Die Kristallnacht:
Erinnerung, Mahnung und Verpflichtung
von Elke-Marie Calic
Der 9. November bietet alljährlich den Anlass, uns eines Verbrechens zu erinnern, das als „Kristallnacht“ in die Geschichtsschreibung eingegangen ist, eines Verbrechens, das die Nazis auf perfideste Weise von langer Hand geplant hatten und das sie als eine ihrer zahlreichen Provokationen zur Täuschung des deutschen Volkes und der Weltöffentlichkeit ihrem Ziel, der Verfolgung und Vertreibung der jüdischen Bevölkerung, auch näher brachte.
Am Morgen des 7. November 1938 kaufte der 17-jährige Hershel Grynszpan, ein jüdischer Emigrant aus Hannover, in Paris einen Revolver, begab sich in die deutsche Botschaft und streckte den Dritten Botschaftssekretär Ernst vom Rath mit fünf Schüssen nieder. Der Diplomat galt als NS-Gegner, war aber dennoch erst vor wenigen Wochen vom konsularischen Dienst in Kalkutta an die Botschaft in Paris befördert worden.
Prompt nahm die deutsche Propaganda den Anschlag zum Anlass, von einer Verschwörung des Weltjudentums gegen die deutschen Friedensbestrebungen zu sprechen. Noch am 7. November lautete ein offizieller Rundruf an alle großen Zeitungen: „In eigenen Kommentaren ist darauf hinzuweisen, dass das Attentat des Juden schwerste Folgen für die Juden in Deutschland haben muss“. Ernst vom Rath erlag am 9. November seinen Verletzungen. Hitler ernannte ihn posthum zum Botschaftsrat.
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 erschütterte die so genannte „Reichskristallnacht“ die Welt, ein Ausbruch nationalsozialistischer Barbarei. Berlin hatte demonstrieren wollen, dass alles in Scherben fallen würde, sollten sich die Juden auch weiterhin der Politik des Dritten Reichs widersetzen. In seinem Schnellbrief an Reichsmarschall Hermann Göring gab Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, die Schäden wie folgt an: „(…) 815 zerstörte Geschäfte, 29 in Brand gesteckte oder zerstörte Wohnhäuser (…) geben nur einen Teil der wirklich vorliegenden Zerstörungen wieder (…) An Synagogen wurden 191 in Brand gesteckt, weitere 76 vollständig demoliert. Ferner wurden 11 Gemeindehäuser, Friedhofkapellen und dergleichen in Brand gesteckt und weitere 3 völlig zerstört. Festgenommen wurden 20.000 Juden, ferner 7 Arier und 3 Ausländer. Letztere wurden zur eigenen Sicherheit in Haft genommen. An Todesfällen wurden 36, an Schwerverletzten ebenfalls 36 gemeldet, die Getöteten bzw. Verletzten sind Juden...“
Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. Nach der Zerstörung hat eine SA-Wache aufzuziehen, die dafür zu sorgen hat, dass keinerlei Wertgegenstände entwendet werden können. [...] Die Presse ist heranzuziehen. Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. Es sind nur Wohnhäuser arischer Deutscher zu schützen, allerdings müssen die Juden raus, da Arier in den nächsten Tagen dort einziehen werden. [...] Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift. Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. An den zerstörten jüdischen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen, mit etwa folgendem Text: 'Rache für Mord an vom Rath. Tod dem internationalen Judentum. Keine Verständigung mit Völkern, die judenhörig sind.' (Anweisung an die SA-Stellen)
Kein Wort des Bedauerns über den Vandalismus, über die „36 Todesfälle“, die in Wahrheit 91 Mordopfer waren. Etwa 30.000 Juden kamen nach dieser Nacht des „entfesselten Volkszornes“ in Konzentrationslager. Heydrich war es keineswegs um die Schüsse Hershel Grynszpans auf den Diplomaten vom Rath gegangen, nein, für ihn war endlich der Startschuss für den Beginn eines ganz genau definierten Programms gefallen.
Die Geschichtsschreibung hat – neben der „Kristallnacht“ – noch mindestens zehn weitere große NS-Provokationen nachgewiesen, die – minutiös und von langer Hand geplant – die Herrschaft der Nazis in Deutschland und in der Welt zementieren sollten. Die erste und für die NSDAP wichtigste Provokation war die Reichstagsbrandstiftung, als am 27. Februar 1933, eine Woche vor den bereits angesetzten Reichstagswahlen vom 5. März, das deutsche Parlament vernichtet wurde. Der Übeltäter, der „alleinige Brandstifter“, wurde noch an Ort und Stelle verhaftet. Es handelte sich um den holländischen Kommunisten Marinus van der Lubbe aus Leyden, einen jungen, unerfahrenen und zu zwei Drittel blinden Mann, den falsche Genossen nach Berlin gelockt hatten unter dem Vorwand, sich an einer Aktion zur Verhinderung eines Sieges der NSDAP bei den Wahlen zu beteiligen. Die Polizei verhaftete das volltrunkene Opfer, das orientierungslos im Plenarsaal ausharrte, von dem es aber am folgenden Tag hieß, es sei ihm gelungen, mit vier Kohleanzündern den 11.000 m3 umfassenden Plenarsaal in wenigen Minuten in ein Flammenmeer zu verwandeln.
Die „Hintermänner“ und „Drahtzieher“ waren auch gleich ausgemacht: Sozialdemokraten und ausländische Kommunisten. Als Hauptperson der Anstifter wurde am 7. März der Bulgare Georgi Dimitroff, Leiter des westeuropäischen Büros der Komintern in Berlin, verhaftet. Inzwischen waren die Wahlen vom 5. März zur vollen Zufriedenheit der Nazis ausgegangen: 51,9 Prozent der abgegebenen Stimmen waren auf die NSDAP entfallen. Hitler und seine Strategen hatten das Wahlvolk mit Hilfe des „kommunistischen“ Verbrechens erfolgreich vor die Alternative „Moskau oder Berlin“, „Bolschewismus oder Nationalsozialismus“, „weltjüdische Verschwörung oder Volksgemeinschaft der deutschen Nation“ gestellt.
Dimitroff und van der Lubbe kamen vor das Leipziger Reichsgericht, wo der Angeklagte van der Lubbe, offensichtlich unter Drogen gesetzt, vom Prozessgeschehen nichts mitbekam, Georgi Dimitroff hingegen sich grandios selbst verteidigte, was ausländische Beobachter zu bewundernden Kommentaren veranlasste. Der Bulgare musste auf Druck der Weltöffentlichkeit hin freigelassen werden, der Niederländer aber wurde zum Tode verurteilt. Auf dem Weg zur Guillotine, in einem offenbar lichten Moment, fragte er noch, wie Zeugen berichteten: „Und wo sind die anderen?“
Die Geschichtsforschung fand in einer internationalen und interdisziplinären Untersuchung, auch unter Befragung von Zeit- und Augenzeugen, heraus, dass die Nazis den Reichstag selbst vernichtet hatten. Es gelang sogar, die Namen der Brandstifter zu eruieren, die mit einer großen Menge an Brandförderungsmitteln, das Verbrechen zur vollen Zufriedenheit ihrer Auftraggeber vollbracht hatten.
Neben der „Provokation des Jahrhunderts“, der NS-Reichstagsbrandstiftung von 1933 zur Eroberung der Macht in Deutschland, und der Inszenierung der „Reichskristallnacht“ von 1938, durch welche die Vertreibung und Vernichtung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland und Österreich legalisiert werden sollte, gilt es noch, die „Gleiwitz-Provokation“ zu erwähnen, jenes gewaltige Täuschungsmanöver, das den Überfall auf Polen als Ouvertüre des von den Nazis lange geplanten und heiß ersehnten Zweiten Weltkriegs markierte, der den „Endsieg der Herrenrasse über die Untermenschen“ bringen sollte, tatsächlich aber 60 Millionen Menschen das Leben kostete.
Militärisch minutiös geplant inszenierten die Nazis am Abend des 31. August 1939 den „Überfall polnischer Soldaten“ auf die Radiostation Gleiwitz, etwa sechs Kilometer von der deutsch-polnischen Grenze entfernt. Im Zuge der „polnischen Erstürmung“ des Senders wurde – in gebrochenem Deutsch – eine den Führer und die deutsche Nation beleidigende Proklamation verlesen. Um diesen dreisten Coup glaubhaft zu machen, bedurfte es aber auch sichtbarer Beweise. Diese lieferten die Organisatoren der „Grenzverletzung“, indem sie um der Glaubwürdigkeit halber die Leichen der „polnischen Aggressoren“ am Ort des „Überfalls“ zurückließen. In Wahrheit waren dies Häftlinge aus dem Konzentrationslager Sachsenhausen-Oranienburg, die man in polnische Uniformen gesteckt hatte – im Gestapo-Jargon unter dem Begriff „Konserven“ geführt –, und die nun der Welt als die polnischen Angreifer präsentiert werden konnten. Am 1. September 1939 morgens früh begann der deutsche Angriff auf Polen und damit die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs.
„So habe ich meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig (...) Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir Lebensraum, den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?" (Adolf Hitler am 22. August)
Es ist unsere Pflicht, anlässlich historischer Jahrestage immer wieder daran zu erinnern, und vor allem auch den nachwachsenden Generationen vor Augen zu führen, welche verheerenden Auswirkungen die perfide, politische und welteroberungswütige Manipulation von im Grunde gutgläubigen Menschen haben kann.
erschienen in: Talktogether Nr. 14/2005
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