Interview mit Marco Feingold PDF Drucken E-Mail

Interview mit Hofrat Marco Feingold,

Präsident der israelitischen Kultusgemeinde Salzburg

„Ich denke, wir können einen Rechtsruck nur vermeiden, indem wir unsere Politiker belehren. Es wäre gut, wenn sie öfter ausländische Zeitungen lesen würden, damit sie erfahren, wie man über uns denkt. Die Politiker müssten aufgeklärt werden und ihnen müsste der Spiegel vors Gesicht gehalten werden, denn man hat den Eindruck, dass sie nicht wissen, was sie tun.“

Talk Together: Wie haben Sie selbst den 9. November 1938 erlebt?

Marco Feingold: Den 9. November 1938, die so genannte „Kristallnacht“, habe ich in Wien erlebt. Damals ist es in Wien sehr wüst zugegangen. Überall waren grölende Menschen auf der Straße, die sich über die Ausschreitungen gefreut haben. Geschäfte wurden geplündert und Synagogen angezündet. Ich wohnte damals auf einer Anhöhe in der Nähe der Reichsbrücke. Von dort aus konnte man die Rauchsäulen sehen, die sich über den brennenden Synagogen im 1. Bezirk bildeten.
Doch schon vorher hat es in Wien schon wüste illegale Arisierungen gegeben, die haben gleich nach dem Einmarsch im März/April des Jahres 1938 begonnen. Wofür man in Deutschland fünf Jahre gebraucht hatte, das schaffte man in Wien in fünf Monaten, sie überholten die Deutschen sogar. Es wurde danach sogar zu einem NS-Spruch: „Machen wir es wie die Wiener!“ Das war auf die gute Zusammenarbeit der Wiener Unterwelt mit den Nationalsozialisten zurück zu führen. Die Kriminellen tauchten meist in Begleitung eines Uniformierten in Wohnungen und Geschäften auf, deshalb traute sich niemand, sich ihnen in den Weg zu stellen. Dort raubten sie dann alles, was sie finden konnten: Geld, Schmuck, Sparbücher… Teilweise sind nicht nur die Namen der Bestohlenen, sondern auch der Täter wohlbekannt. Dennoch wurden die Täter nach dem Krieg nicht zur Verantwortung gezogen. Niemand wollte dabei gewesen sein, niemand wollte etwas gesehen haben.

Talk Together: Was passierte am 9. November in Salzburg?

Marco Feingold: In Salzburg geschah folgendes. Laut einem Bericht des SD kam es in der Nacht des 10. November zu Zerstörungen und Plünderungen. 30-50 Personen, fast sämtliche Angehörige der SA, zerstörten Geschäfte und die Inneneinrichtung der Synagoge, von einem Brand sah man ab, weil man fürchtete, dass sich das Feuer auf die umliegenden Häuser ausbreiten würde. 60 jüdische Männer wurden verhaftet und über München nach Dachau gebracht - in Schutzhaft, wie man sagte. Einer davon ist in München zu Tode gekommen - angeblich Selbstmord, was aber sehr unwahrscheinlich ist, denn es handelte sich um einen jungen, gesunden und kräftigen Mann. Es ist wohl eher zu vermuten, dass er umgebracht wurde, weil er sich gewehrt hatte.

Talk Together: Wer waren diese Menschen?

Marco Feingold: Diese Menschen hatten die unterschiedlichsten Berufe, darunter waren Rechtsanwälte, Ärzte, Kellner, Rentner, Geschäftsleute, Künstler… Nachdem im ganzen Land Salzburg nur 286 jüdische Menschen lebten, kann man sich vorstellen, dass es fast alle jüdischen Männer traf und die meisten anderen Frauen und Kinder waren. Die Listen der Personen, die verhaftet werden sollten, waren schon lange vorher zusammengestellt worden. Man muss wissen, dass es eine sog. 5. Kolonne in allen europäischen Ländern gab, die schon vor dem Einmarsch die Grundlage geschaffen hatte. Sie haben bereits Listen von der jüdischen Bevölkerung und allen Personen, die man beseitigen wollte, angefertigt, als die Deutschen dann kamen, war schon alles vorbereitet.
Die „Kristallnacht“, wie sie von den Nazis zynisch genannt wurde, hat den Nationalsozialisten nicht nur den Weg für die Verfolgung und Ermordung der jüdischen Bevölkerung geebnet, sondern dem Deutschen Staat außerdem auch sehr viel Geld eingebracht, das er für seine Kriegspläne dringend benötigte. Die jüdische Bevölkerung wurde verurteilt, für die angerichteten Schäden eine Milliarde Mark Schadenersatz zu bezahlen, und weil das Geld schnell bezahlt werden konnte, verlangte man noch einen Nachschlag. Außerdem kassierten sie die Versicherungssummen für die zerstörten Geschäfte und Synagogen. 
Als Hitler in Österreich einmarschierte, war der Großteil der Bevölkerung begeistert. Aus diesem Grund wäre es Selbstmord gewesen, an Widerstand zu denken. Aber auch die anderen europäischen Staaten haben tatenlos zugesehen. Interessanter Weise hat nur ein einziges Land gegen den Einmarsch protestiert, und das war Mexiko. Die Engländer haben versucht, sich mit Hitler zu arrangieren und haben mit ihm einen Friedensvertrag abgeschlossen. Sogar Stalin hat mit Hitler einen Nichtangriffspakt geschlossen, obwohl Hitler schon längst seinen Plan für den Einmarsch in Russland vorbereitet hatte. Ich denke, dass sie ihm geglaubt hatten, war ein Notglaube, weil sie nicht für einen Krieg bereit waren.

Talk Together: Sehen sie Parallelen zwischen dem Rechtsruck heute und der Entwicklung damals?

Marco Feingold: Wie kann es dazu kommen, dass jemand mit eindeutig rechtsradikaler Vergangenheit zum 3. Nationalratspräsident gewählt wird? Das kann nicht ohne die Zustimmung der anderen Parteien passieren. Damit wird klar, dass auch die anderen Parteien verseucht sind. Wenn sie sich zwar immer auf die Fahne schreiben, wir sind Europäer, so hat der Großteil von ihnen das Herz auf der rechten Seite. Und schließlich hat ein Drittel der Wähler rechts gewählt. Das Ausland schaut auf uns, zu Recht, denn schon einmal ist es hier schon explodiert. Die Österreicher sind heute so, wie sie damals waren, nämlich schleimig. Sie sind gegen alles Fremde. Doch wer sind die Österreicher überhaupt? In der Monarchie bestand die Bevölkerung aus Menschen mit 28 verschiedenen Sprachen. Man muss nur das Telefonbuch von Wien in die Hand nehmen.
In den österreichischen Medien davon nicht viel davon berichtet, wie das Ausland diese Entwicklung sieht. Bei uns wird immer versucht, das zu verharmlosen. Diese Verleugnung oder Verharmlosung ist typisch für die österreichische Mentalität. Auch Otto von Habsburg, der Enkel des Kaisers, lieferte heuer ein Beispiel davon. Als er im März dieses Jahres anlässlich des Jahrestages von Hitlers Einmarsch von der ÖVP zu einer Rede ins Parlament eingeladen worden war, versuchte die Verantwortung der ÖsterreicherInnen zu bagatellisieren. Mit seiner Rede: „"Wenn irgendwo ein großer Rummel ist, dann kommen viele und jubeln. Wenn man von den 60.000 am Heldenplatz spricht - bei jedem Fußballmatch sind auch so viele da!" hat er sich zu einer Witzfigur gemacht. Wo jeder weiß, dass man damals am Heldenplatz keine Stecknadel fallen lassen können hätte, weil so viele Leute dort waren, es waren um die 300.000, so viele Menschen haben in keinem Fußballstadion der Welt Platz!

Talk Together: Was ist in Salzburg in diesem Gedenkjahr geplant?

Marco Feingold: Am 3. November findet um 14 Uhr gemeinsam mit dem Bundesheer ein Totengedenken auf dem jüdischen Friedhof in der Uferstraße 47 in Aigen statt, wo den jüdischen Soldaten des 1. Weltkrieges und den Opfern des 2. Weltkrieges gedacht wird. Dieses Totengedenken findet seit sieben Jahren jedes Jahr zu Allerheiligen statt. Vorher haben wir immer eine Gegendemonstration auf dem Kommunalfriedhof statt, wo die faschistische »Kameradschaft IV«, die maßgeblich aus Veteranen der Waffen-SS besteht, dort am 1. November, dem Feiertag Allerheiligen, ihre gefallenen »Kameraden« ehrt. Wir haben uns aber gedacht, dass diese Leute durch unsere Gegendemonstration noch mehr Aufmerksamkeit von den Medien bekommen, und haben uns deshalb entschlossen, stattdessen diese Veranstaltung auf dem jüdischen Friedhof zu initiieren.
I
n der Rudolf Steiner Schule in Salzburg wird am 8. und am 9. November die Kammeroper „Der Kaiser von Atlantis“ von Viktor Ullmann aufgeführt, der 1944 in Auschwitz ermordet wurde.Außerdem findet auch heuer, wie jedes Jahr, am 9. November um 18 Uhr auf dem Alten Markt eine Erinnerung an die „Kristallnacht“ statt. Außerdem wird die Synagoge in der Lasserstraße während der ganzen Nacht vom 9. auf den 10. November beleuchtet sein. Viele Leute leben seit 30 oder 40 Jahren hier in der Umgebung, wissen aber gar nicht, dass es hier eine Synagoge gibt.

Talk Together: Welche Schritte sollte man tun, um den Vormarsch der Rechten zu stoppen?

Marco Feingold: Ich denke, wir können einen Rechtsruck nur vermeiden, indem wir unsere Politiker belehren. Wenn die ins Ausland kommen, treffen sie ja nur ihre Kollegen, und werden von denen freundlich empfangen. Ich dagegen höre sehr wohl, wie man auf uns schimpft. Es wäre gut, wenn sie öfter ausländische Zeitungen lesen würden, damit sie erfahren, wie man über uns denkt. Die Politiker müssten aufgeklärt werden und ihnen müsste der Spiegel vors Gesicht gehalten werden, denn man hat den Eindruck, dass sie nicht wissen, was sie tun.


Marko M. Feingold wurde am 28. Mai 1913 in Neusohl, damals K. u. K. Österreich-Ungarische Monarchie, heu­te Slowakei, geboren. Er besuchte in Wien die Volks- und Unterrealschule, wurde kaufmännischer Lehrling und legte die Kaufmannsgehilfen­prüfung ab. Danach war Feingold mehrere Jahre als Handel­sangestellter und Reisender im In- und Ausland tätig.
Im März 1938 nach dem "Anschluss" musste er Österreich verlassen, ging in die Tschechoslowakei und wurde am 6. Mai 1939 in Prag von der Gestapo verhaftet. Danach kam er in mehrere Konzentrationslager. Am 11. April 1945 wurde er im KZ Buchenwald von den Amerikanern befreit. Im Mai 1945 kehrte er nach Österreich zurück, seitdem lebt er in Salzburg. Einige Tage nach seiner Ankunft übernahm er die Leitung der Küche für politisch Verfolgte, bald danach half er jüdischen Vertriebenen bei der Flucht über die Alpen.

erschienen in: Talktogether Nr. 26/2008