PERSEPOLIS: Verlorene Heimat
Ein kleines Mädchen und die Geschichte ihres Landes
Dass die Geschichte kein Buch oder Zeitungsartikel ist, sondern dass wir selbst Teil der Geschichte sind, sie erleben und gestalten, sagt uns Marjane Satrapi mit ihrem Zeichentrickfilm Persepolis. Die nach Frankreich emigrierte Iranerin erzählt uns in diesem Film die Geschichte ihres Landes anhand der Lebensgeschichte eines Mädchens.
Marjane ist gerade neun Jahre alt geworden, als die Revolution den Iran erschüttert. Ihre Eltern nehmen an den Demonstrationen gegen das Schah-Regime teil und bringen so die Politik in ihre Kindheit. Marjane ist ein Mädchen mit großen Ambitionen: der Welt letzte Prophetin zu werden und sich die Beine zu rasieren. Gegensätze durchziehen die turbulente Geschichte des Iran sowie Marjanes ebenfalls turbulente Lebensgeschichte.
Obwohl Marjane in einem wohlhabenden westlich orientierten Bürgerhaus aufwächst, haben drei Generationen ihrer Familienmitglieder Erfahrung mit Gefängnis und Folter gemacht. Ihre Lebensgeschichten, die im ersten Teil des Films vorgestellt werden, spiegeln die Geschichte von Unterdrückung, Öl und Abhängigkeit wider. Die politische Unterdrückung durch das Schah-Regime hat viele Intellektuelle aus privilegierten Schichten – wie Marjanes Großvater, ein geborener Prinz einer entmachteten Dynastie – dazu getrieben, gegen das Regime zu rebellieren. Viele haben dafür mit dem Leben bezahlt. Als die Revolution ausbricht, sind die Menschen voller Hoffnung: die politischen Gefangenen werden aus den Gefängnissen befreit, schließlich wird die verhasste Monarchie gestürzt.
Der Sturz der Monarchie führt jedoch nicht zur ersehnten Befreiung, sondern zum Aufstieg der Islamischen Republik und damit zu Wellen der Unterdrückung der Frauen, zu Festnahmen, Exekutionen und Flucht. Anoush, Marjanes Onkel, der gerade erst aus dem Gefängnis befreit worden ist, wird nur wenige Monate nach seiner Entlassung erneut verhaftet. Sein letzter Wunsch ist es, Marjane zu sehen. Am Tag vor seiner Hinrichtung besucht ihn das kleine Mädchen in seiner Gefängniszelle. Dort erzählt er ihr von seiner Überzeugung, dass sein Tod nicht umsonst sei und letztendlich das Proletariat siegen werde. Anoushs Hinrichtung wird zum Symbol der Niederlage der Revolution.
Marjane ist verstört und empört über die Ungerechtigkeit, und das macht sie wütend auf Gott. Immer wenn Marjane Konflikte durchlebt, unterhält sie sich mit Gott, der in ihrer Vorstellung als alter weißbärtiger Mann erscheint. Doch da er nur in ihrer Vorstellung existiert, ist er niemals wirklich hilfreich. Ihre Gespräche mit Gott präsentieren vielmehr das Schwanken zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten, den Widersprüchlichkeiten in ihrem Kopf. Später im Film erscheint Gott wieder, diesmal gemeinsam mit Karl Marx, eine der humorvollen Szenen, in der Marjane die Widersprüche des menschlichen Geistes reflektiert.
Marjane, die bereits als Kind unangepasst und rebellisch ist, entdeckt auf dem Schwarzmarkt westliche Pop- und Rockmusik von ABBA bis Iron Maiden. Deswegen kommt sie bald mit den Pasdaran, den islamischen SittenwächterInnen in Konflikt. Nicht immer ist es leicht, ihnen zu entkommen. So mutig Marjane war, als sie ihren Onkel ganz allein im Gefängnis besuchte, so ängstlich und sogar niederträchtig kann sie in anderen Momenten sein. Bedroht von den Revolutionsgarden denunziert sie einen Mann, um die eigene Haut zu retten. In solchen Momenten der Schwäche kommt ihre Großmutter ins Spiel. Die Großmutter, eine Frau, die jeden Morgen Jasminblüten in ihren BH steckt, um gut zu duften, spricht immer aus, was sie denkt. Sie ist eine einfache, aber lebenserfahrene und bewusste Frau, von der Marjane lernt, dass es im Leben vor allem darum geht, die Integrität zu bewahren. Weil man, wenn man seine Würde verliert, gar nichts mehr hat. Immer wenn Marjane Konflikte und Zweifel durchlebt – so auch in Wien, als sie bei einer Party ihre Identität verleugnet und sich als Französin ausgibt, erscheint ihr im Geist die Großmutter, um sie daran zu erinnern, ihren Prinzipien treu zu bleiben, und dass man als Mensch, selbst in den schwierigsten Situationen, eine Wahl hat.
Als der Krieg mit dem Irak ausbricht, werden Tausende junger Menschen auf das Schlachtfeld geschickt, Teheran wird bombardiert. Eine Filmszene zeigt, wie eine Rakete das Nachbarhaus zerstört, unter den Betonbrocken schaut die blasse Hand eines Mädchens hervor. Marjane ist sprachlos über die Grausamkeit und Absurdität der Ereignisse.
Aus Angst um ihre Tochter beschließen die Eltern schließlich schweren Herzens, ihre 14-jährige Tochter zu einer Tante nach Wien zu schicken. Doch die Tante in Wien behält Marjane nicht bei sich, sondern schickt sie in ein katholisches Internat mit strengen Regeln und Vorschriften. Auffällig ist hier die äußerliche Ähnlichkeit der Nonnen des Internats mit den islamischen Sittenwächtern im Iran. In Wien erfährt Marjane Rassismus, Einsamkeit und Heimweh, aber auch die Freuden der ersten Liebe und bittere Enttäuschung. Sie freundet sich mit den Außenseitern aus ihrer Klasse an, selbsternannten Rebellen, Nihilisten und Anarchisten. Weil sie selbst auf ihre Weise mit der Autorität in Konflikt stehen, fühlen sie sich von dem seltsamen Mädchen und ihrer ungewöhnlichen Geschichte angezogen. Marjane versucht, sich an ihre neuen Freunde anzupassen, doch eines Tages wird ihr klar, dass sich zwischen den Erfahrungen ihrer Freunde und ihren eigenen eine tiefe Kluft befindet. Auf ihre Argumente über die Sinnlosigkeit des Daseins erwidert Marjane empört: Sollte es sinnlos gewesen sein, dass mein Großvater zwei Drittel seines Lebens im Gefängnis verbracht hat? Sollte es umsonst gewesen sein, dass mein Onkel Anoush für seine Überzeugung sein Leben geopfert hat? Hier tritt zu Tage, dass es sich bei diesem Konflikt auch um eine globale Kluft handelt – um die Kluft zwischen Nord und Süd.
Rückkehr und erneute Emigration
In Wien macht Marjane ihre ersten Erfahrungen in der Liebe und wird betrogen. Sie fällt in eine tiefe Depression und ist nahe daran, ihrem Leben ein Ende setzen zu wollen. Nach vier Jahren Exil kehrt sie schließlich nach Teheran zurück, nachdem sie die letzten drei Monate in Wien als Obdachlose verbracht hatte. Doch im Iran findet sie sich in einer Gesellschaft wieder, die sich mit den Zwängen der neuen Machthaber zu arrangieren sucht, und im Privaten bemüht ist, ein normales, manchmal auch ausgelassenes Leben zu führen. Sie beginnt zu studieren und heiratet. Doch trotz aller Bemühungen, sich zu integrieren, fühlt sie sich im Iran als Fremde. So beschließt sie, nachdem sie sich hatte scheiden lassen, das Land zu verlassen, und zieht 1994 wieder nach Europa. Diesmal ist der Abschied ein endgültiger, sie ist nirgendwo mehr zu Hause…
Der Zeichentrickfilm Persepolis von Marjane Satrapi und Vincent Patronnaud basiert auf den Bänden von Satrapis gleichnamiger Comic-Serie, in der die Iranerin, die niemals Comic-Zeichnerin werden wollte, ihre Erfahrungen mit Unterdrückung und Ungerechtigkeit, mit Einsamkeit und dem Leben in der Fremde verarbeitete. Die ausdruckstarken Schwarzweißbilder wurden nicht mit dem Computer hergestellt, sondern alle mit der Hand gezeichnet. Den glaubwürdigen und lebendigen Charakteren gelingt es sogleich, die Zuschauer in ihren Bann zu ziehen. Mit diesem Film eröffnet Marjane Satrapi mit Ernsthaftigkeit, aber auch jeder Menge Selbstironie und Humor, dem Zuschauer in Europa, der oft eine einseitige Vorstellung vom Iran hat, eine differenzierte Sichtweise auf die Geschichte dieses Landes und seiner BewohnerInnen.
In einem Interview sagt Satrapi über ihre Filmheldin: "Ich finde, sie schlägt sich gut. Worauf ich sehr stolz bin – jetzt vermische ich einmal die Figur und mich selbst –, denn ich habe viele Menschen gesehen, die voller Hass waren. Oder extrem zynisch wurden. Wenn sie intelligent sind, können sie sehr schnell zynisch werden. Das Leben kann so mies sein. Ich meine, es ist so verdammt kurz und voller Scheiße, es wäre kein Leben, wenn man nicht mehr lächeln könnte. Menschen erfahren Härte, und sie werden selber hart. Ich bin glücklich, dass ich nicht hart geworden bin. Ich bin stolz, dass ich nicht gewalttätig geworden bin. Ich glaube nicht an Blut für Blut. Es gibt Dinge, die ich verurteile – aber ich bekämpfe sie nicht mit den gleichen Waffen. Ich habe immer noch Sterne in meinen Augen."
erschienen in: Talktogether Nr. 23/2008
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