Ulli Vilsmaier über Paulo Freire PDF Drucken E-Mail

„Die Welt lesen lernen“

Gespräch mit Ulli Vilsmaier über Paulo Freire und seine Bedeutung
im Europa des 21. Jahrhunderts

Talktogether: Du bist an der Leitung der Oficina - Entwicklung gestalten" beteiligt, die im Herbst 2009 in Salzburg stattfindet. Was ist die Idee dieses Workshops und wen wollt ihr damit ansprechen?

Ulli: Mit der Oficina wird ein Raum geschaffen, um über das Arbeiten mit und für Menschen zu reflektieren. Dabei können Erfahrungen aus beruflichen oder ehrenamtlichen Kontexten bewegt und aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet werden, sei es aus dem Bereich der Flüchtlingsarbeit, der Entwicklungszusammenarbeit, der Regionalentwicklung oder anderen sozialen, auch ökologischen Tätigkeitsfeldern. Doch über den Erfahrungsaustausch hinaus werden in der Oficina grundlegende anthropologische Fragen thematisiert, wie: Wie kann ich Verantwortung für andere übernehmen und gleichzeitig Grenzen wahren, also auch Verantwortung für mich selbst übernehmen? Wie kann ich in meinem eigenen Handeln Haltungen entdecken, die hinderlich sind für die verfolgten Ziele?

Gerade für Menschen, die sich aus innerer Überzeugung für gemeinschaftliche Anliegen einbringen, ist es wichtig, immer wieder einmal innezuhalten und das eigene Tun zu reflektieren. Weil unser Agieren, ob es nun beruflich oder ehrenamtlich ist, auf bestimmten Vorstellungen basiert, wie Zusammenleben funktioniert oder funktionieren sollte - also auf subjektiven Theorien, auf deren Basis wir handeln -, ist es so wichtig, diese immer wieder einmal anzusehen. Ziel ist es, unsere Vorstellungen von Welt und uns Selbst im Spiegel von ausformulierten Theorien und Ansätzen anderer Menschen zu reflektieren, um so auch theoretisches Wissen als Bereicherung für praktisches Arbeiten zu erleben.

Paulo Freire: „Niemand beginnt damit, das Wort zu lesen. Vor dem Wort lesen wir die Welt, um sie zu begreifen und zu interpretieren.“

Talktogether: Was ist der Hintergrund für diese Einrichtung?

Ulli: Oficinas sind in Brasilien Arbeits- und Denkräume, in denen gemeinsam reflektiert und Handlungsstrategien erarbeitet werden. Der brasilianische Pädagoge Paulo Freire hat in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor allem mit gesellschaftlich marginalisierten Menschen (Landlosen, AnalphabetInnen) in Lateinamerika gearbeitet, mit dem Ziel, mit ihnen gemeinsam ihre Lebenswirklichkeit zu verändern, indem er mit ihnen diese Wirklichkeit erschlossen hat. Er hat z.B. eine Alphabetisierungspädagogik entwickelt, die sich nicht am Erlernen von Buchstaben orientiert, sondern an der Lebenswelt der Menschen. Freire hat aber kein Programm formuliert, das von einem klassischen Lehrer oder Experten geleitet wird, sondern er ist gemeinsam mit den Menschen eingetaucht in die Themen, die sie bewegen, um auf diese Weise Veränderungsperspektiven zu generieren. Die Oficina Entwicklung gestalten sucht über den eigenen Handlungskontext hinaus Weltentwicklung besser zu verstehen, um die eigene und kollektive Handlungskompetenz in einer Welt voller Widersprüche zu erhöhen.

Talktogether: Was ist der Inhalt und wie ist der Verlauf einer Oficina?

„Dialog kann nur existieren, wo es einen Glauben gibt an den Menschen, an seine Macht zu schaffen und neu zu erschaffen und an seine Berufung, ein voller Mensch zu sein.“

Ulli: Die Grundstruktur sind ausgewählte Texte, welche die Basis für den Dialog bilden. Man liest gemeinsam und setzt sich mit dem Gelesenen auseinander. Beim dialogischen Erschließen eines Textes beleuchten wir ihn aus verschiedenen Perspektiven. Unweigerlich setzen wir das Gelesene in Beziehung mit unserem eigenen Leben, mit unseren eigenen Erfahrungen. In den Texten wird z.B. thematisiert, wie die Unterdrückten im Brasilien der 1960er Jahre mit ihrer Situation der Unterdrückung umgehen.

Viele Menschen haben selbst die Erfahrungen von Ohnmacht gemacht, z.B. in der Konfrontation mit dem Staatsapparat. Ohnmacht bedeutet aber Stillstand und Unbewegtheit, deshalb stellt sich die Frage, wie wir in dieser Situation mit Menschlichkeit agieren können. Die Auseinandersetzungen sollen Diskussionen auslösen, um zuerst Bewusstsein zu generieren, in welcher Situation ich mich selbst befinde, und dann weiterführen in die Frage: Wie kann ich die Situation auch anders sehen, wie kann ich eine andere Perspektive einnehmen und dadurch unter Umständen neue Wege entdecken? Auf diese Weise können Dinge ans Licht gebracht und reflektiert werden, die sonst im Untergrund bleiben würden.

Wenn wir uns z.B. mühen, Menschen in Notlagen zu helfen, um sein oder ihr Leben erträglicher zu machen, tun wir es im Wissen, dass er oder sie nur eineR von vielen ist – der berühmte Tropfen auf den heißen Stein. Wie können wir aber mit unserem Leiden an der Ungerechtigkeit umgehen oder mit dem Gefühl von Ohnmacht? Wie können wir sozial handeln, ohne uns selbst dabei zu verlieren? Wie kann Veränderung erreicht werden? Politischer Aktivismus braucht aus meiner Sicht vor allem ein klares Selbstbild. Sich die eigene Stellung in der Gesellschaft bewusst zu machen, kann hilfreich sein, sich von übertriebenem kollektiven Verantwortungsgefühl und Aktionismus zu befreien, welche letztendlich lähmend sein können.

Talktogether: Kannst du noch weitere Beispiele nennen?

„Erziehung kann entweder als Instrument dienen, die heranwachsende Generation in die Logik des herrschenden Systems einzubinden und Konformität hervorzubringen, oder sie kann eine Übung zur Freiheit werden, ein Instrument, mit dem Frauen und Männer mit der Realität kritisch und kreativ umgehen und entdecken, wie sie an der Umgestaltung ihrer Welt teilhaben können.“

Ulli: In der Entwicklungszusammenarbeit ist beispielsweise immer wieder zu hinterfragen, welcher Entwicklungsbegriff meinem Tun zugrunde liegt. Vielfach herrscht noch heute eine innere Haltung vor, die den/die andereN als unterentwickelt betrachtet, der/die Aufholbedarf hat, statt zu fragen, welche Potenziale er/sie hat und entfalten könnte… oder gar zu fragen, ob denn das eigene Modell so anstrebenswert ist, z.B. ob unsere treuen Begleiter – Stress und Hektik – zu ‚exportieren’ denn tatsächlich ein großer Zugewinn für die Welt ist. Werden Begriffe wie Entwicklung gemeinsam analysiert, d.h. wird nach den Welt- und Selbstbildern gefragt, die in den Begriffen stecken, so kann das neue Wege eröffnen, unsere subjektive Theorien transparent und bewusst zu machen.

Erst mit dem Bewusstwerden können die Konsequenzen dieser Vorstellungen gesehen und verwandelt werden, wie z.B. ein verschleierter Eurozentrismus, den man schon längst überwunden glaubt. Freire hat sich immer gegen jede Form von Paternalismus im Sinne von beherrschender Fürsorge gestellt. Wenn Fürsorge von der Haltung: "Ich weiß, was gut für dich ist" durchzogen ist, wirft sie Schatten auf alle Beteiligten und macht wirkliche Begegnung und Freundschaft unmöglich. Solche Hierarchien geben den "Hilfsbedürftigen" keine Chance, in autonomer Weise für sich einen Weg zu finden und binden einen selbst in negativer Weise.

„Freiheit bedeutet nicht die Aufhebung aller Grenzen, denn das gibt es nicht, sondern eine Verschiebung der Grenzen. Wenn die Strukturen keinen Raum für Dialog bieten, ist es notwendig diese zu verändern, anstatt auf den Dialog zu verzichten.“

Talktogether: Wie ist es möglich, Ideen und Konzepte, die in einer ganz anderen Umgebung und mit einer ganz anderen Zielgruppe entwickelt wurden, auf unsere Gesellschaft zu übertragen?

Ulli: Das mag aufs Erste tatsächlich verwundern. Ich habe aber bisher die Erfahrung gemacht, dass gerade die Distanz zu den Lebenswirklichkeiten, die in den Texten behandelt sind, Raum eröffnen, das Eigene anders zu sehen. Aus einer gewissen Distanz eben. Zudem ist es so erstaunlich und erhellend zugleich, dass die wesentlichen Fragen des Zusammenlebens in Raum und Zeit doch sehr beständig sind – wie die Sehnsucht nach Anerkennung, um die eigene Identität zu stärken, oder das Scheitern von Initiativen, wenn das äußere Vorhaben nicht mit der inneren Haltung übereinstimmt.

Talktogether: Danke für das Gespräch!

erschienen in: Talktogether Nr. 29/2009