Gespräch mit Christian Zeller
Professor für Wirtschaftsgeographie an der Universität Salzburg
„Die Krise hat uns in die Situation gebracht, dass die politischen Konzepte, die uns in den letzten 20-30 Jahren als notwendig dargestellt wurden, ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, und das ist auf jeden Fall positiv. Aber es ist natürlich nicht so, dass damit automatisch klar würde, mit welchen Konzepten man reagieren soll, da ist noch eine enorme Arbeit zu leisten. Die Krise bietet Chancen und gibt neuen Spielraum, ob diese Arbeit in Angriff genommen wird, ist die entscheidende Frage.“
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Talk Together: Wir stehen einer Finanz- und Wirtschaftskrise gegenüber, deren Dauer und Auswirkungen noch nicht absehbar sind. Oft wird gesagt, Profitgier und die fehlende staatliche Kontrolle des Finanzkapitals seien die Ursache der Krise. Wie ist Ihre Sicht?
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Christian Zeller: Ich denke, das, was sich jetzt seit Anfang 2008 zeigt, zuerst in den USA und Großbritannien, aber auch bei uns in Europa und mittlerweile auf der ganzen Welt, ist Ausdruck einer viel tiefer greifenden wirtschaftlichen Krise als nur Ausdruck einer Finanzkrise. Man könnte sogar – gewissermaßen zugespitzt – sagen, die Aufblähung des Finanzbereichs in den letzten 20 Jahren hat dazu beigetragen, Krisen hinauszuzögern, die ohnehin schon bevor standen. Beispiel: Als 2000/2001 der New Economy-Boom zu Ende ging, floss sehr viel Geld – und das war auch politisch erwünscht – in den Hypothekensektor in den USA. Die Häuserpreise stiegen und viele gingen davon aus, dass sie auch in Zukunft steigen würden. Viele Menschen verschuldeten sich zunehmend und dachten, sie hätten genug Kaufkraft um zusätzlich zu konsumieren. Aber irgendwann müssen die Hypotheken beglichen werden. Das wurde aber in einer Zeit umso schwieriger, als die Löhne nicht in dem Maße stiegen wie die gesamtwirtschaftliche Leistungsfähigkeit in den USA, und das gilt auch für andere Länder. So dass die Hypothekenblase, die entstand, über kurz oder lang platzen musste, und die Widersprüche, die schon vorher bestanden, umso offener zutage traten.
Talk Together: Welche sind diese Widersprüche?
Christian Zeller: Es ist der Widerspruch, dass aufgrund des Konkurrenzdruckes im Kapitalismus, die Unternehmen dazu neigen, mehr zu produzieren, als sie tatsächlich gewinnbringend absetzen können, respektive es genügend kaufkräftige Menschen gibt. Bei der Automobilindustrie ist das sehr deutlich, aber auch bei vielen anderen Industrien sieht man ähnliche Phänomene. Das heißt, die Aufblähung des Finanzsektors hat gewissermaßen sogar dazu geholfen, die Krise hinauszuzögern, was aber nur eine bestimmte Zeit gehen konnte, und jetzt tritt die Krise umso stärker zutage.
Es ist also nicht die Gier und auch nicht die fehlende Regulierung, welche die Ursachen für die Krise sind. Sie sind vielleicht unmittelbar die Auslöser, aber nicht ihre Ursachen. Diese liegen darin, dass in einem Konkurrenzsystem Unternehmen dazu tendieren, mehr Kapazitäten anzuhäufen, jedes Unternehmen will billiger produzieren und in Produktionsanlagen investieren. Wenn das aber alle zusammen machen, sind irgendwann einmal zu viele Produktionsstätten und zu viele Waren da, die nicht mehr abgesetzt werden können.
Talk Together: Die Regierungen versuchen die Banken mit enormen Finanzspritzen vor dem Ruin zu retten oder mit Maßnahmen wie der „Verschrottungsprämie“ die Nachfrage künstlich zu stimulieren. Was halten Sie von solchen Maßnahmen?
Christian Zeller: Wenn die Banken und Teile des Finanzbereichs mit unermesslich großen öffentlichen Mitteln unterstützt werden, dann ist das keine Verstaatlichung, wie man jetzt sagt, sondern genau das Gegenteil, es ist eine Privatisierung öffentlicher Mittel, eine Privatisierung dessen, was die Lohnabhängigen erarbeitet haben und durch Steuern in die Staatskassen floss. Das heißt, es ist de facto ein gigantischer Aneignungsprozess durch die Finanzorganisationen am Staat bzw. am öffentlichen Eigentum. Was die Finanzspritzen in die Wirtschaft betrifft, muss man konkret hinschauen. Wenn beispielsweise jetzt öffentliches Geld verwendet würde, um die Bildungsinfrastruktur zu verbessern, die Gesundheitsinfrastruktur zu verbessern, den öffentlichen Verkehr zu verbessern, dann wäre es sinnvoll, das wird aber nur zum sehr kleinen Teil tatsächlich gemacht.
Wenn jetzt aber die Automobilindustrie gestützt wird über eine „Verschrottungsprämie“, dann ist das eigentlich direkt eine Subvention des Automobilabsatzes, und das ist, denke ich, keine sinnvolle Maßnahme, aus mehreren Gründen.
Erstens halte ich es nicht für sinnvoll, die Automobilproduktion, wie sie heute existiert, weiter zu unterstützen. Das Problem der Überproduktion und Überakkumulation, das ich vorher erwähnt habe, wird nicht gelöst, sondern nur gelindert; ein paar Monate oder ein paar Jahre später wird das Problem wieder zutage treten und dann kann man wieder irgend eine Prämie erfinden. Es ist also keine Lösung sondern allenfalls eine Linderung oder Aufschiebung des Problems.
Zweitens, die Automobilindustrie wird so ermuntert, weiterhin Produkte herzustellen, die sozial und ökologisch gesehen, in dieser Art und Weise nicht sinnvoll sind. Damit will ich sagen, dass ich eine staatliche Förderung des automobilgestützten Individualverkehrs für nicht sinnvoll erachte.
Wenn der Staat eingreifen will und soll, dann wäre es richtig zu sagen: Wir übernehmen die Kontrolle der Automobilindustrie beispielsweise bei Opel, aber dann sollte es eine demokratische Kontrolle sein, das heißt, die Bevölkerung, die Beschäftigten sollen tatsächlich die Verfügungsgewalt bekommen über die Fabriken und Maschinen, und das soll helfen, eine Diskussion in Gang zu setzen, wie man innerhalb mehrerer Jahre oder vielleicht innerhalb eines Jahrzehnts dazu kommen kann, die Automobilindustrie zu konvertieren, zu überführen in eine andere Produktion, wo die Kreativität und die Fähigkeiten der ArbeiterInnen dazu eingesetzt werden können, andere Produkte z.B. des öffentlichen Verkehrs zu produzieren. Das wäre ein längerfristiger Prozess, aber wenn der Staat schon die Kontrolle übernimmt, könnte man diese Debatte auch gleich führen.
Aber diese Debatte wird zurzeit kaum geführt, leider, auch von den Gewerkschaften nicht. Die einzige Debatte, die geführt wird, dreht sich um die Frage, ob der Staat Opel oder andere Firmen unterstützt. Abgesehen davon: Wenn der Staat Opel stützt und schützt, dann werden vielleicht einige Opelarbeitsplätze gerettet, aber was passiert mit den Arbeitsplätzen bei den Konkurrenten? Dann verlieren vielleicht andere ihre Arbeitsplätze. Das zeigt nur, dass diese Art von Politik keine Lösung ist.
Talk Together: Wenn wir bei den Ursachen der Krise bleiben. Welche Rolle spielen die Kriege, also der Irak-Krieg oder der Afghanistan-Krieg?
Christian Zeller: Ich denke nicht, dass diese Kriege, auch wenn ihre Auswirkungen für die betroffenen Menschen katastrophal sind, ein Grund dafür waren, dass diese Krise ausgebrochen ist. Man kann aber argumentieren, dass die führenden Eliten vor allem der USA diese Kriege führen, um die Kontrolle über die natürlichen Ressourcen wie Öl respektive über deren Preise im internationalen Wettbewerb zu bekommen, was eine absolut zentrale Frage ist. Das heißt, Kriege können allenfalls geführt werden in der Hoffnung, eine eigene Krise zu lösen oder hinauszuzögern. Zugleich bedeutet die Aufrüstung, dass Bereiche der Wirtschaft wie die Rüstungsindustrie und gewisse Infrastrukturindustrien verstärkt vom Staat unterstützt werden. Die Kriege haben auch dazu geführt, dass die Verschuldung der USA sich zusätzlich verstärkt hat. Allerdings hatten die USA auch schon vorher ein großes Budgetdefizit und eine negative Handelsbilanz.
Die Kriege waren meiner Meinung nach nicht die Ursache, für die Krise, aber – das wäre allerdings ein anderes Thema – ich gehe davon aus, dass sich die Konkurrenz in vielen Industrien verschärfen wird, wie es gerade im Rahmen der G-20 oder der G-8 diskutiert wird. Ich halte es für möglich, dass sich die Mächtigen koordinieren und Kompromisse untereinander eingehen, es ist aber auch möglich, dass sie keine Kompromisse finden und sich die Widersprüche zwischen den großen Ländern der Welt verschärfen werden, weil keiner die Krise des anderen finanzieren will. Das kann die internationalen Spannungen erhöhen, was aber nicht Krieg bedeuten muss.
Talk Together: Welche Rolle spielt das globale Ungleichgewicht – also die Verlagerung der Produktion in Länder mit niedrigen Löhnen?
Christian Zeller: Das, was mit China in den letzten 15 oder 20 Jahren passiert ist, ist vielleicht die wichtigste wirtschaftliche Veränderung überhaupt. China wurde so etwas wie die Fabrik der Welt. Es gibt heute kaum Konsumgüter – Kleider, Elektronik, Haushaltsgeräte –, die nicht aus China kommen. Das heißt aber auch, dass China enorm abhängig vom Export wurde. China konnte durch diese Exporte enorme Handelsbilanzüberschüsse erzielen und damit auch riesige Devisenreserven anhäufen – genau das Umgekehrte wie die USA. Und der größte Teil der Devisenreserven von mittlerweile über 2000 Milliarden US-Dollar ist in den USA angelegt. Das führt dazu, dass China ein gewisses Interesse daran hat, dass der Wert des Dollars stabilisiert wird, weil sonst seine eigenen Guthaben entwertet würden. Für die USA stellt sich die Frage, wie weit China das Geld in den USA belässt oder abzieht, und wer die Staatsanleihen kauft, die der amerikanische Staat herausgibt um die enormen staatlichen Maßnahmen und die damit verbundene Aufblähung des Budgets zu bezahlen. Niemand weiß, ob diese merkwürdige, ungleiche Symbiose zwischen den USA und China weiterhin funktionieren wird.
Natürlich spielt die Verlagerung der Produktion in so genannte Billiglohnländer eine ganz wichtige Rolle für die Wirtschaft in den USA und in Europa und zwar in mehrerlei Hinsicht. Diese Verlagerung führte dazu, dass viele Produkte, die wir konsumieren, zu recht günstigen Preisen gekauft werden konnten. Und das war erwünscht, denn so waren die Stagnation oder die nur leichte Steigerung der Reallöhne und in gewissen Ländern sogar die Senkung der Reallöhne für die Lohnabhängigen nicht so massiv spürbar. Man konnte die Löhne einfrieren, weil die Leute auf Billiglebensmittel und Billigkonsumgüter ausweichen konnten. Das heißt aber auch, dass sich dieser Prozess auf eine verstärkte Ausbeutung der Lohnabhängigen in China, Indien und anderen Schwellen- oder Billiglohnländern stützt. Man kann sogar sagen, dass die Lohnabhängigen in diesen Ländern eine ganz wichtige Rolle spielten für die Stabilität dieser Konstellation.
Talk Together: Aber auch hier in Europa hat die Ausbeutung z.B. mit dem Aufkommen von Leihfirmen zugenommen…
Christian Zeller: Ja natürlich, das ergänzt sich ja. Auch wenn die Verlagerungen gar nicht so groß sind, wie sie dargestellt werden, allein die Drohung: Wenn ihr Lohnabhängigen nicht diese oder jene Maßnahmen akzeptiert, lagern wir aus, diese Drohung ist mächtig und wirksam. Insofern konnte man auch hier die Arbeitsbedingungen verschlechtern, die Flexibilisierung durchführen, Leiharbeit verbreiten usw.
Talk Together: Jeden Tag hören wir von Massenentlassungen und Kurzarbeit. Wie können sich die Lohnabhängigen zur Wehr setzen?
Christian Zeller: Ja, das ist eine schwierige Frage. Dafür gibt es keine Rezeptbücher. Es gibt einige – wenige – Beispiele von erfolgreichem Widerstand gegen Arbeitsplatzabbau und Entlassungen. Ein Beispiel, das in letzter Zeit etwas bekannt wurde, ist das Beispiel von Arbeitern eines Unternehmens in Chicago, das als Zulieferer für die Automobilkonzerne tätig ist. Diesem Unternehmen wurden von den Banken keine Kredite mehr zugesprochen und es drohte zu schließen. Die Arbeiter haben gestreikt und die Fabrik sogar besetzt, das geschah unmittelbar vor dem Regierungsantritt Obamas. Die Belegschaft erfuhr eine enorm große Unterstützung von der örtlichen Bevölkerung des Stadtteils und konnte durchsetzen, dass die Fabrik nicht stillgelegt wurde und ihre Arbeitsplätze erhalten blieben. Das ist zwar keine Lösung der Krise, aber es ist ein unmittelbarer Erfolg für den Widerstand der Beschäftigten. Das sind Beispiele, die zeigen, in welche Richtung man gehen könnte.
Es ist nicht die Aufgabe der Lohnabhängigen, die Krise zu bezahlen, es ist ihr innerstes moralisches Recht, ihre Arbeits- und Lebensbedingungen zu verteidigen. Ich denke, die entscheidende Frage ist, inwiefern Lohnabhängige in der Lage sind, ihre eigenen Erfahrungen auszutauschen, sich zu koordinieren, von guten Beispielen zu lernen, in einer unmittelbaren Perspektive die eigenen Lebensbedingungen zu verteidigen. Das ist per se noch keine Lösung, das ist klar, aber ich denke, dass es diese Art von Diskussionen braucht. Worin ich aber keine Hoffnung setze, ist, dass durch die staatliche Stützung bestimmter Industrien tatsächlich die Interessen der Lohnabhängigen unterstützt werden. Wenn der Staat eingreift muss man immer zugleich fragen: Wie greift er ein? In welche Richtung führt das? Wem nützen diese Maßnahmen und wem nützen sie nicht?
Was in dieser Krise so offensichtlich wurde wie noch nie zuvor, ist, weil diese Krise aufgrund der globalen Verflechtung in kürzester Zeit eine globale wurde, müssen Lohnabhängige auch transnational ihre Erfahrungen austauschen und über die Grenzen hinweg lernen. Wenn Lohnabhängige das nicht machen, werden sie verlieren. Das heißt natürlich auch, sich nicht in die verstärkte internationale Konkurrenz einspannen lassen. Es geht nicht nur darum, die österreichischen oder die französischen Arbeitsplätze zu verteidigen, sondern es geht darum, die Rechte von Lohnabhängigen, von Arbeitenden, wo auch immer sie arbeiten und leben, gemeinsam zu verteidigen.
Talk Together: Auf der einen Seite Überproduktion und Verschwendung – auf der anderen Seite werden trotz aller technologischen Fortschritte die Bedürfnisse der Menschen nicht befriedigt. Wie können globale Probleme wie Hungerkrisen und die Zerstörung der Umwelt gelöst werden?
Christian Zeller: Das spricht die Frage an, die ich schon angedeutet habe mit dem Umbau der Autoindustrie. Diese Frage stellt sich vielen Bereichen: Wollen wir diese Art von Finanzindustrie, die wir zurzeit haben? Oder wollen wir Finanzdienstleistungen, die dazu dienen, eine regionale nachhaltige Wirtschaftsentwicklung und einen regionalen Ausgleich zu fördern – in Österreich, in Europa und selbstverständlich auch weltweit? Das Problem der Zerstörung der Umwelt kann nicht angegangen werden, wenn die Wirtschaft nach den gleichen Spielregeln weiter funktioniert, wie sie jetzt funktioniert. Es braucht eine öffentliche Debatte darüber, welche Produkte man will und auf welche man vielleicht auch verzichten kann – beispielsweise die Rüstungsindustrie wäre etwas, worauf man verzichten kann. Es gibt auch andere Produktionen, auf die man verzichten könnte, um Ressourcen zu sparen, und es gibt Produktionslinien, die man mit der Zeit – das braucht lange, aber man muss irgendwann damit anfangen – transformieren kann, so dass sie weniger umweltschädlich funktionieren.
Das gleiche gilt für den Hunger. Mit den gegebenen Strukturen werden wir das fundamentalste gesellschaftliche Problem der Menschheit nicht anpacken. Abhängige und periphere Regionen sollen sich so entwickeln und eine Wirtschaftsordnung aufbauen können, wie die entsprechende Bevölkerung es will. Das heißt aber auch, dass die Art und Weise, wie wir Waren austauschen, weltweit stark verändert werden muss. Also die Frage, wer zu welchem Preis welche Waren und vom wem bezieht.
Talk Together: Reaktionäre Kräfte benützen die Krise für ihre Zwecke und bieten simple bzw. vermeintliche Lösungsvorschläge an, indem sie MigrantInnen und AsylwerberInnen die Schuld für gesellschaftliche Problem zuschieben. Was kann und muss ihrer Meinung nach solchen Meinungen entgegengesetzt werden?
Christian Zeller: Was wir sehen ist letztlich ein Prozess der Globalisierung der Arbeit. Das Kapital hat begonnen sich zu globalisieren und wir sehen weltweite Kapitalflüsse. Nun entwickelt sich auch ein Prozess der Globalisierung der Arbeit, der mehrere Gesichter hat. Das eine habe ich vorhin erwähnt, Regionen werden und wurden in den kapitalistischen Produktionsprozess einbezogen, die es bislang nicht waren, beispielsweise China. Innerhalb kürzester Zeit konnten auf einen Schlag mehrere Hundert Millionen neuer Arbeitskräfte in die kapitalistische Produktion einbezogen werden, vor allem sehr günstige Arbeitskräfte.
Spiegelbildlich dazu können natürlich auch neue Arbeitskräfte hier genutzt werden, das sind vor allem Migrantinnen und Migranten, die aus welchen Gründen auch immer hierher kommen und als günstige Arbeitskräfte eingesetzt werden. Ein Unternehmen hat zwei Möglichkeiten: Entweder es verlagert die Produktion dorthin, wo die Arbeitskräfte günstiger sind, oder/und es holt die günstigen Arbeitskräfte hierher und lässt sie hier günstig produzieren. In beiden Fällen können die Lohnabhängigen ihre Interessen nur wahren, wenn sie transnational zusammenarbeiten, bzw. die Einheimischen mit den neu Dazugekommenen. Wenn das nicht passiert und die Lohnabhängigen sich auseinanderdividieren lassen, ist es absolut logisch, dass beide schwächer werden und weniger Möglichkeiten haben, ihre Position zu verteidigen.
Rechtspopulistische oder rechtsextreme Antworten gehen in die Richtung zu sagen, die MigrantInnen seien schuld, dass bei uns die Löhne sinken, oder dass bei uns die Wohnungen teurer werden. Oder die chinesischen ArbeiterInnen seien schuld, dass unsere Löhne sinken. Beide Argumente sind falsch. Weil nicht die ArbeiterInnen in China oder die MigrantInnen, wo immer sie herkommen, dafür sorgen, dass die Löhne niedriger werden, sondern das Kapital versucht, auf welche Weise auch immer, die jeweils günstigste Kombination herzustellen.
Talk Together: Könnte die Krise auch als Chance genutzt werden?
Christian Zeller: Ja, denn eine Krise bedeutet einen Einschnitt, eine Krise kann der Übergang zu etwas anderem sein. Die Krise hat uns in die Situation gebracht, dass die politischen Konzepte, die uns in den letzten 20-30 Jahren als notwendig dargestellt wurden, ihre Glaubwürdigkeit verloren haben, und das ist positiv. Aber es ist natürlich nicht so, dass damit automatisch klar würde, mit welchen Konzepten man reagieren soll, da ist noch eine enorme Arbeit zu leisten. Die Krise bietet Chancen und gibt neuen Spielraum, ob diese Arbeit in Angriff genommen wird, ist die entscheidende Frage.
Ich fürchte aber, dass Gewerkschaften und linke Parteien dafür sehr schlecht gerüstet sind. Ich habe den Eindruck, dass diese vielfach in der Werkzeugkiste von früher suchen, um mit stumpfen Werkzeugen aus der vorangegangenen Periode zu hantieren. Ihre Konzepte stammen vielfach aus den 1960er und 1970er Jahren und waren zum Teil schon damals nur beschränkt wirksam. Die Situation ist heute eine andere. Es gibt keine Rezeptbücher, in denen nachgelesen werden könnte, sondern die Konzepte müssen neu entwickelt werden, und das sehe ich als Aufgabe einerseits von ForscherInnen an Universitäten an; aber auch die Gewerkschaften, die Belegschaften der Betriebe und die sozialen Bewegungen stehen vor dieser Herausforderung.
Talk Together: Die Menschen sind erfahrungsgemäß nur bereit, etwas einzusetzen, wenn sie ein Ziel vor Augen haben. Welche Ziele können erreicht werden und welche Visionen haben Sie persönlich?
Christian Zeller: Was sein wird, wissen wir nicht, wir wissen nur: Was wir jetzt haben, bringt uns in ökonomische und soziale Schwierigkeiten. Daraus können wir versuchen, Antithesen zu formulieren – so und so könnten wir es auch machen, ökologisch weniger verschwenderisch und sozial gerechter. Es gibt kein fertiges sozialistisches Modell, Marx hat das nicht formuliert. Die Staaten, die sich auf den Sozialismus berufen haben, haben diesen in Wirklichkeit pervertiert und sind gescheitert. Ich denke, dass eine unermessliche Offenheit vor uns liegt, und das befreit das Denken.
Brauchen wir eine klare Vision? Da bin ich mir nicht sicher. Man braucht Orientierungspunkte: Was wollen wir? Wir wollen eine solidarische Gesellschaft, die nicht im Widerspruch zu den Bedürfnissen der Bevölkerung und zur Natur steht. Der Mensch braucht meiner Meinung nach nicht eine klare Vision um sich zu bewegen, sondern Selbstvertrauen und die Erfahrung, dass es sich lohnt, sich einzusetzen, wie bei den Arbeitern in Chicago. Wenn man zusammensteht, kann man Kraft entfalten und daraus etwas entwickeln, ein kohärentes Gesellschaftsmodell gibt es aber nicht.
Und natürlich muss die Eigentumsfrage gestellt werden, sowie die Frage der gesellschaftlichen Aneignung und der demokratischen Steuerung von Investitionsentscheidungen. Vielleicht ist es durch die Krise einfacher geworden, diese Fragen aufzuwerfen, weil die Regierungen ja selber davon reden. Stellen wir dieselben Fragen im demokratischen Sinne! Der Kapitalismus kennt nur den Tauschwert einer Ware. Fragen wir nach dem Gebrauchswert – im Sinne von Marx – eines Produkts, nach seiner konkreten Nützlichkeit, der Qualität der Produktion, der Sparsamkeit im Umgang mit den Ressourcen und nach qualitativ guten Arbeitsplätzen. So wie das Kapital die Eigentumsfrage ständig stellt und neue Eigentumsrechte durchsetzt, sollten sich auch Gewerkschaften und soziale Bewegungen in die Lage versetzten, diese Frage wieder auf die Tagesordnung zu bringen.
Talk Together: Vielen Dank für das Gespräch! Normal 0 21 false false false MicrosoftInternetExplorer4
erschienen in: Talktogether Nr. 28/2009
Zum Thema - die Krise nach David Harvey Normal 0 21 false false false MicrosoftInternetExplorer4
Cartoon: https://youtu.be/qOP2V_np2c0
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