Albert Lichtblau zum Internationalen Tag gegen Faschismus und Antisemitismus PDF Drucken E-Mail

Gespräch mit Albert Lichtblau

Historiker und Professor an der Universität Salzburg

 „…Die Politik müsste in die Verantwortung genommen werden. … Der Rassismus wird öffentlich kommuniziert. Rassismus ist heute Teil der Unterhaltungskultur. Meine Meinung ist: Es darf keine Toleranz gegen die Intoleranz geben.“

Talk Together: Heuer jährt sich der Novemberpogrom 1938 zum 70. Mal. Was können Sie uns über dieses Ereignis erzählen?

Albert Lichtblau: Für mich als Historiker stellt dieses Ereignis einen Schlüsselmoment in der Entwicklung des Nationalsozialismus dar. Nach Unterdrückung und Diskriminierung war die öffentlich ausgeübte Gewalt ein weiterer Bruch, ein weiterer Schritt der Polasierung, der den Weg für den Genozid ebnete. Die Genozidforschung kennt mehrere Stufen im Kontinuum der Gewalt, bis es zur Eskalation kommt. Obwohl als spontaner Ausbruch dargestellt, war dieser Pogrom - wie auch jeder wusste - von oben inszeniert und gesteuert. Was hier aber besonders relevant und erschütternd ist, ist die Tatsache, dass sich so wenige dagegen aufgelehnt hatten. Im Gegenteil: viele Schaulustige haben zugesehen und manche sogar gejubelt und wurden damit zu aktiven sog. „bystanders“. Dieses dramatische Ereignis stellte das Signal an die Machthaber dar, dass die Mehrheit der Menschen die Übergriffe gegen die jüdische Bevölkerung schweigend hinnehmen oder verdrängen würde. Des Weiteren zeigte es aber auch, dass die jüdische Bevölkerung bereits so isoliert war, dass spontane emotionale Reaktionen wie Hilfe und Solidarität nicht mehr möglich waren.

Talk Together: Der 9. November wurde zum Internationalen Tag gegen Faschismus und Antisemitismus erklärt. Trotzdem wird diesem Tag so wenig Aufmerksamkeit geschenkt. Warum?

Albert Lichtblau: Gute Frage. Ich denke, dass viele überhaupt nicht wissen, dass es diesen Gedenktag gibt. Das müsste durch die Politik und die Medien besser kommuniziert werden, was aber nicht der Fall ist. Es ist das Schicksal von vielen Gedenktage und Mahnmalen, dass sie nicht funktionieren. Hinzu kommt, dass es verschiedene Gedenktage gibt, die sich gegenseitig konkurrenzieren. Die Gedenktage sind in der Bevölkerung nicht lebendig, weil so wenig getan wird - und weil so wenig getan wird kann auch kein Bewusstsein entstehen. Der Internationalen Tag gegen Faschismus und Antisemitismus geht aber über Bedeutung eines Gedenktages an ein Ereignis in der Vergangenheit hinaus, denn er beinhaltet eine konkrete politische Forderung, nämlich die, sich gegen Faschismus und Antisemitismus auszusprechen.

Talk Together: Wie sollte dieser Gedenktag begangen werden? Zum Feiern ist der Anlass doch zu traurig.

Albert Lichtblau: Das Leben wäre nicht zu ertragen, wenn man nicht überall auch positive Inhalte hineinbringen könnte, dann würde man die Hoffnung verlieren. Und es gibt ja einen Grund zu feiern, nämlich die Freude darüber, überlebt zu haben. Ich erinnere mich an ein Erlebnis, als ich in Mauthausen einen Film mit einem KZ-Überlebenden aus Polen gedreht habe. In der Szene war auch ein russischer Chor dabei, der verschiedene russische Volkslieder gesungen hat. Zu den Liedern haben Chormitglieder dann gemeinsam mit dem KZ-Überlebenden auf der Todesstiege getanzt. Das war für mich sehr stimmig.

Talk Together: In Österreich wurden die Verbrechen der NS-Zeit lange unter den Teppich gekehrt – und werden es zum Teil auch noch heute. Viele sagen: „Ich habe damals nicht gelebt, deshalb habe ich keine persönliche Schuld“. Welche Verantwortung tragen wir als ÖsterreicherInnen?

Albert Lichtblau: Die Herrschaft des Nationalsozialismus fand zur Lebenszeit unserer Eltern und Großeltern in diesem Land. Also ist diese Episode der Geschichte, auch wenn wir sie nicht selbst erlebt haben, trotzdem sehr nah. Allerdings ist die Schuldfrage eine sehr heikle Frage. Und eine sehr katholische. Hier spiegelt sich die katholische Kultur wider, die Sehnsucht nicht schuldig zu sein. Vranitzky hat als Erster symbolisch die Schuld öffentlich bekannt, das war eine wichtige Geste, denn bis dahin war die These von Österreich als Opfer verbreitet. Irgendwie bin ich aber auch froh, nicht mit einem Schuldgefühl ausgewachsen zu sein, ich glaube, damit ist sehr schwer umzugehen. Aber natürlich hat Österreich die Verantwortung für die Geschichte zu übernehmen, auch wenn dies oft sehr unangenehm ist, weil man damit auch in Familiengeschichten eindringt. Man darf die Vergangenheit nicht in eine historische Ferne rücken, sondern es gilt, Verantwortung zu übernehmen und Solidarität zu zeigen, mit denjenigen, die heute bedroht sind.

Talk Together: Welche Lehren können und müssen wir aus den Ereignissen am 9./10. November 1938 heute ziehen?

Albert Lichtblau: Es ist immer schwierig, aus der Geschichte Lehren zu ziehen… Eine Lehre, die man daraus ziehen könnte, ist, wie schnell man zu einem „bystander“ werden kann. Wenn man das Gefühl hat, nichts dagegen tun zu können, ist man leicht gefangen in einem Schuldkomplex. Ich konnte das an den Reaktionen von US-Amerikanern in Bezug auf den Irak-Krieg beobachten. Aber dass man nichts dagegen tun kann, stimmt auch nicht. Zumindest wer das Glück hat, in einer Demokratie zu leben, hat die Möglichkeit etwas zu tun, er oder sie haben zumindest die Möglichkeit, zu protestieren und politisch aktiv zu sein. Es ist alarmierend, wie schnell es gehen kann, wie leicht eine Gesellschaft kippen kann. Deshalb sind Ruhe und Passivität gefährlich, wir müssen uns sensibilisieren für die Alarmzeichen, um die Gefahr rechtzeitig zu erkennen.

Talk Together: Eine kurze Zwischenfrage: Wie sehen sie die Demokratie, in der wir leben? Ist unsere Gesellschaft wirklich demokratisch?

Albert Lichtblau: Natürlich gibt es da noch sehr vieles zu verbessern. Unsere Gesellschaft leistet es sich, bestimmte Teile der Bevölkerung durch die Rechtslage zu diskriminieren: ZuwanderInnen, Menschen, die hier leben, arbeiten und Steuern bezahlen, werden aufgrund der Gesetze Bürgerrechte einfach verweigert, wie das Wahlrecht.

Talk Together: Die Welt wird zunehmend zu einem „globalen Dorf“, auf der anderen Seite ist ein Ansteigen von rassistischen und reaktionären Bewegungen zu verzeichnen. Denken Sie, dass eine Situation wie 1938 wieder zurückkehren könnte?

Albert Lichtblau: Erstens einmal: In der Geschichte gibt es keine Wiederholungen. Zweiten: Was passiert ist, kann aber natürlich wieder passieren, wenn auch auf eine andere Weise. Überall gibt es rechte Tendenzen und keine Gesellschaft ist von der Gefahr einer Eskalation gefeit, wenn verschiedene Umstände zusammentreffen. Man erinnere sich nur an Srebrenica. Bis heute sind die Konflikte in EX-Jugoslawien nicht gelöst. 1938 trafen allerdings bestimmte Voraussetzungen zusammen, die den Aufstieg des Nationalsozialismus ermöglichten, wie der latente Antisemitismus, die Wirtschaftslage und die Erfahrung des Ersten Weltkrieges. Heute aber, denke ich, sind die meisten Menschen in Europa aufgrund der negativen Erfahrungen durch den Zweiten Weltkrieg der Gewalt doch weitgehend abgeneigt .

Talk Together: Viele Menschen sind der Meinung, dass der Nahostkonflikt ein Kernproblem der Welt sei. Was sagen Sie dazu und gibt es Ihrer Meinung nach eine Lösung?

Albert Lichtblau: Das gehört nicht zu meinen Spezialgebieten, deshalb kann ich nur das ausdrücken, was ich als kritischer Mensch denke. Aber wer ist schon kompetent, über diesen Konflikt zu sprechen? Was ich mich frage, ist, warum ausgerechnet dieser Konflikt ein Kernproblem darstellt, wo dieses Land doch so klein ist. Es gibt so viele ungelöste Probleme auf der Welt, warum also sollte gerade dieser Konflikt ein zentrales Problem für den Weltfrieden darstellen und nicht beispielsweise das Kurdenproblem? Das macht den Konflikt für mich verdächtig. Ich denke, dass dieser Konflikt instrumentalisiert wird. Weil er so viele unterschiedliche Aspekte beinhaltet wie den „Kalten Krieg“, den arabischen Raum, den Kolonialismus und natürlich den Holocaust, bietet sich dieser Konflikt sich für eine Funktionalisierung geradezu an. Hinzu kommt, dass Jerusalem in der Geschichte immer sehr umkämpft war, man könnte die Stadt als Hauptstadt des religiösen Wahns bezeichnen. Dass sich der Konflikt nach Auslösung des „Kalten Kriegs“ in einen sog. „Kampf der Kulturen“ verlagert hat, halte ich für sehr gefährlich.

Es gibt in der israelischen Gesellschaft sehr unterschiedliche Positionen. Es gibt zahlreiche Menschen in Israel, die an Frieden und Verständigung interessiert sind, wenn sie auch nicht das Sagen haben. Ich persönlich wünsche mir, dass überhaupt niemand umgebracht werden muss, deshalb kann ich nur dafür eintreten, diejenigen Kräfte zu unterstützen, die ein ehrliches Interesse an einem Ausweg aus der Spirale der Gewalt suchen. Beide Seiten müssen bereit sein, einander anzuhören und das Leid der Anderen zu erkennen. Aber, es gibt ja genug Leute, die sich bemühen, nur haben sie leider wenig Einfluss und deshalb ist ihnen der Erfolg versagt geblieben.

Talk Together: Welche Rolle sollten wir als ÖsterreicherInnen/EuropäerInnen in diesem Konflikt spielen?

Albert Lichtblau: Als Österreicher kann mir der Konflikt nicht fremd oder fern sein, denn ich muss mir immer vor Augen halten, dass sich bei Gründung des Staates Israel die Bevölkerung zur Hälfte aus Überlebenden des Holocaust zusammensetzte, unter ihnen auch viele, die aus Österreich geflohen waren. Die Gefahr, dass sich bei einer Kritik an Israel Antisemitismus verbirgt, ist nicht zu verleugnen.

Talk Together: Sind Rassismus und faschistisch-reaktionäre Bewegungen zu stoppen?

Albert Lichtblau: Da bin ich eher pessimistisch, derzeit sind sie Realität. Die Politik müsste in die Verantwortung genommen werden. Es hat mich entsetzt, dass sogar die ÖVP mit der Parole „es reicht“ im Wahlkampf auf diese Linie aufgesprungen ist. Wie kann man von jemanden ein Deutschkurs verlangt werden, der oder die gerade verfolgt und auf der Flucht ist? Der Rassismus wird öffentlich kommuniziert. Rassismus ist heute Teil der Unterhaltungskultur. Meine Meinung ist: Es darf keine Toleranz gegen die Intoleranz geben. Wie das juristisch durchzusetzen ist, ist wieder eine andere Frage.

Talk Together: Vielen Dank für das Gespräch!

erschienen in: Talktogether Nr. 26/2008