Die „Goldene Regel“ zwischen Ethik und Religion PDF Drucken E-Mail

Die „Goldene Regel“ zwischen Ethik und Religion

von Herbert Hopfgartner

Der Begriff „Ethik“ stammt aus dem griechischen ethikós („sittlich moralisch, gebräuchlich“), wobei die indogermanische Wurzel suedhos mit „Eigenart, Eigenheit“ übersetzt werden kann. Das Religiöse – vergleichen wir auch das lateinische religio („gewissenhafte Berücksichtigung, Sorgfalt“) bzw. relegere („bedenken, Acht geben“) – verweist direkt (!) auf die Beachtung von Regeln, Vorzeichen und Vorschriften. Religiös motivierte Normen orientieren sich vorzugsweise nach teleologischen (telos = „Zweck, Ziel“) Prinzipien: Jede menschliche Handlung wird unter göttlichen bzw. ewigen Aspekten bzw. Konsequenzen „bewertet“. Umgekehrt sind Deontologen (deon = Pflicht) vor allem an den Motiven (die „gute Absicht“), die einer Handlung zugrunde liegen, interessiert.

Der normativen Ethik wie auch jeder Religion stellen sich die gleichen Fragen:

Wie sollen wir unser Leben in Bezug auf andere Menschen gestalten?
Welche Regeln sind geeignet, um für alle Menschen, die in einer Sozietät (Partnerschaft, Familie, Nachbarschaft, Firma, Verein, Dorf, Stadt, Land, Volk, Staat, Weltgemeinschaft) leben, ein gedeihliches und friedliches Zusammenleben zu ermöglichen?

Der Kategorische Imperativ von Immanuel Kant – „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.“ (Kritik der praktischen Vernunft, 1788) – versteht sich als ein allgemein gültiges und für jeden Menschen verständliches Sittengesetz. Kant suchte – ausgehend vom Begriff des „Naturrechtes“ – ein a priori („vom Früheren her“, von der Erfahrung und Wahrnehmung unabhängig, aus der Vernunft gewonnen), ein in jedem Menschen vorhandenes Grundprinzip, das eine persönliche wie gesellschaftlich anerkannte Moral möglich macht. Die Pflicht, die aus einer vernunftmäßigen Achtung vor einem Sittengesetz entsteht und nicht die sinnliche Disposition des Menschen (emotionale Neigungen wie Freude, Mitleid, Angst vor Bestrafung) soll dabei das Motiv jedes Handelns sein.

Eine „Goldene Regel“ (regula aurea) bezieht sich hingegen zunächst auf den Einzelnen (und sein Gegenüber): Eine Handlung wird utilitaristisch („nach dem Nutzen“) bewertet – je nach dem, was eine mögliche Tat an Lust- bzw. Unlustgefühlen nach sich ziehen könnte, bestimmt die eigene Motivation. Sie verbietet wie der Kategorische Imperativ nichts Bestimmtes, sondern fordert von jedem Menschen eine Reflexion über den moralischen Wert seines Handels: Was mute ich meinen Mitmenschen zu? Was erwarte ich mir von ihnen?

Relativierend sei angemerkt, dass der Kategorische Imperativ, der ja absolut und überall gilt, konsequenterweise jeden einzelnen Menschen betrifft bzw. jede „Goldene Regel“, den konkreten Einzelfall abstrahierend einen allgemeinen Geltungsanspruch stellt.

Heikel erscheint die rigorose Auslegung des Kantschen Imperativs, wenn man den (zugegeben unwahrscheinlichen) Fall konstruiert, dass ein Mensch einen Schwerverbrecher oder Terroristen nicht anlügen, handlungsunfähig, schwer verletzen oder töten dürfte, auch wenn er dadurch Menschenleben retten könnte! Eine Schwäche scheint es auch bei der Anwendung der „Goldenen Regel“ zu geben: Es kann nur theoretisch angenommen werden, dass alle Menschen die gleichen Wünsche und Abneigungen haben! Kulturelle und religiöse Eigenheiten (charakteristische Ernährungsgewohnheiten, religiöse Bräuche, Kleidungsvorschriften…) sind demnach nicht unmittelbar leicht in dieses Konzept zu integrieren. Streng genommen könnte auch keine Exekutivhandlung vorgenommen werden, da vermutlich jeder Polizist die Strafe (z.B. für ein Bagatellvergehen) selbst auch nicht gerne zahlen würde. So müssen in jede „Goldene Regel“ die bestehenden (und demokratisch vollzogenen) Gesetze bzw. die ethischen Normen der jeweiligen Gesellschaft, Kultur und Religion einbezogen werden!

Müßig erscheint es, für die regula aurea einen geschichtlichen Ursprung bzw. eine geistige Urheberschaft zu finden. Seit vielen Jahrhunderten finden wir – auch unabhängig von einander – differenzierte Auslegungen „derselben“ Formel in den Schriften der großen Weltreligionen:

Im Alten Testament, also für Juden und Christen gleichsam bedeutend finden sich bekannte Verse:

„Der Fremde, der sich bei euch aufhält, soll euch wie ein Einheimischer gelten, und du sollst ihn lieben wie dich selbst; denn ihr seid selbst Fremde in Ägypten gewesen.“ (Lev. 19, 34. 8. bis 6. Jahrhundert v. Chr.)

„Was dir selbst verhasst ist, das mute auch einem anderen nicht zu!“ (Tob. 4, 15. 200 v. Chr.)

Etwa zur selben Zeit verfassten einige griechische Philosophen – abseits einer mono­theistischen Religion und einer herrschenden „Priesterkaste“ – ähnliche Sentenzen.

„Was immer du deinem Nächsten verübelst, das tue ihm nicht selbst.“ (Pittakos v. Mytilene, 620 v. Chr.)

„Wie können wir das beste und rechtschaffenste Leben führen? Dadurch, dass wir das, was wir bei anderen tadeln, nicht selber tun.“ (Thales v. Milet, 624-546 v. Chr.)

„Was ich dem Nächsten zum Vorwurf mache, werde ich selber nach Kräften nicht tun.“ (Maiandrios v. Samos, 6. vorchr. Jhdt.)

„Tue nicht anderen an, was dich ärgern würde, wenn andere es täten.“ (Sokrates, 5. Jh. v. Chr.)

„Soll ich mich anderen gegenüber nicht so verhalten, wie ich möchte, dass sie sich mir gegenüber verhalten?“ (Platon, 4. Jh. v. Chr.)

„Was du selbst zu erleiden vermeidest, suche nicht anderen zu tun.“ (Epiktet, 90 v. Chr.)

In Arabien und Asien existieren Texte, die ebenfalls in dieser „Achsenzeit“ (800 – 200 v. Chr.) entstanden sind. Nach dem Philosophen Karl Jaspers erfolgte in dieser Zeitspanne die geistige Grundlegung der Menschheit. Die in mehreren Kulturen gleichzeitig und unabhängig voneinander gewonnenen philosophischen Erkenntnisse prägen noch heute unser Zusammenleben.

„Tue anderen nicht, was du nicht möchtest, dass sie dir tun.“ (Konfuzius, 500 v. Chr.)

„Ein Wort, das als Verhaltensregel für das Leben gelten kann, ist Gegenseitigkeit. Bürde anderen nicht auf, was du selbst nicht erstrebst.“ (Konfuzius, Lehre vom mittleren Weg 13, 3. 500 v. Chr.)

„Verletze nicht andere auf Wegen, die dir selbst als verletzend erschienen.“ (Buddhismus, Udana-Varga 5, 18. 6. Jhdt. v. Chr.)

„Ein Zustand, der nicht angenehm oder erfreulich für mich ist, soll es auch nicht für ihn sein, und ein Zustand, der nicht angenehm oder erfreulich für mich ist, wie kann ich ihn einem anderen zumuten?“ (Buddhismus, Samyutta Nikaya V. 353, 35-354, 2. um 500 v. Chr.)

„Gleichgültig gegenüber weltlichen Dingen sollte der Mensch wandeln und alle Geschöpfe in der Welt behandeln, wie er selbst behandelt sein möchte.“ (Jainismus, Sutrakritanga I. 11.33. um 500 v. Chr.)

„Tue keiner dem anderen, was er nicht will, dass es ihm selbst widerfahre.“ (Hinduismus, Mahabharata XIII, 5571. um 500 v. Chr.)

„Was alles dir zuwider ist, das tue auch nicht anderen an.“ (Zoroastrismus, Shayast-na-shayast 13, 29. 2.-4. Jhdt. v. Chr.)

„Dass die (menschliche) Natur nur gut ist, wenn sie nicht anderen antut, was ihr nicht selbst bekommt.“ (Zoroastrismus, Dadistan-i-Dinik 94, 5. 2.- 4. Jhdt. v. Chr.)

„Dies ist die Summe aller Pflicht: Tue anderen nichts, das dir Schmerz verursachte, würde es dir getan.“ (Hinduismus und Brahmanismus, Mahabharata 5, 1517. 150 v. Chr.)

Die Thora (das mosaische Gesetz) lässt sich nach Rabbi Hillel, Vorsteher des Sanhedrin („Hohe Rat“) auf eine „Goldene Regel“ verkürzen:

„Was dir selbst verhasst ist, das tue nicht deinem Nächsten an. Dies ist das Gesetz, alles andere ist Kommentar.“ (Rabbi Hillel, Shabbat 31a. 30 v. Chr. – 9 n. Chr.)

Im Neuen Testament wird Jesus von Nazareth als Verkünder der „Frohen Botschaft“ (euaggelion = „gute Botschaft“) dargestellt, der das alte Vergeltungsprinzip des ius talionis („Und du sollst in dir kein Mitleid aufsteigen lassen: Leben für Leben, Auge um Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß.“ Dtn 19, 21) überwindet.

„Alles, was ihr von anderen erwartet, das tut auch für sie!“ (Mt 7, 12 bzw. Lk 6, 31. 1. Jhdt.)

In gesteigerter Form und auf Jesus selbst bezogen erscheint die Goldene Regel bei Johannes:

„Das ist mein Gebot: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe!“ (Joh 15, 12)

Im Markus Evangelium wird die Frage nach dem wichtigsten Gebot gestellt. Jesus antwortete dem fragenden jüdischen Schriftgelehrten, dass es lediglich zwei Gebote sind, die gelten. Das erste Gebot betrifft die Liebe zu dem einzigen Gott Israels. Das zweite und sehr kurze Gebot regelt den Umgang der Menschen untereinander.

„Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.“ (Mk 12, 31)

Im Brief an die Galater erinnert Paulus das kleinasiatische Volk.

„Was der Mensch sät, das wird er auch ernten.“ (Gal 6, 7)

Neben der Scharia (schara’a = „den Weg weisen, vorschreiben“) gibt es so gut wie keine islamische Ethik. Die Regeln für das Handeln gründen allein auf den Geboten Allahs, die im Koran (Qur’an = „Lesung, Vortrag“) als einzige Quelle aufgezeichnet sind. Unbestritten und gesellschaftlich bedenklich erscheint der Umstand, dass in der Scharia zwischen Muslimen und Nicht-Muslimen scharf unterschieden wird. Yahia bin Sharaful-Deen An Nawawi (1233-1277) erwähnt in den Hadithe („Sprüche Mohammeds“) eine innermuslimische Vorschrift:

„Keiner von euch ist ein Gläubiger, solange er nicht seinem Bruder wünscht, was er sich selber wünscht.“ (Hadith 40, 13)

Es mag spitzfindig sein, zu fragen, wen und was man sich in welcher Religion unter dem Begriff „Bruder“, „Nächster“ bzw. „Andere“ vorstellen soll. Außer im Islam ist in keinem der obig angeführten Sprüche von „Glaubensbruder“ die Rede – konsequenterweise dürfte im „globalen Dorf“ eine universalistische Lesart der Sprüche wohl die einzig sinnvolle und richtige sein. Der Wunsch als Inbegriff des Inhalts und der äußeren Form bedeutet in allen Sprüchen eine Abkehr vom Prinzip der Rivalität bzw. „Abrechnung“ gegenüber Andersdenkenden. Dieser zivilisatorische Fortschritt würde bedeuten, dass die nach den Prinzipien Handelnden den religiösen Narzissmus (welcher Gott ist besser, mächtiger?) hinter sich lassen würden. Nebenbei sei bemerkt, dass schon der erste Vertreter der Eleaten, Xenophanes (um 570 – um 470 v. Chr.) die Vielgestaltigkeit Gottes als eine menschliche Projektion deutete…

Von vielen Religionsstiftern (u. a. Moses, Buddha, Jesus, Mohammed) sind Gespräche mit Andersgläubigen überliefert, in denen nicht die Bekehrung des jeweilig anderen, sondern die gegenseitige Achtung und der friedliche Umgang miteinander im Mittelpunkt des Interesses standen. Trotz der Wahrung der eigenen Identität und dem Feststellen von grundlegenden Unterschieden suchten sie – eingedenk des Umstandes, dass jede Überzeugung gelebt werden müsse – gemeinsam nach der Wahrheit. Fundamentalistische Gruppierungen innerhalb einer Glaubensrichtung(!) bzw. in den verschiedenen Kirchen bzw. Religionen scheinen diese Qualitäten ihrer Religionsgründer, Stammväter und Patriarchen völlig vergessen zu haben.

Vor 15 Jahren (1993), also einige Monate nach dem Zweiten Golfkrieg (1990-1991) und inmitten der kriegerischen Auseinandersetzungen in Bosnien (1992-1995) wurde in Chicago (insbesondere von Hans Küng) das „Projekt Weltethos“ geboren, um die Menschenrechtserklärung von 1948 (Artikel 1.: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.“) in ein ethisches Regelwerk zu kleiden. Die Erklärung umfasst:

- „die Verpflichtung auf eine Kultur der Gewaltlosigkeit und der Ehrfurcht vor allem Leben,

- die Verpflichtung auf eine Kultur der Solidarität und eine gerechte Wirtschaftsordnung,

- die Verpflichtung auf eine Kultur der Toleranz und ein Leben in Wahrhaftigkeit,

- die Verpflichtung auf eine Kultur der Gleichberechtigung und der Partnerschaft von Mann und Frau.“

Der youth bulge („Jugendboom“; entstanden als Konsequenz eines Kinderreichtums) in vielen afrikanischen, arabischen und asiatischen Ländern hat in den letzten Jahren eine unglaublich große Anzahl an jungen Männern hervorgebracht, für die es in ihren Ländern aller Wahrscheinlichkeit nach viel zu wenige Arbeitsplätze bzw. berufliche Aufstiegschancen geben wird. Ihre traditionell männlichen Existenzen als Familiengründer und -erhalter sind damit mehr oder weniger unerreichbar. Wie leicht man unzufriedene Massen (insbesondere junge „Krieger“) manipulieren kann, hat die Geschichte (mit anderen Worten: die Geschichte der Kriege) bzw. haben die Wissenschaften (Le Bon, 1895; Oswald Spengler, 1917; Sigmund Freud, 1921; Ortega y Gasset, 1930; Karl Jaspers 1931; Wilhelm Reich, 1933, Erich Fromm, 1941 u. v. a.) seit vielen Jahrzehnten eindrucksvoll gezeigt bzw. analysiert.

Zudem sind es auch immer wieder Politiker und Prediger, die Hass schüren und für die eigenen Probleme Andersgläubige und -denkende verantwortlich machen bzw. im weltpolitischen Widersacher das Böse, Satanische oder schlichtweg den Teufel zu sehen glauben…

Für Samuel P. Huntington („The clash of Civilizations“, 1996) „sieht sich jede Kultur selbst als Mittelpunkt der Welt und schreibt ihre Geschichte als zentrales Drama der Menschheitsgeschichte.“ Für das 21. Jahrhundert befürchtet er, dass – weltpolitisch betrachtet – „die Grenzen zwischen den Kulturen die Fronten der Zukunft sein werden“!

Ob sich nun aufgeklärte bzw. säkularisierte Menschen auf den (in vielen Ausformungen vorhandenen) Kategorischen Imperativ oder gläubige Menschen auf eine in den verschiedenen Weltreligionen dargelegte „Goldene Regel“ berufen: Zu hoffen bleibt, dass sowohl die menschliche Vernunft als auch die daraus zu entwickelnde Fähigkeit ein moralisch richtiges Urteil zu treffen, den blinden religiösen wie politischen Fanatismus – eine der großen Herausforderungen dieses Jahrhunderts – überwinden können. Wenn es gelänge, den in allen obig angeführten Sentenzen enthaltenen Wunsch nach Wertschätzung und Toleranz in einem humanistischen wie globalen Verständnis zu verstehen bzw. das eindringliche Anliegen der Urheber und Schöpfer der Sprüche zu achten bzw. konsequenterweise mit Leben zu erfüllen, könnte der interreligiöse und interkulturelle Dialog glücken. Normal 0 21 false false false MicrosoftInternetExplorer4

erschienen in: Talktogether Nr. 28/2009