Ngugi wa Thiong’o
„Wir haben Augen, aber wir sehen nicht. Wir haben Ohren, aber wir hören nicht. Wir können lesen, aber wir verstehen nicht, was wir lesen.“
„Wo immer es in der Gesellschaft Klassen gibt, gibt es zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen Konflikte in der Betrachtung der Welt. In einer Welt, die aufgeteilt ist in eine Minderheit von Nationen, die über die Mehrheit der Nationen regiert, muss die Betrachtungsweise unterschiedlich sein. Aber auch innerhalb der Nationen gibt es den Widerspruch zwischen den Besitzenden und den Besitzlosen. Ein gegenseitiger Austausch kann nur auf Gleichheit  beruhen.“ (Interview mit Michael Alexander Pozo, Mai 2004)
Für zahlreiche afrikanische Staaten jährt sich der Tag der Unabhängigkeitserklärung heuer zum 45. Mal. Diesem Ereignis ging ein zäher politischer Kampf voraus. Die Kolonialherrschaft hat die kolonisierten Länder nicht nur politisch und wirtschaftlich gehemmt, sondern auch ihre eigenständige kulturelle Weiterentwicklung behindert. Die machtgierige Herrschaft hat die Völker von ihrer Sprache und ihrer Kultur entwurzelt, hinderte die Menschen, ihre eigenen Sprachen zu sprechen und zwang ihnen ihre Sprache und Kultur auf. Die Kolonialherren beuteten die Menschen aus, wollten ihre Kultur und Sprache aber nicht berühren, die sie in ihrer Arroganz als minderwertig betrachteten. Viele Freiheitskämpfer kämpften für die politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit, doch nur wenige fragten, warum sie ihre eigenen Sprachen und Kulturen verleugnen und denen der Kolonialherren unterordneten.
Einer der erbittertsten Gegner der neokolonialen Ausbeutung und ein unbeugsamer Kämpfer für die Wiedergewinnung der vergessenen und verdrängten Sprachen und Kulturen ist der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong'o. Seine Waffe ist das Wort, das er einsetzt, um das verlorene Selbstbewusstsein der afrikanischen Völker zurückzuerobern. In seinen Werken erforscht Ngugi die menschlichen Beziehungen und ihre Qualität. Wie kaum ein anderer vertritt er unbestechlich die Arbeiter und Bauern Kenias, oder besser gesagt, die ausgebeuteten Massen Afrikas. Auf der Suche nach einer eigenständigen kulturellen Identität beschränkt sich Ngugi nicht auf kulturellen Nationalismus, sondern ist auf der Suche nach einer politischen Strategie, um den globalen Monopolkapitalismus zu brechen, mit dem die Ausbeutung des afrikanischen Kontinents untrennbar verbunden ist.
Ngugi wa Thiong’o wurde 1938 in Kamiriithu im Hochland Kenias geboren. Sein Vater war ein Bauer, der durch die Politik der britischen Kolonialherren von seinem Land in die Slums getrieben worden war. Ngugis Familie war in die „Mau Mau-Freiheitsbewegung“ involviert: Sein älterer Bruder hatte sich der Bewegung angeschlossen, sein Stiefbruder wurde getötet und seine Mutter gefoltert. Ngugi besuchte eine Missionsschule, später studierte er Englisch an der renommierten Makere Universität in Kampala, Uganda. Als Schriftsteller machte er 1964 mit Weep not Child sein Debüt in England, wo er sein Studium fortsetzte. Es war der erste Roman auf Englisch, der von einem ostafrikanischen Autor veröffentlicht wurde. In Form eines Bildungsromans erzählt er den Konflikt eines jungen Mannes zwischen seinen idealistischen Träumen und der gewaltsamen Realität der kolonialen Ausbeutung.
In den 1960er Jahren arbeitete Ngugi als Reporter und als Lektor an verschiedenen Universitäten in Kenia, Uganda und den USA. Ngugi kritisierte das Bildungssystem in Kenia scharf, das auch nach der formellen Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft geprägt war: „Wenn es notwendig ist, die historische Kontinuität einer einzigen Kultur zu studieren, warum kann das nicht die afrikanische sein? Warum kann nicht die afrikanische Literatur im Mittelpunkt stehen, so dass wir andere Literaturen in Beziehung zu ihr sehen?“ fragte er 1968 in einem Artikel über die Notwendigkeit der Anerkennung der Tradition der mündlichen Dichtkunst in Afrika, den er mit Taban lo Liyong und Henry Owuor-Anyumba schrieb.
1976 war Ngugi Vorsitzender des Kulturkomitees seiner HeiÂmatgemeinde, eines kommunalen Kollektivs, das ein VolksÂtheater leitete. Die Regierung verbot die Aufführungen des Theaters und im Dezember 1977 ordnete der damalige Vizepräsident Arap Moy die Verhaftung Ngugis an. Er wurde ohne Gerichtsverfahren in das HochsicherheitsgeÂfängnis "Kamiti" geliefert, wo er ein Jahr verbrachte. Ursache für seine Verhaftung war die unzensurierte politische Botschaft seines populären Stückes Ngaahika Ndeenda (Ich heirate, wann ich will, 1977), das er mit Ngugi wa Mirii geschrieben hatte. Auch mit seinem 1978 erschienenem Roman Petals of Blood (Verbrannte Blüten), in dem er die Fortsetzung der kolonialen Ausbeutung und Korruption durch das neokolonialistische Regime und die Kompradoren-Bourgeoisie im jetzt unabhängigen Kenia kritisierte, hatte er den Grimm der herrÂschenden Klasse auf sich gezogen. Darin kommt er zu dem Schluss, dass der Unanhängigkeitskampf gescheitert ist und nur eine neue Elite geschaffen und die weißen Unterdrücker durch ihre schwarzen Nachfolger ersetzt hat. Der Roman schlug ein wie eine Bombe und war in Nairobi bald nach dem Erscheinen ausverkauft.
„Große Liebe fand ich dort, bei den Frauen und Kindern. Eine Bohne fiel auf die Erde, und wir teilten sie untereinander“ (Lied der Mau-Mau Bewegung)
Nach seiner Freilassung durfte er nicht mehr an die Universität zurückkehren. 1980 veröffentlichte er Caitaani muthara-Ini (Der gekreuzigte Teufel), den ersten modernen Roman, der in der einheimischen Sprache Gikuyu veröffentlich wurde. Geschrieben hat ihn Ngugi heimlich im Gefängnis auf Toilettenpapier. Erst kurz vor seiner Entlassung wurde das Manuskript entdeckt und beschlagnahmt, glücklicherweise aber wieder zurückgegeben. Die Publikation dieses Romans war ein nicht nur literarisches Ereignis. Die Protagonistin Wariinga ist eine junge Frau vom Land, die in Nairobi der Willkür und sexuellen Ausbeutung ihrer Vorgesetzten ausgesetzt ist. Aufgrund ihrer verzweifelten Situation will sie Nairobi verlassen und in ihrem Heimatdorf Ilmorog Zuflucht suchen. Als sie auf ein Matatu-Taxi wartet, erhält sie ein mysteriöses Flugblatt, das zu einem Festival der Diebe und Räuber einlädt. Schließlich landet Wariinga mit ihren Begleitern aus dem Sammeltaxi bei diesem Wettkampf der Diebe und Räuber. Doch bei den Teilnehmern handelt es sich nicht um kleine Gauner, sondern um lokale und ausländische Geschäftsleute, die um die Wette damit prahlen, wie sie reich geworden sind. Durch diese Feier der Korruption in all ihren Formen wird Wariinga zu der Einsicht gebracht, dass ihr bisheriges Leben nichts anderes war als die Duldung der Korruption …
Ngugis Gefängnistagebuch Detained (Kaltgestellt) erschien 1981 in Englisch. Aufgrund der ständigen Verfolgung verließ Ngugi Kenia 1982 und lebte im freiwilligen Exil in London. In seiner Abhandlung Decolonising the Mind (1986) rief er die afrikanischen Autoren auf, in ihren Heimatsprachen zu schreiben, um von den Volksmassen verstanden zu werden. Ngugi argumentierte, dass Literatur, die in einer kolonialen Sprache geschrieben ist, keine afrikanische Literatur sei, und dass afrikanische Schriftsteller die Aufgabe hätten, der afrikanischen Literatur ihre eigene Geschichte und Grammatik zu geben.
„Ich werde keine Waren herstellen, damit Er-der-erntet-wo-er-nie-gesät-hat davon reich wird und ich mit leeren Händen ausgehe. Ich weigere mich, der Kochtopf zu sein, der immer kocht und nie isst …“
Matigari, eines seiner bedeutendsten Werke, wurde 1987 veröffentlicht. Die Geschichte ist auf einem bekannten Volksmärchen aufgebaut. In dieser satirischen Fabel taucht plötzlich ein Freiheitskämpfer der „Mau-Mau-Bewegung“ aus den Wäldern auf. Viele Jahre stand Matigari im Krieg gegen die weißen Kolonialisten und ihre schwarzen Handlanger. Jetzt will der Kämpfer, der dem Tod entkam, nach Hause zu seiner Familie. Zu spät erkennt er, dass der Freiheitskampf vergebens war: Zu Hause ist kein Platz für ein aufrichtiges Leben, dort herrschen die Erben derer, gegen die er einst kämpfte. Aber Matigari widersteht auch den neuen Machthabern. Seine Reden, seine Taten, vom Volksmund ausgeschmückt und überhöht, lassen ihn bald zur Legende werden, zu einer mystischen Figur. Eine Wiederkehr Christi? Ngugis Anspielungen auf das Evangelium sind nicht zufällig. Matigari trifft die schöne Guthera, eine Prostituierte, deren Vater von der Kolonialpolizei ermordet worden war und die ihren Körper verkaufen muss, um ihre Geschwister zu ernähren. Guthera und der verwahrloste Straßenjunge Muriuki folgen Matigari, der einst wie Jesus auf die Märkte und Plätze geht, um die Ärmsten, die Ausgestoßen, die Rechtlosen zu sammeln. Als die Stunde gekommen ist, entscheidet sich dieser schwarze Messias aber nicht für den Opfertod, sondern gräbt seine Waffen aus, die er damals im Dschungel zurückließ. Der Roman wurde eingeholt von der politischen Realität, die er beschreibt. Kurz nach dem Erscheinen des Buches verbreitete der kenianische Geheimdienst Meldungen, dass ein Mann namens Matigari für Wahrheit und Gerechtigkeit agitiere und die Behörden ordneten an, diesen Mann zu verhaften.
1992 erhielt Ngugi eine Professur für vergleichende Literatur an der Universität New York und zog in die USA, wo er bis heute lebt. Nach der Demokratisierung in Kenia besuchte er 2004 seine Heimat, die er geistig nie verlassen hatte, und beendete damit sein 20-jähriges Exil. Sein Vorbild hat mehrere moderne Schriftsteller in Kenia bewogen, Literatur in ihren Muttersprachen zu schreiben.
In diesem Augenblick stand ein Mann auf, der weder zu dick noch zu dünn war. Er war es, der den Streit durch seine Worte beilegte: „Wir wollen nicht ständig danach Ausschau halten, ob einer schlank oder dick ist, dünn oder fett, weiß oder schwarz, groß oder klein. Auch der kleinste Raubvogel holt sich seine Beute. Jeder, der davon überzeugt ist, das Zeug dazu zu besitzen, sollte die Möglichkeit haben, nach vorne zu kommen, um sich mit anderen Beutegierigen zu messen. Zwei Beutegierige müssen auf dem Schlachtfeld aufeinander treffen, um alle Zweifel darüber zu beseitigen, wer beim Beutefraß, der aus anderer Leute Eigentum besteht, den Ton angibt.
Schauen Sie doch unsere ausländischen Gäste an. Einige von ihnen sind dick, andere sind schlank. Einige haben sehr rotes Haar, andere haben Haare, die nicht ganz so rot sind. Einige kommen aus Japan, und andere kommen aus Italien, und ihr Anführer kommt aus Amerika, aus den USA. Was sie zu einer Altersgruppe, einer Familie, einer Sippe macht, zu ein und derselben Art, die von derselben Nabelschnur abstammt, ist weder auf ihre Schlankheit noch auf ihre Fettleibigkeit, noch auf ihre Sprache zurückzuführen … nein … was sie alle aneinander bindet, was aus ihnen Angehörige einer Sippe macht, ist die Tatsache, dass sie alle sich dem Raub und dem Diebstahl verschrieben haben. Aus diesem Grunde haben sie nun ihre Fühler in alle Winkel der Erde ausgestreckt, wie eine Schlingpflanze, die sich auf dem ganzen Feld ausbreitet und bis in die äußersten Ecken vordringt.
Deshalb stammen auch wir, ihre einheimischen Aufpasser, von einer einzigen Nabelschnur ab, wir gehören zu einer Altersgruppe, einer Familie, einer Sippe, wir sind von derselben Art. Wir, die wir heute hier versammelt sind – ob ich nun ein Luo bin, oder ein Kalenjin, oder ein Mkamba, oder eine Mswahili, oder ein Mmasai, oder ein Mkikuyu, oder ein Mbaluhya -, wir alle sind Brüder dadurch, dass wir uns dem Raub und dem Diebstahl verschrieben haben, und durch unsere Verbindung mit den ausländischen Experten. Zeremonienmeister! Wie alle gehören einer Organisation an. Lasst uns stets diese Einheit bewahren, Nur unter denen, die wir berauben und bestehlen, müssen wir Zwietracht säen, Stammes- und Religionszugehörigkeit sind uns dabei behilflich – damit jene niemals eine eigene starke und geeinte Organisation schaffen können, um uns Widerstand zu leisten …“
(aus: Ngugi wa Thiong’o „Der gekreuzigte Teufel")
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