Indien: Erziehung bei der indigenen Bevölkerung PDF Drucken E-Mail


Universität des Lebens

Normalerweise kreisen unsere Vorstellungen im Rahmen des uns Bekannten und Vertrauten. Was darin nicht hineinpasst, erscheint uns fremd und exotisch oder wird zur Projektionsfläche unserer eigenen verborgenen Phantasien. Begeben wir uns auf die Reise jenseits dieses Rahmens…

Genauer gesagt, in die abgelegenen Hügelländer Zentralindiens. Hier leben Völker, die für ihre einzigartigen Bräuche bekannt sind. Sie werden Gond genannt, was vom Telugu-Wort „Konda“ abgeleitet ist und Hügel bedeutet. Im Jahre 1200 existierten vier Gond-Königreiche. Bis heute ist es diesen Völkern gelungen, ihre Unabhängigkeit und ihre ursprüngliche Lebensweise weitgehend zu bewahren. Deshalb sind die Gond-Völker ein Anziehungspunkt für zahlreiche Forscher geworden. Während einige der Gond-Völker vom Hinduismus und hinduistischen Bräuchen beeinflusst sind, leben andere, wie die Abhuj Maria bewusst zurückgezogen und haben ihre ursprüngliche Lebensweise behalten. Sie bebauen das Land noch heute in archaischer Weise: Teile des Waldes werden abgeholzt, kultiviert und nachher wieder der Regeneration überlassen. Sie betreiben Hackbau und lehnen die Verwendung des Pfluges ab, weil dieser ihrer Anschauung nach die Erde verletzt.

Bekannt sind die Gond auch für die herausragende Rolle, welche die Kunst und Feiern in ihrem gesellschaftlichen Leben spielen, vor allem die Kunst der Holzschnitzerei. Außerdem haben die Gond spezielle Kenntnisse über die Geheimnisse der medizinischen Pflanzen, die von Generation zu Generation übergeben werden. Weil es in ihren Siedlungsgebieten kaum eine Gesundheitsversorgung gibt, wenden die Gond bis heute die traditionellen Heilmethoden an.

Worin sich die Gesellschaften der Gond von der indischen Mehrheitsgesellschaft vor allen Dingen unterscheiden, ist in der gleichberechtigten Rolle, welche die Frauen in ihnen spielen. Von großem Interesse für Ethnologen ist eine Einrichtung, die bei den meisten Gond-Völkern noch heute praktiziert wird: der Ghotul, ein gemeinsames Haus für Jugendliche, zu dem Erwachsenen der Zutritt verwehrt bleibt.

K. L. Kamat, der als Gast in einem Ghotul aufgenommen wurde, beschreibt seine Eindrücke: „Die Anthropologen glauben, dass der Ghotul eine archaische Einrichtung ist. Er ist eine lebendige Universität. Es gibt keine Bücher oder Prüfungen, der Unterricht ist eine Ausbildung für das Leben. Die Studenten sind die Lehrer, und die Lehrer Studenten. Es ist ein wahres Wunderwerk. Typischer Weise liegt der Ghotul außerhalb des Dorfes. Lange bevor im Westen Universitäten zur Regel wurden, haben die Adivasi (wörtlich: Erste Siedler) einen Teil des Landes für die Erziehung der Jugendlichen reserviert. Im Garten des Ghotul wird Gemüse gepflanzt, und die Kinder werden ins Gemeinschaftsleben eingeführt. Der Ghotul ist ein kulturelles Zentrum, jedes Kind ab sechs Jahren ist automatisch Mitglied.“

„Gleichheit, Unkompliziertheit und Freiheit bilden den Stoff des Lebens im Ghotul. (…) Nachdem es im Ghotul keine Lehrer gibt, existiert auch die Vorstellung nicht, dass Lehrer und Schüler unterschiedlichen Generationen angehören“. Sexualität wird als etwas Natürliches angesehen, das von den Heranwachsenden – wie alle anderen Dinge – auf spielerische Weise gelernt wird: „Buben und Mädchen verabreden sich ab dem Alter von zehn Jahren“, weiß Kamat zu berichten.

Jahrhunderte ist man in Europa davon ausgegangen, dass das Patriarchat seit Anbeginn der Menschheit existiert habe. Alles, was nicht in dieses Bild passte, fiel bestenfalls in die Kategorie „sonderbare Bräuche“. Doch 1861 stellte das Werk des Schweizer Forschers Johann Jakob Bachofen „Das Mutterrecht“ diese Prinzipien auf den Kopf. Bachofen beschreibt hierin, dass der patriarchalischen Gesellschaft eine menschliche „Urgesellschaft“ vorausgegangen sei, in der die Mutter das Haupt der Familie war. Diese Entdeckung basiert vor allem auf seiner Analyse der griechischen Mythologie. Der Auslöser für den Sturz des Matriarchats war nach seiner Theorie die fortgeschrittene Produktionsweise und die Einführung des Privatbesitzes.

Bachofens Ansichten wurden kurz darauf durch die Entdeckungen des amerikanischen Ethnologen Lewis Henry Morgan gestützt, die er in seinem Werk „Ancient Society“ beschrieb. Morgan hatte bei seinen Untersuchungen bei den UreinwohnerInnen von Hawaii die Punalua-Familie entdeckt, eine Form der Gruppenehe, die vor der uns bekannten Monogamie existierte. Zahlreiche historische Untersuchungen und Forschungen über in ihrer Ursprünglichkeit erhaltene Lebensweisen von  Völkern auf verschiedenen Kontinenten haben seither die Existenz vorpatriarchalischer Gesellschaftsordnungen bewiesen.

Die Lebensweise der indischen Adivasi liefert uns somit Einblicke in die Menschheitsgeschichte. Die Freiheit, welche die Einrichtung des Ghotul Jugendlichen gewährt, erscheint höchst erstaunlich. Wenn wir uns aber unter Freiheit vorstellen, individualistische Wünsche zu befriedigen, wie es uns durch den Freizeitkult unserer modernen Konsumgesellschaft suggeriert wird, werden wir enttäuscht sein. Hier handelt es sich um eine Gesellschaftsordnung mit strengen Regeln, in der die persönlichen Interessen dem Wohl der Gemeinschaft untergeordnet sind.

Archaische Gesellschaften kämpfen ums Überleben

Das Überleben der indigenen Gemeinschaften ist in Indien heute immer mehr bedroht durch so genannte Entwicklungsprojekte. Ein Beispiel dafür sind die gigantischen Staudammprojekte im Narmada-Tal, durch die Hunderttausende – zum großen Teil Angehörige der Adivasi – aus ihren traditionellen Siedlungsgebieten vertrieben werden. Hier prallen unterschiedliche Welten aufeinander – auf der einen Seite die städtische Mittelschicht mit ihren Konsumbedürfnissen und der dadurch steigende Bedarf an Wasser und Strom, andrerseits die Urbevölkerung mit ihrer selbstgenügsamen und ökologisch nachhaltigen Lebensweise. Noch vor kurzem war der Boden Kollektiveigentum der jeweiligen Dorfgemeinschaft gewesen, und die Gemeinschaftsmitglieder besitzen demnach keine Urkunden für ihre Bodenrechte.

Vor allem die gleich berechtige Stellung der Frauen ist durch die Umsiedlung bedroht. In den Umsiedlungskolonien werden von der Regierung nämlich nur die männlichen Haushaltsvorstände zu den formellen Eigentümern der neuen Häuser und Felder anerkannt. Hinzu kommt, dass die Bauern auf dem ihnen zugewiesenen meist wenig fruchtbaren Land gezwungen sind, auf industrialisierte Landwirtschaftsmethoden zurückzugreifen, um zu überleben. Sie müssen Hybridsorten anpflanzen, die zwar höhere Erträge liefern, dafür aber steril sind. Für jede Ernte muss so neues Saatgut, chemischer Dünger und Pestizide gekauft werden, da die Hybridsorten sehr anfällig sind. Das Prinzip der Subsistenzwirtschaft lässt sich unter diesen Bedingungen nicht fortführen, und die Umgesiedelten sind den unbarmherzigen Gesetzen des Marktes ausgesetzt, die Kleinbauern und -bäuerinnen kaum Überlebenschancen lassen.

Schnell zeigte sich für die Adivasi-Gemeinschaften im Narmadatal, dass sie sich Gehör verschaffen mussten, um ihre Lebensgrundlage und ihren Lebensstil zu verteidigen. Rasch lernten die Menschen dazu und begannen, sich in der Bewegung „Narmada Bachao Andolan“ („Rettet die Narmada“) zu organisieren. Dabei wurden sie von zahlreichen engagierten Menschen unterstützt, allen voran die Ökologin Medha Patkar. Zusätzlich zu den Widerstandsaktionen wurden von der Bewegung auch Mikro-Hydro-Damm-Projekte zur Bewässerung und Stromgewinnung entwickelt, sowie Schulen errichtet, in denen Adivasi-Kinder auch politisch ausgebildet werden.

Vor allem die Frauen erkannten sehr schnell, dass es bei diesem Kampf auch um die Verteidigung ihrer traditionellen Rechte geht, und kämpften mit größter Entschlossenheit. Die Aktivistin Sapna erzählt: „Es beteiligen sich sehr viele Frauen in der NBA. In Maheshwar, Sardar Sarovar oder in den Stammesgebieten gibt es eine große Zahl sehr aktiver Aktivistinnen. Frauen sind immer in der ersten Reihe, ob bei Sit-Ins, Demonstrationen oder Großkundgebungen. Wenn Frauen Aufträge bekommen, erfüllen sie diese gewissenhafter als die Männer und auch bei der Mobilisierung in den Dörfern leisten Frauen mehr als die Männer.“

Durch Arundhati Roys leidenschaftlichen Essay „The Greater Common Good“ wurden die Anliegen der Menschen im Narmada-Tal auf der ganzen Welt bekannt. Immer wieder konfrontierte die NBA die Verantwortlichen der verschiedenen Projekte mit ihrem Widerstand. Durch zahlreiche Protestaktionen wie der Baustellenbesetzung des Maheshwar Staudamms und die Solidarität aus dem In- und Ausland konnte sie wichtige Teilerfolge erzielen. Die Bewegung erreichte den Ausstieg der Weltbank beim Sardar Sarovar Projekt und einen mehrjähriger Aufschub der Bauarbeiten durch eine Anordnung des Obersten Gerichtshofs, sowie den Ausstieg verschiedener multinationaler Unternehmen aus dem Projekt, darunter Siemens und die Hypovereinsbank.

Obwohl riesige Staudammprojekte ökologisch bedenklich sind und sich zudem herausgestellt hat, dass die Kosten weit höher sind als kalkuliert, konnten weitere Bauarbeiten an einigen der Staudämme im Narmada-Tal nicht verhindert werden und Zehntausende AnwohnerInnen wurden bereits vertrieben. Ein Großteil davon erhielt keine oder nur einen geringen Teil der versprochenen finanziellen Kompensationszahlungen, andere warten schon seit Jahrzehnten auf ihre Entschädigung oder landeten in den Slums der Großstädte.

Quellen:

K.L. Kamat: The Ghotul System of Education:
www.kamat.com/kalranga/bastar/ghotul.htm

Umbruch Bildarchiv:
http://www.umbruch-bildarchiv.de/video/indien/sardar_sarovar_ staudamm.html

Arundhati Roy: The Greater Common Good:
www.narmada.org/gcg/gcg.html

Gaon Chodab Nahi: Diese Lied beschreibt die Ausbeutung des Landes der Adivasi im Namen von Fortschritt und Entwicklung: http://youtu.be/8M5aeMpzOLU

erschienen in: Talktogether Nr. 29/2009

 

 

 

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