl die Jugendlichen einander nicht gekannt hatten und in unterschiedlichen Waggons aufgriffen worden waren, sagten Ruby Bates und Victoria Price bei der Polizei aus, dass die jungen schwarzen Männer sie vergewaltigt hätten. Vermutlich aus Angst, nicht selbst verhaftet zu werden. Schwarzfahren im Zug war schon Verbrechen genug, aber zwei weiße Mädchen, die unbeaufsichtigt unterwegs waren, liefen damals auch Gefahr, wegen Prostitution verurteilt zu werden.

Doch die Schwierigkeiten, mit denen Ruby Bates und Victoria Price konfrontiert waren, waren nichts im Vergleich zu jenen, die sie den jungen Männern mit ihrer Anschuldigung bereiteten. Für Schwarze war schon das Schwarzfahren ein unentschuldbares Vergehen, aber noch dazu in der Nähe von weißen Frauen aufgegriffen zu werden, da war die Beschuldigung einer Vergewaltigung vorhersehbar wenn nicht sogar unausweichlich. Da spielte es keine Rolle, dass die Beschuldigten die Mädchen nicht einmal bemerkt hatten. Sie wurden nach Scottsboro gebracht und dort nur wenige Tage später vor Gericht gestellt, ohne die Möglichkeit sich zu verteidigen. Außer dem dreizehnjährigen Roy Wright wurden alle zum Tode verurteilt.

Solche Geschichten waren in den Südstaaten im späten 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nichts Ungewöhnliches. Normalerweise hatte Richter „Lynch“ den Vorsitz über derartige Fälle, ein Mob von Weißen nahm die Beschuldigten in Gewahrsam (oft mit Unterstützung der lokalen Polizei) und ersparte dem Staat die Kosten eines Gerichtsverfahrens, indem sie die Opfer einfach auf einem Baum oder einer Brücke aufhängten. Dies waren öffentliche Spektakel, fast wie ein Picknick, in denen die Weißen ihre Macht feierten. Ganze Familien mit Frauen, Kindern und Großeltern sahen zu, wie Schwarze auf grausame Weise gefoltert und getötet wurden. Die „seltsamen Früchte auf den Bäumen des Südens“ waren nicht nur ein Zeichen der rassistischen Hierarchie, sondern auch eine Warnung an alle, die sich diesem System nicht unterordnen wollten. Diejenigen, die der Lynchjustiz entkamen, erwartete meist der elektrische Stuhl.

Was den Fall der jungen Männer von Scottsboro von den vorhergegangenen unterschied war, dass eine aus Weißen und Schwarzen bestehende Gruppe intervenierte, die sich International Labor Defence (ILD) nannte. Von der Kommunistischen Partei 1925 gegründet, kämpfte der ILD für die Freilassung von Sacco und Vanzetti, zwei italienischen Immigranten mit anarchistischen Ansichten, die trotz des Fehlens aller Indizien für einen bewaffneten Raubüberfall und Mord verurteilt worden waren. Während Sacco und Vanzetti nicht vor der Exekution gerettet werden konnten, gelang dem ILD aufgrund hartnäckiger Kampagnen die Freilassung der Gewerkschaftsführer Tom Mooney und Warren Billings, die eines Bombenattentats bezichtigt worden waren. Die Jugendlichen von Scottsboro waren jedoch keine politischen Aktivisten, sie waren nur ungebildete junge Männer auf der Suche nach Arbeit. Als die Aktivisten der ILD von ihrer Verhaftung erfuhren, besuchten sie die Gefangenen und ihre Eltern und gewannen ihr Vertrauen.

Den Anwälten der ILD gelang es, ein neues Verfahren zu erreichen, was erstaunlich war, handelte es sich doch um eine kleine kaum bekannte Organisation. Der Lynch-Mob versammelte sich, um das Gefängnis zu stürmen und die Jugendlichen zu töten, die Nationalgarde musste anrücken, um das Gefängnis zu schützen. Obwohl Ruby Bates ihre Aussage widerrief und trotz der brillanten Verteidigung des renommierten Strafverteidigers Samuel Leibowitz, der im Süden allerdings als Fremder, Kommunist und Jude galt, befand die nur aus Weißen bestehende Geschworenenbank die Jungen erneut für schuldig. Doch ein paar Monate später widerrief der Kreisrichter von Alabama James E. Horton das Urteil und das Verfahren wurde wieder aufgenommen. Diese Entscheidung kostete Horton zwar das Richteramt, änderte aber nicht viel. Der Vorsitzende Richter William Callahan instruierte die Geschworenen, die Angeklagten für schuldig zu erklären und so wurden sie zum zweiten Mal zum Tod verurteilt.

Leibowitz hatte in der Zwischenzeit mit der Unterstützung von Juristen, Führern der Bürgerrechtsbewegung und weißen Liberalen das American Scottsboro Commitee (ASC) gegründet. Der Fall war inzwischen schon weithin bekannt, in den Nordstaaten wurden Demonstrationsmärsche abgehalten, die internationale Presse berichtete über den Fall und Tausende Bittbriefe wurden für die „Scottsboro Boys“, wie sie genannt wurden, geschrieben. Der Rechtsstreit dauerte insgesamt sechs Jahre und beinhaltete zwei richtungweisende Entscheidungen des Höchstgerichts. 1937 schließlich wurde Clarence Norris wegen Vergewaltigung zum Tode verurteilt, drei andere zu Gefängnisstrafen zwischen 75 und 95 Jahren, Ozie Powell wurde wegen eines Angriffs auf den Sheriff zu 20 Jahren verurteilt, vier der Jungen, die zum Zeitpunkt des Vorfalls erst 12 oder 13 Jahr alt gewesen waren, wurden freigesprochen. Alle wurden im Laufe der Zeit begnadigt, am längsten musste Norris im Gefängnis bleiben, er wurde erst 1976 in die Freiheit entlassen.

Der Scottsboro Fall stellte ein Schlüsselereignis im Kampf gegen die Rassendiskriminierung dar. Es war ein außergewöhnlicher Fall, der sich in einer außergewöhnlichen Zeit abspielte. Nach der Weltwirtschaftskrise 1929 ereigneten sich auf der ganzen Welt revolutionäre Umwälzungen, während faschistische Kräfte in vielen Ländern die Macht ergriffen. Auch die USA wurden von Rebellionen erschüttert. Millionen Arbeitslose formierten sich zum Widerstand ebenso wie die afro-amerikanischen Kleinpächter in den Südstaaten, die von den Landbesitzern für ihre Ernte mit Niedrigpreisen abgespeist wurden. Scottsboro ist also im breiteren Kontext eines unerklärten Krieges zu sehen, eines Krieges gegen die , ein Krieg gegen Ausbeutung, Hunger, Ausgrenzung und Unterdrückung.

Quelle: Vorwort zum Buch Scottsboro, Alabama von Robin D.G. Kelley:
http://www.nyupress.org/scottsboro



Scottsboro, Alabama – Eine Geschichte in Linolschnitten

 Der Bibliothekar Andrew H. Lee entdeckte das Buch in einem Nachlass der Familie von Joe North, einer wichtigen Persönlichkeit in der Kommunistischen Partei der USA, den dieser der Tamiment Bibliothek hinterlassen hatte. Dieses Werk, das 118 außergewöhnlich kraftvolle Linolschnitte enthält, liefert eine einzigartige graphische Dokumentation einer der niederträchtigsten Fälle von Rassenjustiz in der amerikanischen Geschichte. Ursprünglich 1935 in Seattle gedruckt, wurde dieses bisher unbekannte Buch von ihm an die Öffentlichkeit gebracht. Doch trotz aller Nachforschungen blieben die Künstler, die dieses beeindruckende Werk geschaffen hatten, Lin Shi Khan und Tony Perez, bis heute unbekannt.

Scottsboro, Alabama ist mehr als eine eindrucksvolle Sammlung von Linolschnitten und eine dramatische Saga des Scottsboro-Falls. Khan und Perez beginnen ihre Erzählung nicht im Zugwaggon, sondern auf den Sklavenschiffen aus Afrika, auf den Baumwollfeldern, in den Fabriken und Gefängnissen, den Gerichtssälen und auf den Straßen, wo die Arbeiterklasse für ihre Rechte und ihr Überleben kämpft. Sie lesen die Geschichte von Scottsboro auf den geschundenen Rücken der Arbeiter, in ihren entschlossenen Augen, in ihren geballten Fäusten. Heute können wir es uns nicht leisten, Scottsboro zu vergessen. Zu viele Ungerechtigkeiten sind nach wie vor im Justizsystem und es gilt zu untersuchen, welche außerordentlich wichtige Rolle Massenproteste im Kampf für Gerechtigkeit spielen.

Bilder: http://wordsonwoodcuts.blogspot.com/2015/05/scottsboro-alabama-story-in-linoleum.html

erschienen in: Talktogether Nr. 22/2007

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