Gespräch mit Tenzin aus Tibet PDF Drucken E-Mail

Gespräch mit Tenzin aus Tibet

“Wie müssen sich Menschen fühlen, dass sie das Risiko auf sich nehmen, ihre Kinder vielleicht nie wieder zu sehen, und nicht zu wissen, was mit ihnen passieren wird?“

TALK TOGETHER: Wie bist du nach Österreich gekommen?

Tenzin: Meine Eltern sind 1959 nach Indien geflohen. Seitdem leben sie in Arunachal Pradesh, einem Bundesstaat in einer gebirgigen Region im Nordosten Indiens. Dort bin ich geboren und aufgewachsen. Im Jahr 2002 besuchte ich in Graz das Kalachakra Kulturfest. Ich hatte nur vor, drei Monate in Österreich zu bleiben, und meine Schwester zu besuchen, die mit einem Österreicher verheiratet ist und in Salzburg lebt. Doch zum Zeitpunkt als ich in Österreich war, war es in Indien ziemlich gefährlich.
Wir hatten in unserer Gemeinde viele Probleme, da in Arunachal Pradesh Bürgerkrieg herrscht. Nationalistische Banden aus Assam treiben dort ihr Unwesen und terrorisieren unsere Siedlungen. In unserer Gemeinde wohnen ca. 3000 Leute. Da mein Vater der Vorsitzende unserer Gemeinde war, kamen sie zu ihm und verlangten Geld. Steuern, wie sie sagten, weil wir Ausländer seien, die in ihrem Land leben. Mein Vater versuchte mit ihnen zu verhandeln, aber meine Familie hatte große Angst, weil wir erwarteten, dass sie immer wieder kommen würden. Von der Polizei kann man keine Hilfe erwarten, da sie mit diesen Banden gemeinsame Sache machen. Und da sich unsere Gemeinde in einer sehr abgelegenen Region von Indien befindet, erfährt kaum jemand, was dort passiert. Diese Banden ließen unsere Gemeinde nicht in Ruhe. Deshalb riet mir mein Vater, in Österreich zu bleiben, wenn ich dort eine Chance hätte, in Frieden zu leben. Deshalb habe ich in Österreich um Asyl angesucht.

TALK TOGETHER: Wo fühlst du dich zu Hause, was empfindest du als deine Heimat?

Tenzin: Obwohl ich niemals in Tibet war, habe ich immer Tibet als meine Heimat empfunden, denn in Indien habe ich mich nie wirklich zu Hause gefühlt. Ich bin dort gebo­ren, habe dort studiert und meine Freunde leben dort. Trotzdem haben wir uns als Ausländer gefühlt und wurden auch so behandelt. Wir haben unseren Aufenthalt nur als vorübergehend betrachtet und immer im Bewusstsein gehabt, eines Tages nach Tibet zurück zu kehren. Wir haben zwar die Freiheit, unsere eigenen Schulen und Klöster zu haben und unsere tibetische Sprache zu lernen, aber wir bekommen nicht die indische Staatsbürgerschaft und müssen jedes Jahr erneut  um ein Visum ansuchen.

TALK TOGETHER: Warum sind so viele Menschen aus Tibet geflüchtet?

Tenzin: Viele Menschen empfinden es unerträglich, dass sie keine Freiheit haben. Es ist den Tibetern verboten, ihre eigenen Schulen zu haben und ihre Sprache zu lernen. Die Menschen leiden darunter, dass sie ihre Kultur nicht eigenständig weiterentwickeln können. Als Beispiel möchte ich erzählen: Vor kurzem war ich mit meiner Schwester bei einer Ausstellung über Tibet in Oberndorf. Es war sehr traurig für mich zu erfahren, dass viele Leute ihre Kinder allein nach Indien und Nepal schicken, weil sie in Tibet nicht ihre Sprache und über ihre Kultur lernen dürfen. Da fragte ich mich: Wie müssen sich diese Menschen fühlen, dass sie das Risiko auf sich nehmen, ihre Kinder vielleicht nie wieder zu sehen, und nicht zu wissen, was mit ihnen passieren wird?

TALK TOGETHER: Wie ist die Situation in Tibet heute?

Tenzin: In Tibet sind die Menschen unterdrückt und es gibt ständig Kontrollen. Wer über die Freiheit Tibets spricht wird verhaftet. Ein Freund von mir wollte zu Fuß nach Tibet gehen, wurde aber verhaftet und war drei Monate im Gefängnis. In Tibet hat jeder Angst über politische Themen zu sprechen, da es überall Spitzel gibt, manchmal sogar innerhalb der eigenen Familie. Die chinesischen Behörden haben große Angst vor politischen Leuten, denn die Unzufriedenheit in der Bevölkerung ist groß. Jedes Jahr gibt es am 10. März große Demonstrationen in Indien und Tibet.

TALK TOGETHER: Welchen Hintergrund haben diese Demonstrationen?

Tenzin: Im Jahr 1959 gab es einen Aufstand für die Unabhängigkeit Tibets. Bis zu diesem Zeitpunkt war der Dalai Lama der Führer der autonomen Provinz Tibet gewesen. Doch als der Aufstand ausbrach, griff die chinesische Armee an und es kam zu heftigen Kämpfen, bei denen Tausende Menschen getötet und zahlreiche Kulturschätze zerstört wurden. Die Folge war, dass der Dalai Lama ins Exil nach Indien flüchtete, wo er heute noch lebt. Viele Menschen – so wie auch meine Eltern – sind ihm damals gefolgt. Die Demonstrationen jedes Jahr am 10. März erinnern an diesen Kampf.

TALK TOGETHER: Wie lebten die Menschen in Tibet früher? Welche Bedeutung hatte der Dalai Lama?

Tenzin: Es gibt sechs verschiedene Stämme, aber sie waren durch die Religion verbunden und lebten in Frieden miteinander. Der Dalai Lama war der religiöse und politische Führer Tibets. Das Wort „Dalai“ kommt aus dem Mongolischen und bedeutet Meer und „Lama“ bedeutet Lehrer, der Name ist ein Symbol für die die Weisheit des Ozeans. Der jetzige Dalai Lama ist der 14. Dalai Lama, und die Menschen glauben, dass er die Wiedergeburt seines Vorgängers ist. Der Dalai Lama wird als Kind ausgewählt, er muss verschiedene Tests bestehen. Er muss aber nicht aus einer bestimmten Familie kommen, er kann auch aus einer armen Familie stammen. Der jetzige Dalai Lama wurde schon im Alter von zwei Jahren auserwählt. Die Menschen in Tibet sind sehr religiös.

TALK TOGETHER: Es wird gesagt, dass früher in Tibet bittere Armut sowie grausame Unterdrückung und Knechtschaft geherrscht haben.

Tenzin: Dieses Argument wird von den Chinesen oft benützt, um die Besetzung Tibets als Befreiung darzustellen. Ich habe Tibet ja nie selbst kennen gelernt, deshalb ist es schwer für mich, mir ein Urteil zu bilden, was davon wahr ist und was nicht. Aber ich habe mir vorgenommen, mich eingehender zu informieren, um so etwas näher an die Wahrheit zu kommen. Eines möchte ich aber betonen: Mit chinesischen Menschen habe ich persönlich keine schlechten Erfahrungen gemacht, und ich habe ihnen gegenüber auch keinerlei Vorbehalte.

TALK TOGETHER: Wie fühlst du dich hier in Österreich?

Tenzin: Da ich es ja schon vorher im Exil lebte, ist die Situation als Fremde nicht neu für mich. Eigentlich reagieren viele Menschen hier in Europa sehr positiv. Wenn sie hören, dass ich aus Tibet komme, sind sie freundlich zu mir. Ich habe den Eindruck, dass sich viele für die tibetische Kultur und Religion interessieren. Als Asylwerberin sind meine Möglichkeiten aber beschränkt. Ich bin ja noch jung und ich möchte gerne etwas tun, um mich weiterzubilden, z.B. würde ich gern meine Deutschkenntnisse verbessern. Die Studien­gebühren auf der Universität kann ich mir aber nicht leisten, denn die betragen für mich als Nicht-EU-Bürgerin über € 700,-!

TALK TOGETHER: Was bedeutet es für dich, Tibeterin zu sein? Und wie ist deine persönliche Einstellung zum Buddhismus?

Tenzin: Ich bin stolz darauf, Tibeterin zu sein. Der Buddhismus ist für mich eine Philosophie, die mir im täglichen Leben weiterhilft. Buddha hat niemals gesagt, dass man ihm folgen solle und er versprach niemand den Himmel: „Wenn ihr mir folgen wollt, dann studiert meine Lehren und entscheidet selbst, ob sie für Euch nützlich sind“. Was mir daran gefällt ist, dass er nicht von den Leuten verlangte, blind zu glauben, sondern sie aufforderte, selbst zu analysieren. Die wichtigsten Wahrheiten des Buddhismus sind: Unser Leben besteht aus Leiden, doch jeder Schmerz hat eine Ursache. Wenn wir die Ursache des Leidens erkannt haben, können wir das Leiden beseitigen. Der Buddhismus sagt uns damit, dass wir unsere eigenen Lehrer sind.

TALK TOGETHER: Was wünschst du dir für dich und deine Landsleute?

Tenzin: Ich hoffe, dass es in Tibet Freiheit und Frieden geben wird, und dass ich mein Land ohne Probleme besuchen kann. Wichtig ist für alle Menschen, einen offenen Geist zu haben, nicht nur in der Politik, sondern in allen Lebensbereichen. Die Leute sollen versuchen, sich zu verstehen und die Ideen anderer zu achten. Wenn man etwas erreichen will, hilft es nicht zu beten oder zu warten, bis jemand anderer etwas für dich tut, sondern man muss versuchen, sich selbst zu helfen.

TALK TOGETHER: Danke für das Gespräch.

erschienen in: Talktogether Nr. 9/2004