Theater spielen um zu verändern
von Birgit Fritz
"Das Theater der Unterdrückten geht von zwei Grundsätzen aus: Der Zuschauer, passives Wesen und Objekt, soll zum Protagonisten der Handlung, zum Subjekt werden. Das Theater soll sich nicht nur mit der Vergangenheit beschäftigen, sondern ebenso mit der Zukunft. Schluss mit einem Theater, das die Realität nur interpretiert; es ist an der Zeit, sie zu verändern." [Augusto Boal]
Von 21. bis 26. Juni fand in Istrien das PulaForum 2008, ein Festival für angewandtes Theater statt. Mit einem Einführungsworkshop von Augusto Boal für Neue in der Szene, einem anschließenden „Ästhetik-der-Unterdrückten“-Workshop für bereits erfahrene PraktikerInnen und weiteren Workshops von Adrian Jackson, dem Leiter der Cardboard Citizens und langjährigem Übersetzer Boals, Muriel Naessans, einer Mitarbeiterin der ersten Stunde aus Paris, Sanjoy Ganguly (Indien), Chen Alon (Israel), Jordi Forcadas (Kolumbien) und Pascal Guyot (Frankreich) war es eine hochkarätige Besetzung, die der jungen internationalen TdU-Community, die u.a. aus Italien, Frankreich, Spanien, Österreich, Deutschland, Serbien, Bosnien, Kroatien, Kanada, Nordirland, Rumänien und der Türkei anreiste, ausgesprochen niedrigschwellig Vernetzung, Training und Auftritte bot. Der für das istrianische Nationaltheater als Theaterpädagoge tätige Aleksandar Bancic zeichnete sich als exzellenter Organisator aus.
Der mittlerweile 77-jährige Augusto Boal, der im Beisein seines Sohnes Julian das PulaForum eröffnete, ist heuer, 2008, für den Friedensnobelpreis nominiert. Seine unter dem Einfluss von Paulo Freire in Brasilien entstandenen Methoden, die er bereits seit den siebziger Jahren weltweit anwendet und unter vielen Einflüssen menschlicher Realitäten kontinuierlich international weiterentwickelt, zeugen von Optimismus, unbändiger Kreativität, einem nicht zu versiegen scheinenden Humanismus und einer Lebendigkeit, welche nach wie vor bzw. mehr denn je Menschen überall auf der Welt anspricht und ihnen widerständige Schaffensräume eröffnen kann. Davon zeugen nicht nur Jana Sanskriti aus Indien, die mit 60 autonomen Theatergruppen, die weltweit am meisten beeindruckende Theaterbewegung nach Boal ist, sondern auch die vielen unabhängigen aber gut vernetzten Forum-Theater-Praktizierenden, die zu den regelmäßig stattfindenden Festivals reisen.
„It is therapeutic but it is not therapy”, sagt Adrian Jackson in seinem Regenbogen-der-Wünsche-Workshop und “You can’t make an omlett without breaking eggs“. Das Theater der Unterdrückten mit seinen introspektiven Techniken, die Boal gemeinsam mit seiner Frau Cecilia Thumin im Exil in Europa entwickelte, ist eine Art „Akkupunktur der Gesellschaft“, es erzählt oder behandelt nicht die Geschichten einzelner Individuen sondern tritt die Reise an vom Mikrokosmos des „Privaten“ zum Makrokosmos der Gesellschaft, es will Themen anschneiden, aufreißen, die Aufmerksamkeit darauf lenken. „Vor wessen Tränen fürchten wir uns?“ fragt Jackson, „wir tun unser Bestes und schauen uns die Dinge an, das ist es, wie ich leben will, ich will hinschauen und die schmerzhafte Seite des Lebens nicht negieren“. Auf die Frage, ob denn das Theater der Unterdrückten Veränderung bewirken kann, ob es sich lohnt, ob es effektiv ist, meint er: „Wir müssen unser eigenes Maß für Veränderung kreieren, wir müssen das auch vermitteln, auch den Sponsoren. Das Leuchten in den Augen der Menschen, die Federung in ihrem Schritt, das Lächeln in ihrem Gesicht, das sind Veränderungen, oder nicht? Es ist eine mächtige Art von Arbeit, der eine große Liebe zur Schönheit zugrunde liegt, eine Schönheit der Kraft zur Veränderung; des menschlichen Strebens, sich zu verwirklichen.“
Die Einsatzgebiete des „Theaters der Unterdrückten“ sind so vielseitig wie die Gegebenheiten der Länder in denen es praktiziert wird, und so unterschiedlich wie die Menschen, die es für sich und ihre Anliegen nutzen. Chen Alon, Mitgründer von Combatants for Peace arbeitet in Israel und Palästina gemeinsam mit ehemaligen israelischen und palästinensischen SoldatInnen für ein Ende der Konflikte, Muriel Naessans verwendet das „Theater der Unterdrückten“ in ihrer feministischen Arbeit, Pascal Guyot bearbeitet ökologische Themen, Julian Boal in Frankreich wendet sich gemeinsam mit seiner Gruppe GTO Paris gegen kapitalistische Ausbeutung von ArbeiterInnen.
Ein beeindruckendes Erlebnis war unter vielen der Auftritt von Jana Sanskriti aus Kolkata (Calcutta). 2006 hat sich in Indien die Indian Federation of the Theatre of the Oppressed konstituiert, die vernetzt mit vielen BürgerInneninitiativen an die fünf Millionen Menschen erreicht und durch ihr Lobbying für die Rechte der unterdrückten Mehrheit der Bevölkerung eintritt. Die Theaterbewegung Jana Sanskriti (übersetzt „people’s culture“) besteht und wächst seit 1985. Ihre Themen sind familiäre Gewalt, Vergewaltigung am Arbeitsplatz, Korruption in den Gewerkschaften Mitgiftsforderungen und Unterdrückung der Frauen, Alkoholismus, das Kastenwesen und Korruption in den Parteien. Sie fördern den Aufbau von alternativen Krankenhäusern, gründen Schulen und leben zum Teil in Kollektiven.
Die Stücke von Jana Sanskriti, die normalerweise pro Auftritt immer nur ein Thema behandeln, werden meistens im öffentlichen Raum, auf Dorfplätzen aufgeführt, wo am meisten Menschen erreicht werden können. Die Themen sind immer solche, die tatsächlich passiert sind. Bis zur Verbesserung einer Situation spielt Jana Sanskriti die Stücke oft mehrere hundert Male. Für den Auftritt in Europa wurde eine Szenencollage erarbeitet, damit das europäische Publikum sich aussuchen kann, mit welcher Situation es sich konfrontieren will. In Pula hatten wir zum ersten Mal die Gelegenheit, mit Sima Ganguly über ihre Eindrücke in Europa zu sprechen. Sie zeigte sich besorgt.
„Ich weiß nicht, ob es stimmt“, meint sie, „aber mir scheint es, als ob sich die Frauen in Europa nur eine äußere Freiheit erstanden haben, während die Gesellschaft im Inneren weiterhin nach denselben patriarchalischen Regeln funktioniert. Frauen fahren mit dem Auto, gehen in die Arbeit, haben öffentliche Funktionen. Aber wie kann es sein, dass Frauen von ihren Männern ermordet werden? Um wirkliche Veränderung zu erwirken, braucht es ein Umdenken, es braucht Liebe, es braucht eine innere Revolution. Als mein Sohn Sujoy geboren wurde, da wusste er schon ganz am Anfang, dass es eine Welt außerhalb von ihm gab. Sujoy war inmitten vom Leben, es gab viel Zuwendung, zu ihm, aber auch zu allen anderen. Das ist es, was uns menschlich macht. Wie kann jemand sagen, dein Problem ist nicht mein Problem, wie es hier in Europa oft geschieht? Schon als Kind in Indien lernt man, dass Menschen für einander da sein sollen. Die Menschen müssen einen Dialog beginnen, ihr Kopf und ihr Herz müssen sich verbinden. Auch in unserer Theatergemeinschaft in Indien haben wir eine Menge Probleme, aber wir haben auch eine politische Identität. Mein Traum ist, dass wir eines Tages alle verbunden sind, dass sich niemand mehr isoliert und alleingelassen fühlt. Das Theater der Unterdrückten ist eine große Familie. Eines Tages wird jeder und jede sein und ihr eigenes Selbst entdecken und alle Schätze, die wir in uns tragen. Wir werden miteinander im Dialog stehen. Das Theater der Unterdrückten hat mich intellektuell und spirituell wachsen lassen, mir Raum gegeben zu reden und zu lernen. Wir sind nicht so verschieden von einander, in den verschiedenen Weltregionen. Wir leben alle unter einem Himmel. Wann wird endlich diese Trennung aufhören?“ Bis dahin gibt es noch viel zu tun.
Jedoch nächstes Jahr im Oktober, im Rahmen des Weltforumtheaterfestivals 2009 mit Hauptveranstaltungsort Graz, aber auch weiteren Veranstaltungen in den Bundesländern, werden wir Gelegenheit haben, das Gespräch mit Sima Ganguly fortzuführen. Die Volkstheaterbewegung Jana Sanskriti wird mit ihrem Kernteam bei diesem Anlass auch in Kärnten zu Gast sein. Das TdU-Wien, das ein Unterstützungsnetzwerk für Jana Sanskriti aufbaut, wird organisatorisch mit der Einladung betraut sein, auf ihrer Website finden sich weitere Informationen. Beim Festival 2009 wird es auch einen Frauenvernetzungsschwerpunkt für PraktikerInnen des „Theaters der Unterdrückten“ geben.
Unter der Website des International Theatre of the Oppressed kann man die Grundsatzerklärung des Theaters der Unterdrückten in vielen Sprachen dieser Welt lesen und im Archiv finden sich Anwendungsbeispiele und Newsletters, sowie Kurzfilme mit Statements von AnwenderInnen. Das Buch ‚Das Theater der Unterdrückten’, Spiele für SchauspielerInnen und Nicht-SchauspielerInnen, ist eine gute deutsche Einführung in die Arbeit Augusto Boals.
Das Theater der Unterdrückten wurde von Augusto Boal in den sechziger und siebziger Jahren als Reaktion auf die politische Unterdrückung in Lateinamerika entwickelt. Über die Jahrzehnte entstanden die verschiedenen Techniken Zeitungstheater, Unsichtbares Theater, Forumtheater und das legislative Theater, die jedoch immer mit direkten Aktionen (Kampagnen, Protesten, Gründung von Interessensgemeinschaften etc.) Hand in Hand gehen. Die bekannteste dieser Theaterformen ist das Forumtheater, das auch in Europa weit verbreitet ist. Gemeinsam mit von den Themen betroffenen Menschen werden Theaterstücke erarbeitet, die Probleme aufzeigen, ohne jedoch Lösungen anzubieten. Die Aufführung der Stücke ist eine interaktive Suche der SchauspielerInnen gemeinsam mit den ZuschauerInnen (Boal nennt sie Zu-SpielerInnen) an deren Ende oft ein Spektrum von Handlungsmöglichkeiten steht. Der Ablauf funktioniert so, dass die aufgeführten Stücke im Moment der zu eskalieren drohenden Krise enden und dann die PublikumspielerInnen die Möglichkeit haben, selbst auf die Bühne zu kommen und in das erneut gespielte Stück als AkteurInnen einzusteigen und den Handlungsausgang von innen heraus zu verändern zu versuchen. Dieser Vorgang wird so oft wiederholt, wie Ideen aus dem Publikum kommen. Die Moderation dieses Prozesses macht ein sogenannter Joker / eine Jokerin.
Theater der Unterdrückten Wien Schlachthausgasse 36/2/20, 1030 Wien, Tel: 0699-1820 5926 www.tdu-wien.at, www.arge-forumtheater.at; www.janasanskriti.org
Fotos von Robert Klement: Jana Sanskriti beim PulaForum 2008
erschienen in: Talktogether Nr. 25/2008
|