FLUCHT ÜBER DAS MEER DAMALS … 1939: Aaron Pozner kam gerade aus dem Konzentrationslager Dachau. Mit 26.000 anderen war Aaron in der „Kristallnacht“ ins KZ geliefert worden, als der wütende Nazi-Mob jüdische Wohnungen und Geschäfte überfiel und Tausende Juden verhaftet wurden. In Dachau erlebte er die brutalen Morde und Foltermethoden der Nazis. Als er überraschend freikam, wusste er, dass er nur eine Überlebenschance hatte: so schnell wie möglich das Land zu verlassen. Obwohl seine Familie arm war, gelang es ihm, das notwendige Geld für die Schiffsreise zu sammeln, die ihm ein neues Leben ermöglichen sollte: 800 Reichsmark für die Fahrt von Hamburg nach Kuba und zusätzliche 230 Reichsmark als Versicherung für eine mögliche Rückreise. Als die Nazis 1933 an die Macht gekommen waren, war ihr Judenhass in der Welt wohlbekannt. Zuerst begannen sie mit der Verfolgung der Kommunisten, dann mit der heimlichen Ermordung von Behinderten und psychisch Kranken und der Verfolgung von Homosexuellen. Die Ausschreitungen und die Morde an der jüdischen Bevölkerung setzten ein, nachdem jene durch die „Nürnberger Rassengesetze“ all ihrer Bürgerrechte beraubt und aus ihren Ämtern vertrieben wurden. Dennoch wiegten sich immer noch viele in der Hoffnung, dass es nicht noch schlimmer kommen könne. Diese Illusionen wurden in der sog. „Kristallnacht“ im November 1938 jäh zerstört. Immer mehr Juden gaben die Hoffnung auf, in Deutschland leben zu können, und erkannten, dass sie nur eine Möglichkeit hatten: nämlich so schnell wir möglich zu fliehen. Doch die internationale Politik blieb vom Leid der Menschen ungerührt. Außer der Sowjetunion war kein Land bereit, Flüchtlinge aus Deutschland unbegrenzt einreisen zu lassen. Wenn auch die USA und England Zehntausende aufnahmen, so waren es doch zehnmal so viele, die um ein Visum ansuchten. 1938 berief Roosevelt die Evian-Konferenz ein um zu beraten, was man mit den jüdischen Flüchtlingen tun solle. Doch fast kein Land war bereit, seine Einreisequoten zu erhöhen. Das Ergebnis dieser Konferenz wurde von der Nazi-Presse begrüßt und als Zeichen interpretiert, dass die Welt ihrer Politik zustimme. Schweren Herzens verabschiedete sich Aaron von seiner Frau und seinen Kindern mit dem Wissen, dass er nicht genug Geld auftreiben konnte, um ihnen allen ein Ticket zu kaufen. Er hoffte, in die USA zu gelangen und dort genug Geld zu verdienen, um seine Familie nachzuholen. Um unbemerkt zu bleiben, musste er sich auf seiner Reise nach Hamburg zwischen blutigen Tierkadavern verstecken. Als der Hapag Lloyd-Dampfer St. Louis am 13. Mai 1939 den Hamburger Hafen verließ, waren 937 verzweifelte Menschen an Bord, die meisten von ihnen Juden, die versuchten, über Kuba in die USA zu emigrieren. Ihr Schicksal war von Anfang an ungewiss, denn die meisten besaßen keine gültigen Einreisepapiere. Kuba hatte ihnen eine vorläufige Erlaubnis erteilt, zu landen und auf ein Visum für die USA zu warten. Viele der Passagiere begannen sich während der Reise zu entspannen und auf eine Zukunft in Freiheit zu hoffen. Inzwischen hatten die USA Druck auf die kubanische Regierung ausgeübt, so dass die Einreisepapiere für ungültig erklärt wurden. In Kuba angekommen, wurde den Flüchtlingen verboten, das Schiff zu verlassen. Während die Verhandlungen mit den Einreisebehörden liefen, segelte die St. Louis im karibischen Meer umher und kam dabei der amerikanischen Küste so nahe, dass die Passagiere die nächtlichen Lichter Miamis sehen konnten. Aus Verzweiflung versuchten manche ins Meer zu springen, doch das Schiff wurde ständig vom Militär überwacht. Der Kapitän befürchtete Massenselbstmorde oder eine Meuterei. Die US-Regierung entschied gegen die Flüchtlinge, und im Juni wurde das Schiff gezwungen, nach Europa zurückzukehren. Nur wenige der zurückgeschickten Flüchtlinge haben es geschafft, in anderen Ländern Aufnahme zu finden und den Nazi-Konzentrationslagern lebendig zu entkommen. UND HEUTE Sahra hatte 14 Jahre Bürgerkrieg überlebt und hoffte auf die Rückkehr des Friedens. Ein kleiner Marktstand sicherte ihr ein bescheidenes Einkommen; der Gedanke an Flucht war ihr nie gekommen. Bis eines Tages der Vater mitteilte, dass er sie einem Mann zur Ehefrau versprochen hatte. „Dieser Mann ist älter als du und hat schon zwei Frauen. Seine Enkelkinder sind so alt wie ich! Wie kannst du mir so etwas antun?“ schrie Sahra verzweifelt. Doch der Vater war nicht bereit zu diskutieren: „Ich weiß, was für dich und für uns gut ist. Dieser Mann ist reich und einflussreich, wir können alle davon profitieren“. In einem Land, wo nur jene das Sagen haben, die reich sind und bewaffnete Milizen haben, ist es lebensgefährlich, einem mächtigen Mann einen Wunsch zu verweigern. Sahra wusste, dass es für sie kein anderes Entkommen gab, als die Flucht. Deshalb suchte sie Leute, die sie aus dem Land wegbringen. 800 Dollar kostete die Reise nach Europa, doch Sahra hatte keine andere Wahl. Ein bisschen Geld hatte sie gespart, den Rest sammelte sie von ihren Kolleginnen vom Markt zusammen. In Europa hoffte sie, einen Job zu finden, in Freiheit und ohne Angst leben zu können. Heimlich packte sie die notwendigsten Sachen für ihre Reise und notierte sorgsam Telefonnummern und Adressen von Bekannten in Europa. Wie Sahra sind täglich zahlreiche Menschen unterwegs in Richtung Europa, auf der Flucht vor Gewalt, Verfolgung, Krieg oder weil sie ihre Lebensgrundlage verloren haben. Mit der Hoffnung auf Sicherheit, Demokratie und Freiheit. Doch während weltweit die Grenzen für die Konzerne geöffnet werden, werden sie für die Menschen dichtgemacht. Die EU gibt Hunderte Millionen Euro aus, um Flüchtlinge abzuwehren, die nach Europa einreisen wollen. Das hat zu einer regelrechten Militarisierung des Mittelmeers geführt, und Flüchtlingsboote werden mit militärischen Mitteln zur Rückkehr gezwungen. Um unbemerkt zu bleiben, müssen die Flüchtlinge deshalb die Überfahrt in immer kleineren Booten wagen. Gemeinsam mit anderen Flüchtlingen wurde Sahra in Kleinbussen durch die Sahara über den Sudan nach Libyen transportiert. Dort wartete sie tagelang, versteckt in Baracken, bis ihr gesagt wurde, es sei soweit. An der Küste von Libyen, im Grenzgebiet zu Tunesien, gingen 85 Flüchtlinge aus Somalia, Eritrea und Äthiopien, unter ihnen 13 Frauen und 7 Kinder, an Bord eines Holzbootes, zehn Meter lang, zwei Meter breit. Nur 20 Quadratmeter für 85 Menschen! Sie bekamen Wasser und Brot für zwei Tage und die Reise begann. Am zweiten Tag auf See begann der Motor zu stottern. Der Tank leckte, Öl und Benzin flossen ins Meer. Die Männer versuchten, das Boot wieder in Gang zu kriegen. Vergeblich. Am dritten Tag wurde der Wind stärker, es regnete, die Wellen schwappten über Bord. Der Wind blies das überladene Boot im Kreis herum. Bald hatten sie kein Wasser mehr und kein Brot. Am fünften Tag starben die ersten Passagiere, Kinder, 6 bis 15 Jahre alt. Der Sturm wurde immer stärker, die Flüchtlinge zitterten vor Kälte, Hunger und Durst. Sie hörten auf, die Tage zu zählen. Und die Toten, die sie über Bord ins Meer warfen. Irgendwann war auch Sahra zu schwach, sich zu bewegen. Mehr als zwei Wochen nach Beginn der Fahrt wurde das umher treibende Boot von einem Fischkutter gefunden. Auf dem Boot waren 28 Menschen, 14 lebten, 14 schienen tot zu sein. Ihre Körper lagen über das Deck verstreut. Als die Rettungsleute den Flüchtlingen Brot und Wasser reichten, erbrachen sie. Beim Einpacken der Toten in die Leichensäcke, bemerkten sie, wie ein Körper versteckt unter den Leichen mit dem Finger zuckte. Es war Sahra, sie atmete. In der Nacht wurde Sahra ins Krankenhaus gebracht, ihr Zustand war kritisch. Die übrigen Flüchtlinge wurden mit Wasser, Essen und Telefonkarten versorgt und dann in die Abschiebelager nach Kalabrien und Apulien gebracht. Ob die Flüchtlinge abgeschoben wurden oder ob es einigen von ihnen gelungen ist, in die Illegalität unterzutauchen, ist uns nicht bekannt. Vielleicht sind manche von ihnen als rechtlose Arbeiter in einer Obstplantage gelandet, wo sie die Orangen oder Tomaten ernten, die wir im Supermarkt kaufen. Wenn das Meer ruhig ist, starten täglich neue Boote mit Flüchtlingen die gefährliche Reise über das Meer, das schon für so viele von ihnen zum Grab geworden ist. Denn immer mehr Menschen aus den armen Ländern des Südens sind gezwungen, ihre Heimat zu verlassen und sehen trotz des Risikos keine andere Überlebenschance, als die Reise in die Zentren des Wohlstands zu wagen. erschienen in: Talktogether Nr. 13/2005
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