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Frontiers - Grenzen
Ein Computerspiel lässt den Spieler in die Rolle eines Flüchtlings schlüpfen
Ein Leben auf der Flucht ist tägliche Realität für tausende Menschen, die Krieg, Katastrophen oder extremer wirtschaftlicher Not in ihrer Heimat entfliehen müssen. Ihre Schicksale rauschen in den Medien an uns vorbei. Ist es möglich, Flucht erfahrbar zu machen? (www.goldextra.com)
„Das Thema Flucht hat uns schon sehr lange beschäftigt“, erzählt Sonja Prlić, „denn hier handelt es sich meiner Meinung nach um eines der wichtigsten Themen unserer Zeit. Wir haben auch schon versucht, diese Thematik in Theaterprojekten zu bearbeiten. Doch zu den Theateraufführungen kamen meist nur Leute, die ohnehin schon eine ähnliche Meinung haben, wie wir“. Talktogether hat die Produzenten des Computerspiel „Frontiers“ Charlie Zechenter, Tobias Hammerle und Sonja Prlić vom Kulturverein „gold extra“ getroffen. In einem Computerspiel haben sie das ideale Medium gesehen, Orte und Zusammenhänge zum Thema Flucht näher zu bringen und zu thematisieren, und haben versucht, reale Fakten in die Spielrealität zu übersetzen. Der Spieler kann in die Rolle eines Flüchtlings schlüpfen, der alle Gefahren und Strapazen meistern muss, um nach Europa einzureisen. Auf diese Weise gelangt der Spieler von Westafrika durch die Sahara, an den Zaun von Ceuta und schließlich an einen spanischen Strand, oder vom Irak in die Wälder zwischen der Ukraine und der Slowakei.
„Computerspiele sind das meistgenutzte Medium bei jungen Leuten,“ so Sonja. „Wir wollen Menschen ansprechen, die sich sonst nicht für politische Inhalte interessieren, die nicht ins Theater gehen oder auch die Nachrichten oft nicht bewusst wahrnehmen. Wir treffen in den Medien auf dieses Thema meist nur in Form von Katastrophenmeldungen von ertrunkenen Flüchtlingen, Meldungen, die oft neben den anderen Katastrophenmeldungen unter- und vorbeigehen. Die Menschen haben sich ja an solche Schreckensmeldungen schon gewöhnt“.
Einem Flüchtling, der die Schrecken einer Flucht am eigenen Leib erlebt hat, mag es befremdlich und pietätlos erscheinen, ein so tragisches Thema in ein Unterhaltungsspiel zu verwandeln. „Natürlich ist es sehr schwer, die Erfahrungen, die ein Flüchtling macht, spürbar zu machen, aber das ist ja bei jedem künstlerischen Medium so“, meint Sonja. „Was das Spiel aber kann, ist Leute informieren, die nicht Bescheid wissen, und sie dahin führen, sich mit der Problematik auseinanderzusetzen. Vor allem hat das Computerspiel gegenüber anderen Medien den Vorteil, dass der Spieler selbst in die Rolle des Flüchtlings schlüpfen kann. Wir können die Leute aber nur abholen, für das Thema interessieren und bereit machen, die Informationen aufzunehmen. Wenn nächstes Mal ein Bericht in den Fernsehnachrichten kommt, werden sie sagen: Aha, das kenne ich. Doch erreichen, dass über das Thema in der Gesellschaft diskutiert wird, kann man mit nicht mit dem Spiel allein, dazu ist eine Anbindung an die Realität nötig. Deshalb bieten wir auf unserer Homepage Links zu weiterführenden Informationen, Interviews und Diskussionsforen an“.
Politische Diskussionen im Computerspiele-Forum
Während des Wahlkampfes in Frankreich verzeichnete die Homepage plötzlich Hunderte Web Hits. Ein französisches Computerspiel-Forum hatte die Website entdeckt, und plötzlich diskutierten die TeilnehmerInnen heftig über Politik und die Ausländerthematik. „Man kann hier erkennen, wie groß der Einfluss des Internet ist und wie dort Themen zur Sprache gebracht werden können. Es gibt ja leider genug Computerspiele mit eher rechtslastigen Inhalten. Aber in der Zwischenzeit ist auch eine neue Bewegung der sog. Serious Games entstanden, die sich zum Ziel gesetzt hat, das Medium mit anderen Inhalten zu füllen“, informiert Charlie Zechenter, „doch Lernen muss auch Spaß machen. Da gibt es ein sehr schlaues Spiel des UNHCR mit dem Namen ‚Last Exit Flucht’, das sehr gut gemacht und mit Flash-Animationen ausgestattet ist. Doch dieses Spiel wird meist nur einmal im Beisein eines Lehrers gespielt. Im Gegensatz dazu haben wir uns mit unserem Spiel das Ziel gesetzt, den Spielern die Möglichkeit zu geben, die unterschiedlichen Aspekte der Flucht langsam aufzunehmen. Ein Computerspiel ermöglicht wie kein anderes Medium, in eine Situation - oft stundenlang - einzutauchen und diese aktiv zu gestalten. Zum Beispiel: Wenn ein Flüchtling eine spanische Stadt erreicht, stellt sich für ihn die Frage: Wo gehe ich hin? Wo werde ich aufgenommen? Wird einem Flüchtling geholfen, wenn er zum Roten Kreuz geht? Nein, hier wird er der Polizei ausgeliefert. Es gilt, den richtigen Ort zu finden, wo er Unterstützung erhält, vielleicht handelt es sich um eine kleine Hütte“.
Philipp Seis und Sonja Prlić interviewen eine Gruppe von Flüchtlingen (aus dem Sudan und Kaschmir) im Flüchtlingslager CETI in Ceuta
Damit das Spiel möglichst realitätsnah wird, ging der Produktion eine intensive Recherchephase zu den Fluchtgründen und der Situation von Flüchtlingen an den europäischen Grenzen voraus. „Wir sind an die Außengrenzen Europas gefahren, nach Ceuta, in die Ukraine, haben dort die Flüchtlingslager besucht, mit Flüchtlingen und Flüchtlingsbetreuern gesprochen, rassistische Graffitis und Graffitis der Flüchtlinge fotografiert, wir haben in spanischen Städten wie Malaga und Sevilla Kontakt mit Organisationen wie Indymedia aufgenommen“, erzählt Sonja. „In Ceuta haben wir ein Flüchtlingslager besucht, es war ein halboffenes Lager, in dem die Leute untergebracht werden, die es über den Zaun geschafft haben. Es waren ca. 300 Menschen dort. Alle wollten mit uns sprechen und ihre Geschichten erzählen. Wem sollten sie ihr Leid auch sonst mitteilen? Wir haben mit Menschen aus Kaschmir gesprochen, die uns ihre Odyssee über Saudi Arabien nach Marokko geschildert haben, außerdem mit Flüchtlingen aus dem Sudan. Die Geschichten, die wir zu hören bekamen, waren erschütternd. Ein 22-jähriger erzählte uns, dass er seit vier Jahren auf der Flucht ist und zu Fuß durch die Sahara gegangen ist. Seit er den Abschiebebefehl erhalten hat, denkt er an Selbstmord“.
Flucht besteht nicht nur aus Laufen, sondern auch aus sehr viel Warten. Viel Zeit vergeht und der Flüchtling kommt nur in kleinen Schritten vorwärts. Immer wieder kommt er in Situationen, wo er nicht weiter weiß. Er stellt sich die Frage: Wie komme ich nach Algerien? Oder: Wo finde ich Unterstützung? Dabei ergibt sich das Problem, das die Wartezeiten nicht im Spiel dargestellt werden können. Um dieses Problem zu lösen werden, sobald der Spieler auf seiner Flucht ein Level erreicht hat, in Form von Scrapbooks (Tagebüchern) Informationsblöcke eingeschoben. „Der Darstellung sind aber auch technisch Grenzen gesetzt. So reicht die Leistung der Rechner nicht aus, um die Endlosigkeit der Wüste darzustellen“, so Charlie.
Fluchtgründe
Zwei wesentliche Faktoren sind bei den Recherchearbeiten klar zu Tage getreten: Der Flüchtling kann nicht ohne die Hilfe anderer Menschen auskommen. Und: Der schwierigste Teil der Flucht beginnt, sobald der Flüchtling Europa erreicht hat. „Für den Ausgangspunkt haben wir zwei verschiedene Tagebücher erstellt, die wir aus den Geschichten, die wir gehört haben, kombiniert haben“. Tobias Hammerle akzeptiert die Trennung zwischen politischen und Wirtschaftsflüchtlingen nicht. Er ist überzeugt, dass es eine Unzahl von legitimen Fluchtgründen gibt. „Der Wunsch aller, mit denen wir im Flüchtlingslager gesprochen haben, ist es, in Europa zu arbeiten. Wenn ein 17-jähriger im Niger keine Zukunft sieht oder von seiner Familie nach Frankreich geschickt wird, weil er sich dort mehr Möglichkeiten erhofft, hat er doch genauso schwerwiegende Gründe, seine Heimat zu verlassen, wie ein Kriegsflüchtling. Wenn jemand durch Krieg und Gewalt bedroht ist, werden seine Fluchtgründe anerkannt. Aber warum sollte es keine Rolle spielen, wenn jemand vom Hungertod bedroht ist?“
Das Goldextra-Team hat aber nicht nur an den südlichen Außengrenzen Europas, sondern auch an der urkrainisch/slowakischen Grenze recherchiert. „Während die Probleme der Flüchtlingsströme auf den Kanarischen Inseln, in Ceuta, Melilla oder Süditalien durch die Medien hinreichend bekannt sind, hört man von dort gar nichts“, erzählt Tobias, „dabei sind die Bedingungen dort katastrophal. Im Flüchtlingslager leben 20 Menschen zusammengepfercht in einem 20 Quadratmeter großen Raum und dürfen nur einmal am Tag hinaus, um auf die Toilette zu gehen. So etwas wie Flüchtlingsbetreuung ist unbekannt. Da die Flüchtlinge überhaupt keinerlei finanzielle Unterstützung bekommen, werden sie regelrecht in die Illegalität getrieben. Ich habe mich mit einem ungarischen Zöllner unterhalten. Seine Aussage war schockierend. Er erzählte: Obwohl es eine EU-Richtlinie gibt, dass in die Ukraine nicht abgeschoben werden darf, weil es sich hier um keinen „sicheren Drittstaat“ handelt, weiß ich, dass es täglich getan wird. Wir haben auch an einem No-Border-Camp teilgenommen und dort viele unterschiedliche Menschen getroffen, Punks aus Belorussland, die nicht in die EU einreisen dürfen, Wissenschaftler und Hilfsorganisationen, und haben mit den Leuten viele Diskussionen geführt. Was mich besonders erschüttert hat, ist die hoch technisierte Überwachung an der Grenze. Hier handelt es sich nicht um mehr einen eisernen, sondern um einen elektronischen Vorhang. Auch die ukrainische Bevölkerung fühlt sich ausgegrenzt, handelt es sich doch um eine extrem arme und wirtschaftlich benachteiligte Region. Früher stellten die Flüchtlinge dort auch einen Wirtschaftsfaktor dar, die Leute haben Zimmer an sie vermietet oder sie mit dem Auto über die Grenze gebracht. Die EU-Aufrüstung hat beide Seiten an der Grenze ärmer gemacht und die Menschen fühlen sich isoliert und alleingelassen. Oft werden Leichen von erfrorenen Flüchtlingen in den Wäldern aufgefunden. Wir haben aber dort viele aufgeschlossene Menschen getroffen, die den Flüchtlingen gerne helfen würden, aber nicht wissen, was sie tun können“.
Festung Europa
Mit den Flüchtlingen sehen wir Europa von außen - den Zaun, die Mauer, die "Festung" - und gewinnen eine neue Innenansicht von Europa. Orte, Schicksale, Hintergründe, die man in den Nachrichten längst gesehen hat, werden zum zusammenhängenden Bild. (www.goldextra.com)
Durch ihre Recherchen konnten die KünstlerInnen wichtige Erkenntnisse gewinnen. Tobias: „Vor allem ist uns deutlich geworden, dass Europa eine Festung ist, die sich immer mehr aufrüstet und abschottet, so dass es immer schwieriger wird, in die europäischen Länder zu kommen. Auch die Einstellung der einheimischen Bevölkerung gegenüber Flüchtlingen und EinwanderInnen ist in den verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich. Ich habe den Eindruck, dass in Österreich versucht wird, fremde Identitäten fremd zu halten. Während hier Menschen, die aus wirtschaftlichen Gründen ihre Heimat verlassen haben, wenig Akzeptanz finden, herrschen in Spanien und Süditalien weitgehend Konsens darüber, dass die afrikanischen Arbeiter in den Gewächshäusern zum Wirtschaftsboom beigetragen haben. In Portugal ist die Ausländerfeindlichkeit nicht so groß wie in anderen Ländern, weil vor nicht langer Zeit viele Portugiesen selbst ausgewandert sind und dies noch stark im Bewusstsein der Bevölkerung verankert ist, ein Bewusstsein, das in Österreich fehlt“.
Sonja: „Die Erfahrungen, die wir gemacht haben, waren erschütternd. Man kommt zurück und denkt: wir haben doch keine Sorgen. Das kann man nämlich leicht vergessen. Ich war voller Zorn und fühlte mich hilflos: Warum müssen die Menschen so viel auf sich nehmen und so viel Leid ertragen? Warum gibt man ihnen keine Chance? Aber Einzelschicksale zählen für Politiker und Bürokraten offenbar nichts. Als ich zurückkam, hatte ich den brennenden Wunsch, die Welt und das System zu verändern. Ich sehe es als eine menschliche Verpflichtung an, dieses Projekt zu machen und die Leute zu informieren und aufzuklären“.
Die erste Station des Spieles ist bereits ins Netz gestellt. Aber das Projekt ist noch nicht abgeschlossen, sondern wird kontinuierlich weiterentwickelt. Als letzte Station ist Rotterdam geplant, wo Flüchtlinge versuchen, in einem Container nach England zu gelangen.
Zum Spiel: http://frontiers-game.com/
Ãœber den Verein: http://www.goldextra.com/
erschienen in: Talktogether Nr. 28/2009
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