Papiere für Alle!
"Aus dem Schatten treten" - so bezeichnen die „Sans Papiers" - so heißt die Bewegung der Einwanderer ohne legale Aufenthaltstitel in Frankreich - ihren Aufbruch. Am 18. März 1996 besetzten circa 300 Einwanderinnen die Pariser Kirche St. Ambroise. Damit trat die Bewegung der Sans Papiers erstmals mit ihrer Forderung nach „Papieren für alle" öffentlich in Erscheinung. Ein wichtiÂges Mittel in ihrem Kampf ist die Weigerung, sich in die Unsichtbarkeit drängen zu lassen. Indem sie sich als „Papierlose" bezeichnen, wehren sie sich zudem gegen ihre Ausgrenzung als „Illegale". Madjiguène Cissé, Sprecherin des ersten MigrantInnen Kollektivs bei der Kirchenbesetzung, beschreibt die Notwendigkeit ihres Entschlusses, sich als „Papierlose" zu erkennen zu geben: „Ohne Papiere existierst du einfach nicht. Du hast keine Rechte: kein Recht auf Wohnung, auf Arbeit, auf Erziehung, Bildung oder Sozialhilfe, da lebst du wie ein Gespenst. "
Seit der ersten Kirchenbesetzung haben sich in ganz Frankreich über 20 Kollektive der Sans Papiers gebildet. Geschickt und hartnäckig entfalteten sie Aktivitäten, die Schlagzeilen schrieben und ungeahnte UnterstützungsÂwellen in der französischen Gesellschaft hervorriefen. Sich zu organisieren, auf die Strasse zu gehen, einen Hungerstreik zu beginnen, das alles sind Akte der WieÂdergewinnung von Würde und Respekt, die den Sans Papiers in den täglichen Schikanen der Behörden genommen werden.Die Sans Papiers wenden sich gegen die Einwanderungsgesetze der Europäischen Union, die Flüchtlinge und Einwanderinnen nicht als Menschen anerkennen und dem Kapital ermöglichen, bei Bedarf billige Arbeitskräfte ins Land zu holen und diese dann, sobald sie nicht mehr gebraucht werden, wieder nach Hause zu schicken. „Ich sehe eine solche Flüchtlingspolitik als eine Art, den Arbeitsmarkt zu kontrollieren.
Mit einer solchen Praxis stehen dem Kapital auch in der Peripherie Arbeitskräfte zur Verfügung, die es dann wegschmeißt, wenn man sie nicht mehr braucht", sagt Madjiguène Cissé, die heute Sprecherin der Nationalen Koordination ist.Im Jahr 1997 gewann ein Bündnis aus Sozialisten, Kommunisten und Grünen die Wahl in Frankreich. Die Sans Papiers wurden aufgefordert, bis zum 31.10.1997 ihre Anträge auf Legalisierung zu stellen. Es erfolgte also keine generelle Legalisierung, sondern Einzelfallprüfungen nach Kriterien, die nur wenige erfüllen konnten. Nur etwa die Hälfte der Antragssteller bekamen einen legalen Aufenthaltstitel, in der Regel auch nur begrenzt auf ein halbes bis ein Jahr. Durch die Anträge der Sans Papiers besitzt der französische Staat aber nun eine Fülle von Informationen, wo die Menschen ohne Papiere wohnen, wer sie unterstützt, wo sie arbeiten. Damit wurden die Forderungen nach einer Legalisierung für alle keineswegs erfüllt und ein polizeilicher Zugriff für Abschiebungen war für den Staat nur noch schneller und leichter möglich geworden.
Doch die Bewegung ließ sich nicht spalten und widerstand den Angeboten, Einzelne zu legalisieren und andere auszuweisen. Die Aktivistinnen versuchten Unterstützung bei KünstlerInnen und bei sozialen Bewegungen zu bekommen. „Wenn die Leute nicht zu dir kommen, musst du zu ihnen gehen" lautete die Devise und Delegationen wurden in die Betriebe geschickt, um die Arbeiter für die Bewegung zu gewinnen. Am Anfang sagten viele: „Nein, das ist nicht unser Kampf“. Doch mit Ausdauer und Beharrlichkeit gelang es der Bewegung bei den Gewerkschaften sowie bei der Arbeitslosen- und der Obdachlosenbewegung Verbündete zu gewinnen.
Der Kampf der Frauen
Aber auch innerhalb der Bewegung gab es Auseinandersetzungen. So mussten die Frauen für ihre EigenständigÂkeit kämpfen. Am Anfang fanden es die Männer nicht nötig, dass unter den Sprechern auch Frauen sein dürfen. Nach der Räumung der Kirche St. Ambroise waren die Menschen dort isoliert und die Presse kam nicht mehr. Da organisierten die Frauen eine große Demonstration am 11.5.1996, da kam die Presse wieder. Durch ihre zunehmend aktive Rolle in der Bewegung schafften es die Frauen Anerkennung zu gewinnen.
Nadia aus Algerien erzählt:"Es ist sicher, dass eine Frau umso stärker wird, je mehr sie kämpft. Denn wir haben gekämpft, als wir die Initiative ergriffen haben, einen Hungerstreik zu machen. Alle waren gegen uns, alle. Jedes Mal, wenn wir auf eine Versammlung gegangen sind und gesagt haben, dass wir einen Hungerstreik machen werden, sind alle gegen uns gewesen. Die Frauen, die Männer, selbst mein Mann war dagegen. Aber ich habe meine ganze Kraft darangesetzt und habe gesagt: 'Nein, ich werde es machen. Mir bleibt nichts anderes übrig.' Ich habe mir in den Kopf gesetzt, dass ich das machen muss. Und ich habe es gemacht! Denn ich glaube, wenn eine Frau etwas will, erreicht sie es. "
Die Frauen in der Bewegung der Sans Papiers formulieren auch frauenspezifische Forderungen. Sie fordern ein eheunabhängiges Aufenthaltsrecht, das Recht auf Erwerbstätigkeit und die Anerkennung frauenspezifischer Fluchtursachen als Asylgrund."
Es ist sehr schwierig in Europa, in Frankreich, in Deutschland zu leben als Ausländer, aber es ist noch schwieriger, wenn man eine Frau ist. Zum Beispiel, wenn die Frauen legalisiert werden, da gibt ihnen die Polizeipräfektur eine Erlaubnis ohne Arbeitsgenehmigung - Carte de Visite, heißt das. Das heißt, du bist zu Besuch, ganz einfach. Als ob die Frauen nur als Touristinnen in Frankreich wären. Da haben wir demonstriert, damit die Polizeipräfektur den Frauen auch eine Arbeitserlaubnis gibt. " „Die Frauen haben mehr Probleme als die Männer, weil sie als Frau hier in Frankreich nicht als Person betrachtet werden, sondern immer nur als "Frau von jemand"... und da fühlen sie sich dann motivierter im Kampf, weil sie für mehr Rechte kämpfen müssen als die Männer. Und das kommt andererseits auch von der Erziehung. Die afrikanischen Frauen zum Beispiel, die werden sehr jung schon dazu erzogen, Verantwortung zu übernehmen. Mit acht Jahren schon müssen sie sich um die Kinder kümmern in der Familie, müssen die Mutter ersetzen, wenn sie abwesend ist. Sie müssen schon sehr früh Verantwortung tragen, und daher kommt es auch, dass sie so entschieden sind."
Ein Kampf der Völker aus dem Süden
Die Forderungen der Sans Papiers gehen weit über die Forderung nach Papieren hinaus. „Es stellt sich die Frage, ob wir, als Volk des Südens, weiter Reichtümer produzieren werden, an denen wir selbst nicht teilhaben. Wird es so weitergehen, dass drei Viertel der Reichtümer dieses Planeten nur einem Viertel der Weltbevölkerung dienen? Dies ist die Frage, die sich heute stellt", sagt Madjiguène Cissé: „Für jemanden, der vor Hunger stirbt oder für jemanden, der alle Kinder seiner Familie an Kinderkrankheiten sterben sieht, oder für jemanden, der sein Leben vor den Waffen der Diktatoren, die vor Ort sind, riskiert, ist es eine sehr natürliche Sache, emigrieren zu wollen. Und diese Politik, die Grenzen zu schließen, ist doch eine unrealistische Politik: das ist nicht möglich. Man kann von den Leuten nicht verlangen zu sterben, vor Ort zu bleiben - und nicht dem Tod entkommen zu wollen. Das geht nicht." Normal 0 21 false false false MicrosoftInternetExplorer4
erschienen in: Talktogether Nr. 7/2004
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