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Der flüchtige Augenblick der Freiheit
„Der Sturm der Befreiung, der durch Afrika weht, ist kein gewöhnlicher Wind. Er ist ein rasender Orkan, gegen den die alte Ordnung machtlos ist“, wurde im Jahr 1960 auf der All-African Peoples' Conference in Tunis stolz verkündet. In diesem Jahr, das als „afrikanisches“ Jahr in die Geschichte einging, herrschte Aufbruchstimmung auf dem afrikanischen Kontinent: 17 Staaten erlangten die Unabhängigkeit. Doch in welche Richtung wehte dieser Wind?
Die Euphorie über die gewonnene Freiheit hat nicht lange angedauert. Noch während die afrikanischen Menschen über die errungene Unabhängigkeit jubelten, schmiedeten die Herren der alten Ordnung bereits Pläne, ihnen die Freude zu verderben und zwar langfristig. Sie machten ihre ehemaligen Diener zu Präsidenten und übergaben ihnen die Führung ihrer Länder. Posten in Regierungen, bei der Polizei oder im Aufsichtsrat der Banken wurden durch andere Personen ersetzt. Doch die neuen Herrscher hatten von ihren Vorgängern das System von Herrschen und Dienen gelernt. Ambitionierte Politiker dagegen, die den Willen und die Fähigkeit hatten, den afrikanischen Völkern zu dienen, wurden ins Gefängnis verbannt oder zum Tode verurteilt.
Heute ist die Erkenntnis zu Gewissheit geworden: Die politische Unabhängigkeit hat die afrikanischen Länder nicht befreit. Doch was waren die Barrieren, die eine eigenständige Entwicklung behinderten? Die Kolonialisierung diente der Befriedigung des Bedarfs der Industrie in Europa und Nordamerika nach günstigen Rohstoffen. Deshalb waren die Industrieländer auch nach der Unabhängigkeit daran interessiert, diese Verhältnisse aufrecht zu erhalten und hatten wenig Motivation, eine eigenständige Entwicklung und den Aufbau einer afrikanischen Industrie zu unterstützen.
Die politische und wirtschaftliche Unterdrückung war aber auch von einer kulturellen Bevormundung begleitet, und die afrikanischen Kulturen wurden als rückständig dargestellt. Mit der Zeit hatten die Kolonialisierten das Gefühl der eigenen Minderwertigkeit verinnerlicht und versuchten, die Kultur ihrer einstigen Herren zu kopieren. Der Arzt und Unabhängigkeitskämpfer Frantz Fanon sah in der Bewusstwerdung der Selbstentfremdung die Voraussetzung für die Befreiung.
In der Unabhängigkeitsbewegung entwickelten afrikanische PolitkerInnen und Intellektuelle Ideen für eine eigenständige Entwicklung. In vielen dieser Entwicklungskonzepte wird dem Kampf für die Wiedergewinnung der unterdrückten und vergessenen afrikanischen Kulturen eine bedeutende Rolle zugemessen. Der kenianische Schriftsteller Ngugi wa Thiong’o beschreibt Kultur als: „eine Art zu leben, geprägt von einem Volk in der kollektiven Anstrengung, zu überleben und mit seiner Umwelt fertig zu werden. Sie ist die Summe seiner Kunst, seiner Wissenschaft und all seiner sozialen Institutionen einschließlich des Systems von Glaubenssätzen und Ritualen“. (1)
Ujamaa: Experiment eines afrikanischen Sozialismus
Ein herausragendes Beispiel stellt das Entwicklungskonzept von Julius Nyerere dar, das er in seinem Heimatland Tansania zu verwirklichen versuchte. Viele interne Probleme in den neu gegründeten afrikanischen Staaten wurzelten in der Trennung zwischen den politischen Eliten und der Mehrheit der Bevölkerung. Oft standen von Europa importierte Konzepte im Widerspruch mit den Traditionen und kulturellen Eigenheiten und wurden von der Bevölkerung nicht akzeptiert. Aus dieser Erkenntnis heraus entwickelte Nyerere die Idee eines auf afrikanischen Traditionen basierenden Sozialismus.
Nyerere analysierte die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen seines Landes. Die besondere Situation der bäuerlichen Bevölkerung Tansanias war durch einen hohen Grad an Autonomie gekennzeichnet. Die landwirtschaftliche Produktion in Tansania war – wie in den meisten Teilen Afrikas – charakterisiert durch weit verstreute Produktionseinheiten, zumeist Familienbetriebe, die Subsistenzwirtschaft betrieben. Das zentrale Kriterium dieser Produktionsweise ist die Deckung der Bedürfnisse der Familiengemeinschaft und nicht die Mehrproduktion für den Markt. Bei dieser Ökonomie handelt es sich um ein ethisches System, das auf Verwandtschaftsbeziehungen und sozialen Verpflichtungen beruht. Das Individuum ordnet sich dem gemeinsamen Haushalt unter. Dafür kann sich jeder darauf verlassen, einen Anteil am Produkt der gemeinsamen Arbeit zu erhalten, niemand muss Angst haben, nichts zu essen oder keinen Platz zum Leben zu haben.
Aus der Struktur der tansanischen bäuerlichen Gesellschaft leitete Julius Nyerere seine Strategie für eine zukünftige selbständige ökonomische Entwicklung des Landes ab. Die Produktionsweise sollte auf einer Verbesserung der traditionellen sozialistischen Dorfgemeinschaft basieren: „In unserer traditionellen afrikanischen Gesellschaft waren wir Individuen innerhalb einer Gemeinschaft. Wir kümmerten uns um die Gemeinschaft und die Gemeinschaft kümmerte sich um uns. Wenn eine Gesellschaft so organisiert ist, dass man sich um ihre Mitglieder kümmert, dann sollte sich kein einziger in dieser Gesellschaft Sorgen darüber machen, was morgen mit ihm geschehen wird, wenn er heute keinen Reichtum gehortet hat – vorausgesetzt, dass er bereit ist zu arbeiten“. (1)
Eine moderne sozialistische Gesellschaftsordnung in Afrika ergibt sich nach Nyerere aus der Erweiterung der traditionellen Werte und Lebensweise innerhalb der ländlichen Großfamilie auf die gesamte Gesellschaft. Die soziale Solidarität und Gleichheit innerhalb der Familie sollte zum Leitbild auch innerhalb einer größeren sozialen Einheit werden. Neben der kollektiven Organisation der afrikanischen Gesellschaften wurde auch die traditionelle Form der Landnutzung zur Grundlage für ein afrikanisches Wirtschaftsmodell. Diese war gekennzeichnet durch das Fehlen von privatem Landbesitz, welcher erst durch die europäischen Kolonialherren nach Afrika importiert worden war.
Kujitegemea – Self Reliance
In der viel beachteten Arusha-Deklaration, die im Februar von der TANU (Tanganyika African National Union) veröffentlicht wurde, gewann Nyereres theoretische Ujamaa-Konzeption eine klare praktische und politische Gestalt. Diese Erklärung war zugleich als eine Reaktion auf den ausbleibenden Erfolg des ersten 1964 veröffentlichten 5-Jahres-Planes zu sehen, in dem noch auf ein Vorantreiben der Industrialisierung mithilfe ausländischer Investitionen gesetzt worden war. Mit der Arusha-Deklaration jedoch wurde eine Wende vollzogen. Als Kernpunkt für die Entwicklung des Landes sah Nyerere jetzt das Vertrauen in die Ausnutzung und Entfaltung der eigenen Ressourcen und Ideen, um die Abhängigkeit vom internationalen Kapital zu überwinden und eine ökonomische und politische Selbständigkeit zu erreichen. Das Land könne sich nur entwickeln, wenn der Schwerpunkt der Anstrengungen auf die Steigerung der ländlichen Produktivität gelegt wird, um damit die Voraussetzungen zu schaffen, dass Tansania „auf eigenen Füßen stehen kann“.
In der zersplitterten individuellen Form der Landwirtschaft sah Nyerere ein Hemmnis für die soziale und politische Entwicklung, wie auch für die Einführung neuer Technologien und Produktionsweisen auf dem Land. Die Anlage von Ujamaa-Dörfer, konzentrierten Siedlungszentren, bildete deshalb ein zentrales Element der weiteren Entwicklungsstrategie. Der Zusammenschluss zu größeren Produktionseinheiten bildete die Voraussetzung für eine Modernisierung der Landwirtschaft, außerdem sollte die politische Partizipation und die Versorgung der Dörfer mit Schulen auf diese Weise sichergestellt werden.
Dabei, betonte Nyerere, gebe es keinen vorgeschriebenen Weg für Ujamaa, sondern jedes Dorf müsse seinen Weg selbst festlegen und zwar gemeinschaftlich. Bildung solle traditionelles mit modernem Wissen verknüpfen und nicht primär auf dem Schreibtisch stattfinden, sondern den Heranwachsenden praktische Fähigkeiten vermitteln, etwa wie sie sich und ihren Familien gute Nahrung verschaffen oder Werkzeuge herstellen können. Die Schulen sollten unabhängig sein, durch eigene Farmen versorgt werden und den SchülerInnen ein hohes Maß an Mitbestimmung gewährleisten.
Theorie und praktische Umsetzung
Nachrichtenmeldungen über Flüchtlingsboote voll von Menschen, die ihr Leben riskieren, um in die Festung Europa zu gelangen, schreien es in die Welt hinaus: Die Hoffnungen der afrikanischen Menschen auf Freiheit und Unabhängigkeit haben sich nicht erfüllt. Immer mehr Länder auf dem afrikanischen Kontinent sind durch zunehmende Verschuldung und dem Rückgang der Produktion gebeutelt und können ihren EinwohnerInnen immer weniger Zukunftsperspektiven bieten. Der südafrikanische Schriftsteller Breyten Breytenbach zieht die bittere Bilanz: „Die Auflösung Afrikas gereicht dem Norden zum Vorteil, selbst wenn man zwingend für das Gegenteil argumentieren könnte. Allein durch die Erfüllung seines Schuldendienstes exportiert oder ‚repatriiert’ Afrika mehr Geld, als es verdient oder an Hilfe erhält. Nimmt man dies zu der brutalen Tatsache hinzu, dass das Durchschnittseinkommen in Afrika während des letzten Jahrzehnts ständig zurückgegangen ist, dass Afrika einen schrumpfenden Anteil an den Weltmärkten aufweist, dass ein langsamer, aber anhaltender Abzug ausländischer Investoren zu verzeichnen ist – dann hat man die hervorstechenden Merkmale des sinkenden Schiffes Afrika vor Augen“. (1)
Julius Nyerere ist mit seiner Philosophie, die sich mehr an Moralvorstellungen als an wirtschaftlichen Berechnungen orientierte, an den harten Bedingungen der Wirklichkeit gescheitert. Die Realität klaffte weit mit den idealistischen Ansprüchen auseinander. Wenn auch beachtliche Erfolge im Bereich der Alphabetisierung und der Gesundheitsversorgung erzielt wurden, konnten in der ökonomischen Entwicklung nicht die gewünschten Ergebnisse erreicht werden. Die Gründe dafür sind komplex und umfassen innere Ursachen wie Mängel in der Planung und begrenzte finanzielle Ressourcen. Einer der Hauptgründe für das Scheitern von Nyereres Ujamaa-Modell aber liegt in der Abhängigkeit afrikanischer Ökonomien vom System des Weltmarkts, weil die innenpolitische sozialistische Ordnung das Land nicht von der globalen kapitalistischen Marktlogik befreien konnte. Nyerere zog die Konsequenz aus dem Scheitern seines Projekts und trat zurück. Dennoch war es ihm gelungen, ein nationales und kulturelles Bewusstsein zu schaffen, das bis heute die Basis für die politische Stabilität bildet, welche Tansania von vielen anderen afrikanischen Staaten unterscheidet, die durch Stammeskonflikte und Bürgerkriege zerrüttet sind. Darüber hinaus diente Nyereres Modell in Afrika als Ausgangspunkt für zahlreiche Diskussionen über eigenständige Entwicklungsmodelle. (vgl. 2)
Mit der Zielsetzung, sich aus eigener Kraft heraus zu entwickeln, wurden in verschiedenen Ländern der so genannten „Dritten Welt“ unterschiedliche Entwicklungskonzepte erarbeitet. Als einzelne Entwicklungsprojekte hatten und haben diese Versuche oft erstaunliche Erfolge zu verzeichnen, in einem größeren Umfang – etwa im Rahmen eines Staates – haben sie aber nicht bis heute überlebt. Aber ist es nur das Scheitern, das die Bedeutung dieser Projekte bestimmt? Sind es nicht vielmehr die kühnen Experimente und visionären Ideen, die uns Inspiration auf unserer Suche nach neuen Wegen und Strategien geben können?
Quellen:
(1) Björn Jungius: Zum Zusammenhang zwischen Kultur und politischer Effizienz: Nyereres Konzept des Ujamaa als Modell kulturspezifischer Entwicklungsstrategie, Berlin 2000. http://www.africavenir.org/
(2) Frank Bliss, Florian Schlichting: Julius Nyerere (1922-1999) Ideale eines dörflichen Sozialismus, - In: E+Z Entwicklung und Zusammenarbeit, Nr. 12, Dezember 1999, S. 345-347. http://www.inwent.org/E+Z/zeitschr/ez1299-5.htm
Schriften von Julius K. Nyerere:
1966: Freedom and Unity. A Selection from Writings and Speeches 1952-65. Dar es Salaam 1968a: Freedom and Socialism. A Selection from Writings and Speeches 1965-1967. Dar es Salaam 1968b: Ujamaa. Essays on Socialism. Dar es Salaam 1973: Freedom and Development. A Selection from Writings and Speeches 1968-1973. Dar es Salaam (dt. in Auszügen 1975: Freiheit und Entwicklung. Stuttgart, Dienste in Übersee) 1977: Bildung und Befreiung. Texte zum Kirchlichen Entwicklungsdienst 14. Frankfurt
erschienen in: Talktogether Nr. 29/2009
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