Gedanken zum Internationalen Frauentag 2005 PDF Drucken E-Mail

Die Hälfte des Himmels

Sie sieht erschöpft aus, ihre Hände sind rau und gerissen. Wahrscheinlich vom jahrelangen Abwaschen und Putzen, während ihr Mann vor dem Fernseher sitzt. Ihre Knöchel sind geschwollen. Mit vollen Einkaufssäcken sucht sie einen Sitzplatz im vollbesetzten Bus. Vielleicht ist sie Fabri­k­arbeiterin, vielleicht auch Putzfrau oder Kellnerin. Müde von der Arbeit ist sie noch in den Supermarkt geeilt um ein­zukaufen. Wahrscheinlich weiß sie nicht, dass heute am 8. März der Internationale Frauentag ist. Was würde sie den­ken, wenn sie wüsste, dass heute der Tag ist, um an die Kämpfe und den Widerstand der Frauen zu denken? Ein Tag, der aufzeigt, dass ihre täglichen Mühen und Opfer ein wesentlicher Bestandteil zur Aufrechterhaltung der ganzen kapitalistischen Funktionsweise sind und nicht ein Tag, um sie mit einem Blumenstrauß zu beschenken. Der Kapitalis­mus braucht die Frauen, die den ganzen Tag arbeiten, um ihre Familien zu versorgen und dann heimkommen, um für ihre emotionalen Bedürfnisse da zu sein. Deshalb benützt er ihre Liebe und ihr Verantwortungsgefühl um das Patriarchat aufrecht zu erhalten. Wir bemerken die Sorgenfalten der Frau im Bus und fragen uns, was sie gerade denkt. Denkt sie an die unbezahlten Rechnungen oder macht sie sich Sorgen um die Zukunft ihrer Kinder? Hat sie vielleicht sogar Angst, nach Hause zu kommen, weil sie heute Abend von ihrem Mann geschlagen werden könnte?

Sollte sie dankbar sein, in einem Land zu leben, in dem wir Frauen doch viel mehr Freiheiten haben als unsere Schwes­tern in anderen Teilen der Welt, wo sie Opfer grau­samer Traditionen wie Kinderhochzeiten, Zwangsheirat, Genital­verstümmelung oder einengender Bekleidungs­vorschriften sind? Das Leid dieser Frauen wird auch noch als Rechtferti­gung für Kriege benützt, die noch mehr Leid und Elend über sie bringen. Wenn es mancher dieser Frauen gelingt, dem Krieg und den Grausamkeiten zu entkommen und sie dann an unsere Türen klopfen, erfahren sie aber nicht die erhoffte Hilfe, sondern Verachtung, Ignoranz und Verleumdung. Wie das Bespiel einer Frau, die aus Afgha­nistan nach Öster­reich geflohen war, zeigt. Als sie der Asyl­behörde ihre Erlebnisse schilderte, wurde ihr kaltschnäuzig entgegnet, „es sei den Frauen zumutbar, die in Afghanistan geltenden Vorschriften zu beachten; der Islam sei ja seit jeher die in Afghanistan herrschende Religion (Quelle: Asyl in Not, Wien). Noch schlimmer kann es kommen, wenn eine Asylwerberin auch noch das Pech hat, krank zu werden und die Leistungen der Sozial­versicherung beanspruchen muss, wie im Fall einer Afrika­nerin, der kürzlich in Wien passiert ist. Diese Frau war vor der Zwangsheirat geflohen, doch ihre Asylgründe wurden nicht anerkannt. Als sie erkrankte und operiert wer­den musste, wurde sie nach der schweren Operation aus dem Krankenhausbett ins Schubhaftgefängnis transportiert und nur nach massiven Protesten wieder freigelassen. Doch da­mit ist nicht genug: In den Medien werden Asyl­werberInnen täglich auch noch als Kriminelle diffamiert. Wo finden diese Frauen die viel gepriesene Freiheit und Demokratie?

Wovon sollten die Frauen im Irak oder in Afghanistan träu­men, wenn sie an Demokratie und "westliche Werte" denken? Vielleicht von einem Leben wie dem jener Frau, der wir im Bus begegnet sind? Auch wenn ihr auf dem Papier die gleichen Rechte zugesichert werden, wie groß ist ihre Freiheit wirklich und was hat sie vom Leben zu erwar­ten? Auf den Plakaten lachen uns schöne Frauengesichter entgegen, die uns alles Glück versprechen, wenn wir die angepriesenen Produkte kaufen. Sie erzählen uns nichts vom Blut und vom Schweiß der Frauen in den "Sweatshops" Asiens oder Lateinamerikas, wo die meisten dieser Produkte hergestellt werden. Und auch nicht vom Leid und den Qua­len der Frauen, die verzweifelt versuchen, diesem Schön­heitsideal zu entsprechen um ihren "Marktwert" zu steigern. Die Unterdrückung und Ausbeutung der Frau ist allgegen­wärtig und ein täglicher Bestandteil unseres Lebens. Wir finden sie in den persönlichen familiären Beziehungen wie überall in der Gesellschaft. Aber nicht nur die Frauen aus den unterdrückten Klassen, auch wohlhabende Frauen sind Opfer von Zwängen, Missbrauch und Brutalität, auch sie werden als Sexualobjekte betrachtet. Denn die Unter­drückung der Frau ist tief in alle Bereiche unserer Kultur verwoben, in den von der Religion gestützten Moralvor­stellungen ebenso wie in der schamlosen sexuellen Aus­beutung von Pornographie und Prostitution. Könnte unser Leben nicht um so vieles glücklicher und erfüllender sein ohne die Missachtung und Gewalt, die uns alle an einem Leben in Freiheit und Würde hindert?

„Die Frauen tragen die Hälfte des Himmels", hat Mao einst gesagt. Damit ist gemeint, dass die Frauen die Hälfte der Bevölkerung repräsentieren und für die Gesellschaft unentbehrliche Arbeit leisten. Deshalb steht ihnen auch die Hälfte der Macht und des gesellschaftlichen Reichtums zu. Der 8. März erinnert an den Kampf der Textilarbeiterinnen von New York vor fast 100 Jahren und wird seitdem von den unterdrückten Frauen auf der ganzen Welt gefeiert. Wenn wir an die Frau im Bus denken, an die vielen Flücht­lingsfrauen, an die Arbeiterinnen in den Sweat-Shops der "Dritten Welt" oder an die Frauen und Mädchen, die an Bordelle oder als Ehefrauen verkauft  werden, fragen wir uns: Hat uns dieser Tag etwas gebracht oder ist er nur eine Tradition, die wir jährlich pflegen? Dass Frauen nicht immer nur Opfer sein müssen, haben viele Kämpferinnen in zahlreichen Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt durch ihre Entschlossen­heit und Unerschrocken­heit bewie­sen. Lasst uns deshalb dieses Jahr noch lauter schreien für unser Recht! Denken wir an all die Frauen, die unermüd­lich gegen Krieg und Un­menschlichkeit auf die Straße gehen und an die Revolutionärinnen, die ihr Leben gegen Aus­beutung und Unterdrü­ckung einsetzen. Solidari­sieren wir uns mit allen unterdrückten Frauen der Welt und feiern wir mit ihnen gemeinsam den 8. März als einen Tag, an dem wir all die Frauen ehren, die mit all ihrem Mut, ihrer Kraft und Ausdauer für eine Zukunft in Freiheit und Gerechtigkeit kämpfen.


Der Kampf der Textilarbeiterinnen in New York

Um die Jahrhundertwende arbeiteten tausende Frauen in den Textilfabri­ken der Lower East Side. Die meisten von ihnen waren Einwande­rinnen aus Russland, Italien und Polen und viele von ihnen noch Teenager. Sie mussten 15 Stunden pro Tag arbeiten und wurden pro Stück bezahlt. Die Kosten für Nadeln, Zwirn und elektrisches Licht mussten sie aus eige­ner Tasche bezah­len und sie saßen auf Kisten, denn Stühle gab es keine. Sie wurden mit hohen Bußgel­dern bestraft, wenn sie zu spät kamen, etwas beschädigten oder zu lang auf der Toilette waren. Eine Arbeiterin erzählte: "Wir trugen bil­lige Klei­der, lebten in schäbigen Hütten, aßen billiges Essen. Es gab nichts, worauf man sich freuen konnte und nichts zu erwar­ten für den nächsten Tag!" Im Jahr 1908 begannen die ArbeiterInnen verschiedener Textilfabriken Protestmärsche und Streiks für bessere Arbeitsbedingungen zu organisieren. Um die Einig­keit zwischen Frauen und Männern zu spalten, gingen man­che Fabrikbesitzer nach zahlreichen kleineren Aktionen auf die Forderungen der männlichen Arbeiter ein, ignorierten aber die Frauen. Aber die Frauen kämpften wei­ter und lie­ßen sich weder durch Gefängnisstrafen, hohe Strafgelder noch von den Schlägen von Polizei und Aufse­hern ein­schüchtern. Als sich Frauen aus der Mittel- und Oberschicht mit den streikenden Arbei­terinnen solidarisier­ten und ihre Proteste unter­stützten, wurden sie selbst ver­haftet. Als die Zeitungen über diese ungewöhnlichen Ver­haftungen berichteten, erfuhr die Öffentlichkeit erstmals von den brutalen Arbeitsbedingung und den Sklavenlöhnen der Textilarbeiterinnen.

Nun beschlossen die Frauen ei­nen Generalstreik am 22. November 1909. Zwanzigtau­send Arbeite­rinnen verlie­ßen die Fabriken und strömten von allen Seiten zum Union Square. "Obwohl ein eis­kalter Wind wehte und die Frauen keine warmen Kleider hatten, gingen sie weiter, ohne daran zu denken, was kommen wird. Sie wussten nicht, was sie antrieb, sie wussten nur, es war IHR Tag", erzählte eine Arbeiterin. Tausende wurden verhaftet, doch die Unter­neh­mer mussten nach einem zweimonatigen Streik den For­derungen schließlich nachgeben. Wenn auch die angestreb­ten Ziele nur teilweise erreicht wurden, veränderte der Auf­stand das Bild, das man über die ungebildeten Ein­wanderin­nen hatte und gab den Frauen Stärke und Stolz. In Erinne­rung an die Arbeiterinnen der Fabrik Cotton, die bei einem Streik am 8. März 1908 durch ein Feuer ums Leben kamen, wurde 1910 der 8. März von der Sozialistischen Internatio­nale zum "Internationalen Frauentag" ausgerufen.

erschienen in: Talktogether Nr. 11/2005