FREITOD – NOCH EIN TABU ?
von Rupert Mazur
In Salzburg ist er geboren und absolvierte den Pinzgauer Kreuzweg. Nahe am Berg der Erinnerung hat er diesen beendet.
Ich möchte, dass mit diesem Tabuthema etwas offener umgegangen wird. Nicht nur Franz Innerhofer hat sich durch Freitod von uns verabschiedet, sondern auch viele noch bekanntere Schriftsteller, Künstler wie Seneca, Hemingway, Marilyn Monroe und Kubin nahmen sich das Leben. Es trifft also nicht immer die kleinen unbekannten Menschen. Es hat schon immer Menschen gegeben und es wird sie immer geben, die freiwillig den Tod suchen. Insbesondere In Österreich sind wir in dieser Disziplin im traurigen Spitzenfeld. Wir befinden uns mit unseren Suizidraten von ca. 27 Selbstmorden auf 100.000 EinwohnerInnen im europäischen Spitzenfeld. Im Bundesland Salzburg nehmen sich jährlich rund 130 Menschen das Leben. Was die Zahl der Selbstmordversuche betrifft, so kann diese nur geschätzt werden, da nur ein bestimmter Teil der Versuche auch ärztlich behandelt wird. In Europa liegen wir hinter Dänemark und Ungarn an dritter Stelle.
Sicherlich gibt es auf diesem Gebiet richtiggehende finanzierte Forschung. Doch was nützt diese sinnvolle Forschung, wenn sie der breiten Öffentlichkeit überhaupt nicht bekannt ist? Denn wäre es so, dann hätten wohl alle LeserInnen von Franz Innerhofers „Schöne Tage“ da schon eine Vorahnung bekommen können, müssen, sollen… Da lagen doch die gesamten Forschungsergebnisse auf der Hand bzw. schwarz auf weiß in Buchform serviert bereits vor. Nach Pöldingers Kriterien zur Abschätzung der Suizidalität, hier auf Innerhofers Leben bezogen, waren die Vorboten, die Innerhofer nicht nur durch Zeichen, sondern in Wörter gekleidet, von sich gegeben hat, kaum zu übersehen: Seine unheimliche Ruhe und seine Träume, die er ja teilweise beschrieben hat. Auch spezielle Symptombilder waren bei Innerhofer ganz klar ersichtlich: das öfter vorkommende ängstlich agitierte Gepräge und sein steigender Alkoholismus. Seine Verhältnisse zur Umwelt waren in seinen Büchern offen gelegt, die familiäre Zerrüttung in seiner Kindheit. Allein sein Buch „Schöne Tage“, wenn es selbstbiographisch verstanden worden wäre, würde eine Doktorarbeit für das so genannte „Broken Home“ abgeben. Wir haben aber alle nur zugeschaut. Hatte er doch eh das beste Ventil zur Ablassung der Psychokacke, indem er durch Schreiben all das subjektiv zum Ausdruck brachte, was ihm zu schaffen machte. Vielleicht war es seine Sensitivität, seine Begabung, die sich gegen ihn selbst gerichtet hat.
"Die Dienstboten und Leibeigenen wurden, sobald einer den Kopf aus der finsteren Dachkammer reckte, sofort in die Finsternis zurückgetrieben. Jahraus, jahrein wurden sie um die Kost über die grelle Landschaft gehetzt, wo sie sich tagein, tagaus bis zum Grabrand vorarbeiteten, aufschrieen und hineinpurzelten. Mit Brotklumpen und Suppen zog man sie auf, mit Fußtritten trieb man sie an, bis sie nur mehr essen und trinken konnten, mit Gebeten und Predigten knebelte man sie. Es hat Bauernaufstände gegeben, aber keine Aufstände der Dienstboten, obwohl diese mit geringen Abweichungen überall den gleichen Bedingungen ausgesetzt waren. Ein Kasten und das Notwendigste zum Anziehen waren ihre ganze Habe. Die Kinder, die bei den heimlichen Liebschaften auf Strohsäcken und Heustöcken entstanden, wurden von den Bauern sofort wieder zu Dienstboten gemacht. Die Dienstboten wussten um ihr Elend, aber sie hatten keine Worte, keine Sprache, um es auszudrücken, und vor allem keinen Ort, um sich zu versammeln. Alles, was nicht Arbeit war, wurde heimlich gemacht. Man hatte es so eingerichtet, dass die Dienstboten einander nur mit den Augen, mit Anspielungen und mit Handgriffen verständigen konnten. Wenn irgendwo im Freien eine Magd beim jausnen von einem Knecht das Taschenmesser nahm, konnten die anderen mit Gewissheit annehmen, dass er noch am selben Abend bei ihr im Bett lag." (Schöne Tage)
Wahrscheinlich würde ich zu weit gehen, wenn ich Spekulationen im energetischen Bereich anführe: So wie es nachweislich gute und schlechte Energieplätze gibt, existieren eventuell auch die von Thomas Bernhard speziell in Salzburg georteten mumifizierten Energieplätze. Dies würde erklären, warum Salzburg innerhalb Österreichs an der Spitze liegt. Nicht aber die in Salzburg beliebteste Art und Weise, nämlich via Humboldt Terrasse. Diese mumifizierten Energien fühlen sich ja ziemlich schwer an, wie die Gesellschaftsschichten, aus denen diese in sich vereinsamten Menschen stammen. Jeder kann es ausprobieren und dort fünf Minuten lang kontemplativ verharren. Wie schafft man es dann noch, über das Geländer zu klettern, den letzten Blick auf den Hinweis, dass Humboldt Salzburg zu den drei schönsten Städten der Welt gezählt hat? Vielleicht fällt dann das solange geübte Loslassen leichter.
Sei es nun Depression, verschmähte Liebe, Schmerzen, Eingesperrtsein, Karriereverlust oder die WohnHaft, Freitod hat tausend Gründe. Diese Gründe werden aber von den Mitmenschen nicht erkannt. Nicht nur, weil teilweise zu unsensibel miteinander umgegangen wird, sondern und vor allem, weil es nach wie vor ein Tabuthema ist, und die Ergebnisse der Selbstmordforschung nicht der breiten Öffentlichkeit zur Einsichtnahme zur Verfügung gestellt werden. Obwohl gerade in Salzburg viel in dieser Richtung gearbeitet wurde. Zur Prophylaxe hat z.B. der Salzburger Wissenschaftler Prof. Dr. Mitterauer schon vor langer Zeit „Das präsuizidale Syndrom“ beschrieben. Das sind Zeichen, die meistens vor der Durchführung des Freitodes auftreÂten. Gerade diese Zeichen werden zu wenig oder gar nicht erkannt. Bei niemandem waren diese Zeichen klarer und sogar schriftlich vorausgeganÂgen als bei Franz Innerhofer.
Eine Theorie ist soziologisch und stammt von Dürkheim: Zur Selbsttötung kommt es, wenn jemand zu wenig oder zu viel Distanz zu den gesellschaftlichen Werten, Normen und Einrichtungen hat, oder wenn seine Ziele und Mittel in eine für ihn unlösbare Verwirrung geraten. Das Morden des Ersten Weltkriegs hat Freud dazu gebracht, dem Lebenstrieb den Todestrieb gegenüber zu stellen. Wenn diese Theorie der Mehrheit der Spezialisten Angst macht, ist sie also noch fruchtbar und macht den Laien, insbesondere den Selbstmordversuchern, noch mehr Angst. Ich selbst war vor langer Zeit direkt konfrontiert mit der Versuchung, durch Freitod zu entwischen, weil damals das Leben auf allen für mich erfahrbaren Ebenen schlimmer von mir empfunden wurde, als der Mut zur Verzweiflung durch Freitod. Diesen jedoch schaffte meine damalige und bislang letzte Freundin via Humboldt Terrasse mühelos. Es gehört doch auch viel Mut dazu, sich auf solch klare Weise zu verabschieden. Aus diesen Gründen bin ich auch etwas befangen, über diese Thematik zu berichten. Dennoch finde ich das Thema nicht zu subjektiv, um nicht darüber zu sprechen.
Jedenfalls sollten wir alle Selbstmordversuche nicht bagatellisieren: Dem sensiblen Wiederholungstäter (weil es in unserem Land sogar strafbar ist) werden nicht selten so genannte demonstrative Selbstmordversuche zum Vorwurf gemacht. Es sind ja meist die sensiblen, sensitiÂven Menschen, die keine andere Art der Problemlösung mehr finden. Vielleicht riskieren diese Menschen (bei Innerhofer bin ich mir fast sicher), was der Rest wohl ganz selten macht, den ganz nüchternen Blick auf ihre eigene Existenz. Denn dann würden wir alle es ja auch ganz klar sehen: Dieses Nichts vorher und nachher, dazwischen bleibt diese Bedingtheit, Zufälligkeit, SterbÂlichkeit, Vergänglichkeit bis hin zur absoluten BedeuÂtungslosigkeit. Sicherlich ist es nach Einsichtnahme in diese Realität schwerer, einen Weg zu finden oder eine Strategie aufzubauen, welche es ermöglicht, trotz allem zu empfinden, dass das Leben halt gelebt werden will. Und gerade Franz Innerhofer hat es ja durch Schreiben versucht, vielleicht wurde er zu einsam in seinen Werken. Die richtigen Wörter zu finden muss ich anderen überlassen, aber wir sollten nicht – wie schon so oft passiert – auf die Beichtväter und –mütter der Nation wie Schiejok oder Vera & Co. warten, die dadurch ihren Lebensstandard noch weiter in die Höhe treiben. Denn dort ist ja nur das reißerische Resultat sichtbar. Das ist ganz typisch für unsere Gesellschaft, man sieht nur das Resultat, also das was vom Berg der Erinnerung runterfällt, diese ist gefragt und nicht die ganze Geschichte.
"Arbeiten, das Lernen und Beherrschen von Arbeitsgängen und der völlige Verzicht auf sich selbst waren das Um und Auf. Dazu gehörte das Bescheidwissen, das Wissen um jedes Gerät, das Wissen um alle Aufbewahrungsorte, im Haus, in der Machkammer, in den Geräteschuppen um das Haus, auf dem Zulehen auf den Almen, das Im-Kopf-haben von Grundstückslagen, von Hängen, Nocken, Steinen, Pfützen, Gräben, das Im-Kopf-Haben von Viehbeständen, das Wissen um Viehverhalten, um Mensch-Vieh und um Vieh-Mensch-Verhalten. Nur indem Holl gelernt hatte, in der ärgsten Sommerhitze, Nachmittag für Nachmittag den übelsten Launen ausgesetzt, barfuss die schwierigsten Situationen zu meistern oder nicht zu meistern und dann noch zu meistern, war es ihm nun möglich, trotz Arbeit seine Welt mit etwas Licht zu beschicken. Nur indem er sich bis um die Ohren mit Arbeit überzog, konnte er sich wenigstens bei Tag vor den gröbsten Zugriffen der Natur in Sicherheit bringen. Zwar hatte es vieler blutig gestoßener, aufgerissener Ohrläppchen, brennender Wangen, Hautabschürfungen, gehirnlähmenden Geschreis und anderer Unannehmlichkeiten bedurft, bis der Bauer ihn soweit hatte, aber nun hatte  Holl diese Hürden hinter sich, so dass er sich gegen die anderen Schikanen wenden konnte. Die Arbeit war seine Rückendeckung und Gesichtsmaske zugleich." (Schöne Tage)
Leid tun mir nicht nur im Fall von Franz Innerhofer die LeserInnen und die Angehörigen dieser innerlich vereinsamten Menschen, die den Freitod erwählten, die teilweise von diesem völlig unvorbereitet überrascht worden sind, sondern auch die, welche noch folgen, und dem Rückkehrwunsch in die Geborgenheit des Mutterschoßes, in die absolute spannungslose Harmonie nicht widerstehen können ...
Denn für sie alle hat Dante Alighiere geschrieben: "Es gibt kein größeres Leid als die Erinnerung an schöne Tage."
Franz Innerhofer wurde am 2.5.1944 in Krimml (Salzburg) geboren. Als Kind arbeitete er auf dem Bauernhof seines Vaters, anschließend absolvierte er eine Schmiedelehre. Ab 1966 besuchte er das Gymnasium für Berufstätige, danach studierte er in Salzburg Germanistik und Anglistik. Von 1973-80 arbeitete er als freier Schriftsteller. Ab 1975 lebte Innerhofer in Italien, später arbeitete er als Buchhändler in Graz. Gestorben ist er im Jänner 2002 in Graz. Werke: Schöne Tage, 1974; Schattseite, 1975; Die großen Wörter, 1977; Um die Wette leben, 1992.
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erschienen in: Talktogether Nr. 7/2004
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