Gespräch mit Naser aus Afghanistan PDF Drucken E-Mail

Gespräch mit Naser aus Afghanistan

"Die Talibanführer und Bin Laden leben, aber in Afghanistan sterben täglich viele Kinder an Hunger, Krankheiten und Kälte ..."

TALK TOGETHER: Wie lange lebst du schon in Österreich?

Naser: Ich lebe seit fast vier Jahren als Flüchtling in Österreich. Afghanistan habe ich mit meinen Eltern schon vor 15 Jahren verlassen, wir sind vor dem Krieg nach Pakistan geflohen.

TALK TOGETHER: Woran erinnerst du dich, wenn du an Afghanistan denkst?

Naser: Seit ich denken kann, herrscht Krieg in Afghanistan. Wegen seiner Lage im Herzen Asiens war Afghanistan schon immer von geopolitischen und strategischen Interesse für die Großmächte, zuerst waren es die Briten, dann die Russen und jetzt die USA. 1919 erlangte Afghanistan die Unabhängigkeit. In Afghanistan leben vier große Volksgruppen, die Paschtunen, die Hazara, die Tadschiken und die Usbeken und mehrere kleinere Volksgruppen. Die Hazara wurden immer benachteiligt und unterdrückt. Schuld daran war die ungerechte Aufteilung des Landes in Provinzen durch die Briten. Obwohl die Hazara die zweitgrößte ethnische Gruppe in Afghanistan ist, bekamen sie keine eigene Provinz, das heißt auch, dass sie niemals eine eigene Vertretung hatten, auch in der jetzigen Regierung nicht. Als der König regierte, war es den Hazara z.B. verboten, die militärische Hochschule zu besuchen (um zu verhindern, dass sie Machtpositionen z.B. als Generäle besetzten). Viele Hazara wurden in die Berge geschickt, wo das Leben sehr hart ist und viele vor Hunger gestorben sind. Das hat sich bis heute nicht geändert.

Afghanistan ist immer verkauft worden. Heute wird Ahmed Shah Massoud, der sog. „Löwe von Pandschir“ als Nationalheld verehrt. Im Pandschir-Tal gibt es Diamantenvorkommen. Massoud hat die Ressourcen des Pandschir-Tals an Frankreich verkauft und für das Geld Waffen gekauft. Heute sind seine Leute an der Macht. Diese haben Tausende Hazara brutal abgeschlachtet und ihre Dörfer zerstört (dafür gibt es Beweise z.B. Videoaufnahmen). Wie kann man so jemanden einen Held nennen? Ich will nicht verschweigen, dass sich die Hazara gewehrt und aus Rache auch Gräueltaten vollbracht haben. Es ist, meiner Meinung nach, eine Taktik der Imperialisten, die Volksgruppen gegeneinander auszuspielen. Wenn die Volksgruppen verfeindet sind, haben sie eine gute Chance, Einfluss zu gewinnen. In Peshawar, im benachbarten Pakistan gibt es zahlreiche afghanische Flüchtlinge. Sogenannte Hilfsorganisation aus Saudi Arabien und sogar aus Somalia waren dort aktiv. Viele haben afghanische Frauen geheiratet und sie dann, da die Frauen keinen Pass hatten, allein mit den Kindern zurück gelassen.

Nach 23 Jahren waren die Leute kriegsmüde, viele waren sogar froh als die Taliban an die Macht kamen, weil sie für Ruhe gesorgt hatten. Die Taliban - die „Koranschüler“ - waren eine Erfindung der Engländer, finanziert durch die USA und ausgebildet in Pakistan. Wie kommt es, dass Koranschüler, die nur lernen, Koranverse auswendig aufzusagen, so gut mit Raketen umgehen können? Die Hazara waren entschiedene Gegner der Taliban und haben gegen sie gekämpft. Als schiitische Minderheit wurden sie dabei vom Iran unterstützt, obwohl von Anfang an klar war, dass sie gar keine Chance gegen die Übermacht gehabt hatten. 12.000 Menschen wurden von den Taliban in Container gefangen gehalten, wo sie elendig erstickten. Die Taliban begannen die Leute zu entwaffnen. Wie bekannt ist, zerstörten sie Schulen, Universitäten, Krankenhäuser und die alten Buddhastatuen, die Frauen wurden grausam unterdrückt. Die Tora Bora Höhlen, wo sich Bin Laden angeblich vor den Amerikanern versteckt haben soll, wurden 1984 von US-Ingenieuren gebaut und dienten als Versteck im Kampf gegen die Russen.

Gründe für das Interesse der Imperialisten an Afghanistan sind Erdgasvorkommen und die geplante Pipeline, die Öl vom Kaspischen Meer durch Afghanistan nach Süden führen soll. Die Taliban haben sich aber nicht als gute Handlanger für die USA erwiesen. Sie hatten es nicht geschafft, die Leute ruhig zu halten und wurden von der Bevölkerung nicht akzeptiert. Deshalb haben sie Karsai eingesetzt, um ein besseres Investitionsklima zu schaffen. Beim Antritt der neuen Regierung wurde dann der ehemalige König als „Großer Vater der Afghanen“ gepriesen. Ein junger Hazara hat gerufen: „Wie sollte er mein Vater sein? Er hat unser Volk immer unterdrückt!“ Zwei Tage später war er tot. Als Vize-Präsidentin wurde eine Hazara-Frau eingesetzt, Dr. Sima Samar, wohl um der Weltöffentlichkeit zu beweisen, dass sich in Afghanistan etwas geändert hat. Allerdings wurde sie zwei Monate später wieder entlassen, weil sie in einem Interview gesagt hatte, sie sei nicht religiös. Der andere Vizepräsident, Hadschi Abdul Qadir, ein Haschisch-Händler, wurde von konkurrierenden Mafiabanden ermordet.

TALK TOGETHER: Wie ist die Lage heute in Afghanistan?

Das einzige was sich geändert hat ist, dass die Angehörigen der heutigen Regierung keinen Bart haben. Das ganze Land ist zerstört. Die Felder sind uranverseucht und das wird Auswirkung auf mehrere Generationen haben. Zahlreiche Menschen sterben an Hunger und die Frauen sind noch immer unterdrückt. Es hat sich höchstens in Kabul etwas geändert. Als Krieg war, haben US-Flugzeuge Essenspakete abgeworfen. Alle Fernsehsender weltweit haben das gezeigt. Wo sind heute die Hilfsorganisationen, wo die Not so groß ist? Wo bleibt die versprochene Hilfe beim Wiederaufbau?

TALK TOGETHER: Wie ist die Situation der afghanischen Flüchtlinge?

Naser:  Für afghanische Flüchtlinge hat sich die Situation heute sehr verschlechtert. Da die neue Regierung von der EU anerkannt worden ist, wird ihnen kein Recht auf Asyl mehr zugestanden. Viele Flüchtlinge werden wieder nach Afghanistan zurückgeschickt, weil für den Bau der Pipeline billige Arbeitskräfte benötigt werden. Wenn es Unwetter und Kälte gibt, fliegt eine Vogel an einen wärmeren, sicheren Platz. Genauso ist es mit den Menschen, sie suchen einen sicheren Ort zum Überleben. Viele haben alles verkauft was sie hatten, um die Schlepper zu bezahlen, die sie in die EU bringen. Wie kann denn ein Mensch illegal sein? Haben diese Menschen nicht auch ein Recht zu leben?

TALK TOGETHER: Wie fühlst du dich hier in Österreich?

Naser: Ich habe nette Freunde hier, aber leider gibt es viele Leute, die ausländerfeindlich sind. Ich hatte schon sehr unangenehme Erlebnisse mit Diskriminierung und schlechter Behandlung durch die Polizei. Hier habe ich leider auch überhaupt keine Chance auf Ausbildung. In Pakistan habe ich zwei Jahre Medizin studiert und wollte hier eine Ausbildung als Krankenpfleger machen. Aber am Arbeitsamt wurde mir gesagt, ich könne nur als Hilfspfleger arbeiten. Einmal habe ich mich als Abwäscher beworben. Aber ich wurde abgelehnt mit der Begründung, ich könne zu gut deutsch!?! Ich fühle mich nicht sehr wohl und habe psychische Probleme bekommen. Wenn ich in meinem Land leben könnte, würde ich gerne zurückgehen. In Afghanistan musst du Angst haben, nicht erschossen zu werden, aber hier stirbt die Seele. Ich bin Dichter und habe Sehnsucht danach, mich in meiner Sprache auszudrücken.

TALK TOGETHER: Was wünschst du dir für Afghanistan?

Naser: Afghanistan ist so ein schönes Land, die Natur ist wundervoll. Wenn du einen Apfel hast, brauchst du kein Parfum, so gut duftet er. Die Menschen sind gastfreundlich und stolz. Nur durch die schlechten Regierungen und den Einfluss des Kapitalismus wurde alles zerstört. Aber der Feudalismus ist noch sehr stark verankert, das ist auch ein Hindernis für Veränderungen. Ich wünsche mir, dass die Menschen in Frieden und gleichberechtigt leben können.

TALK TOGETHER: Was denkst du über die aktuelle politische Weltsituation?

Naser: Die USA will den Irak wegen angeblichen Besitzes von Massenvernichtungswaffen angreifen. Aber es waren die USA, die Atombomben über Hiroshima abgeworfen haben. Es darf keinen Krieg für Öl geben. Unser Land hat den Krieg erlitten und wir wissen, was der Krieg hinterlassen hat. Die Talibanführer und Bin Laden leben, aber in Afghanistan sterben die Kinder täglich an Hunger, Krankheiten und Kälte.  Bin Laden muss leben, denn er wird als Rechtfertigung für die Aktionen der USA benötigt. Nach einem Krieg gegen den Irak wird es dasselbe sein, Saddam Hussein wird leben, die Kinder werden sterben. Die Welt ist kein Cowboy-Movie, in der Realität sterben viele unschuldige Menschen!

erschienen in: Talktogether Nr. 2/2003