Jüdische Frauen im Widerstand PDF Drucken E-Mail

Die Untergrundarmee

„Wir gingen mit der Waffe über der Schulter auf der Straße. Haska hatte mir ihre Pistole gegeben. Ich trug lange Hosen und einen kurzen Mantel. Zum ersten Mal sah ich nicht aus wie eine elegante Dame aus der Stadt. Kein Untergrund mehr. Es war ein seltsames Gefühl.“

Im Juli 1944 marschierte Chaika Grossman bewaffnet und in sowjetischer Partisanenuniform durch die Trümmer der befreiten Stadt Bialystok. Sie war eine von sechs jüdischen Frauen, die seit der Liquidation des jüdischen Ghettos im August 1943 am politisch organisierten Widerstand beteiligt waren. Chaika Grossman war Mitstreiterin und eine der AnführerInnen der linkszionistischen Gruppe Haschomer Hazair, einer politischen Gruppe junger Menschen, die schon vor dem Krieg in Bialystok existierte.

Bialystok im Nordosten Polens war bei Kriegsbeginn eine sozial und ethnisch stark durchmischte Stadt mit einem hohen jüdischen Bevölkerungsanteil. Als 1941 die Wehrmacht einmarschierte, wurden über 2.000 jüdische Menschen von der SS lebendig in einer Synagoge verbrannt. Schon kurz nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurde wie in allen polnischen Städten auch hier ein jüdisches Ghetto errichtet. Während andere Organisationen junge JüdInnen auf die Auswanderung nach Palästina vorbereiteten, beschloss die Untergrundführung von Haschomer Hazair, in Polen, Litauen und Belorussland Widerstand zu leisten.

Handgranaten im Einkaufskorb

Die Gruppe begann mit der Organisation eines Untergrundbündnisses. Wichtige Aufgaben waren hierbei: Informationsdienste im Austausch mit dem Wilnaer und Warschauer Ghetto, die Verbreitung von Nachrichten über die Vernichtung der Juden sowie die Aufrechterhaltung von konspirativen Wohnungen. Mit diesen Aufgaben wurden hauptsächlich Frauen beauftragt, die aufgrund ihres Aussehens nicht als Jüdinnen erkennbar waren. Während sie tagsüber als „Arierinnen“ bei Gestapo-Dienststellen und in Haushalten von hochkarätigen Nazis arbeiteten, mischten sie sich am Abend mit „Judenstern“ in die Reihen der Menschen, die ins Ghetto heimkehrten. Sie reisten mit gefälschten Papieren über zahlreiche Grenzen zwischen den besetzten Ländern. Auf diese Weise gelang es ihnen, Lebensmittel, Waffen, Sprengstoff und Flugblätter in die, aus und zwischen den Ghettos zu schmuggeln.

Als das Ghetto von Bialystok liquidiert werden sollte, hoffte die Untergrundarmee, dass die Ghettobewohner den Aufrufen, sich am Rande des Ghettos zu versammeln, nicht Folge leisten würden, sondern im Moment des Ausbruchs der Kampfhandlungen auch zu den Waffen greifen würden. Aber es kam leider anders. In der Hoffnung, überleben zu können, wenn sie sich in die „Arbeitslager“ deportieren ließen, folgten viele dem Aufruf und gingen am Morgen zum Sammelplatz. Die Untergrundarmee entschloss sich dennoch zu kämpfen. Chaika Grossman war auf dem Weg zu ihrem Stützpunkt:

„Ich drängte mich durch die Massen, auf dem Weg in die Ciepla-Straße. Woran dachte ich in diesem Moment? Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich schrecklich beeilte, weil die letzten Minuten angebrochen waren. Plötzlich sah ich meine Mutter in der Menge. Ich wollte mich an ihr vorbei stehlen, ohne anzuhalten. Ich hatte Angst davor, sie zu sehen, sie auf dem Sammelplatz zu sehen. Ich hatte Angst davor, ihr zerfurchtes, frühzeitig gealtertes Gesicht zu sehen, ihr graues Haar. Ich hatte Angst davor, sie so allein zu sehen. Ich zog mich zurück, feige, als würde ich von einem Schlachtfeld fliehen, aber sie hatte mich entdeckt. ’Chaikele, wohin gehst du?’ Ich blieb stehen, küsste ihre alten, trockenen Lippen und floh. Ich sah sie nie wieder.“

Nach der Zerstörung des Ghettos flüchtete Chaika Grossman mit ihren überlebenden GenossInnen in die Wälder, wo sie sich den Partisanengruppen anschlossen. Hunderte Zivilisten, Männer, Frauen und Kinder fanden ebenfalls den Weg in die Partisanenlager. In den Wäldern wurden regelrechte Gemeinwesen eingerichtet, die nahezu vollständig autark die täglichen Bedürfnisse der Flüchtlinge bereitstellen konnten. Die jüdischen Partisanengruppen traten vor allem mit einer Serie von Anschlägen und Sabotageaktionen gegen Eisenbahntransporte der deutschen Wehrmacht an die Ostfront in Erscheinung und schlugen zeitweilig erhebliche Lücken in die Kriegsinfrastruktur der Deutschen. Erst als die sowjetische „Rote Armee“ die deutschen Besatzer im Sommer 1944 besiegte, konnten die Männer, Frauen und Kinder die Wälder wieder verlassen.

Während viele männliche Widerstandskämpfer nach dem Krieg zu Ehren kamen, blieben die Frauen meist im Hintergrund. „Wir haben ja nur getan, was getan werden musste“. Aussagen wie diese von Chaika Grossman treffen wir häufig an, wenn wir Berichte von Widerstandskämpferinnen lesen. Jedoch haben Frauen in Spanien, Frankreich, in den Ghettos Osteuropas, bei Titos Partisanen, in den Niederlanden und Griechenland hervorragende Beiträge im Kampf gegen den Nationalsozialismus geleistet. Die Furcht vor Haft oder Todesstrafe hat sie davon nicht abgehalten.


Buch: Die Untergrundarmee. Der jüdische Widerstand in Bialystok. Chaika Grossmann (Fischer; 1993)

erschienen in: Talktogether Nr. 24/2008

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