25. November – Internationaler Tag gegen Gewalt an Frauen
Living Dolls – Die Rückkehr des Sexismus
Natasha Walter: Lebende Puppen. Die Rückkehr des Sexismus
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Wenn es um Gewalt gegen Frauen geht, sieht man meist auf die armen unterdrückten Frauen in den Ländern des Südens oder auf MigrantInnen, die aus diesen Ländern stammen. Aber wie steht es mit uns Frauen in der „aufgeklärten, demokratischen und freien“ westlichen Welt? Die Untersuchungen, die britische Journalistin und Feministin Natasha Walter in ihrem Buch „Living Dolls“ (Lebende Puppen) veröffentlicht hat, zeigen ein erschütterndes Bild. Der tiefere Blick in die Realität offenbart nämlich, dass die Ungerechtigkeiten, gegen die Frauen in den 1960er und 1970er Jahren rebelliert haben, heute im 21. Jahrhundert keineswegs überwunden sind, sich heute nur in anderen Formen präsentieren.
Während die ökonomische Abhängigkeit der Frauen zwar abgenommen hat und sie scheinbar mehr Entscheidungsfreiheit haben, hat sich die Warenförmigkeit der Sexualität ausgeweitet, stellt Walter fest. Heute wird Sex nicht mehr als etwas Verbotenes angesehen, dafür stehen junge Frauen unter einem enormen Druck, immer Sex haben zu müssen, wenn die es sich die Männer in ihrem Leben wünschen. Frauen, die Walter für ihr Buch interviewt hat, beklagten eine Verarmung ihres Lebens, wenn die Sexualität zum Konsum verkomme und das Gefühl der Intimität verloren gehe. Die feministische Bewegung der 1970er Jahre hatte die Frauen ermutigt, ihre eigenen Wünsche einzufordern. Heute jedoch scheinen der Frauen noch immer nicht über ihre Sexualität selbst bestimmen zu können.
Die äußerliche Erscheinung und die Fähigkeit, Männer zu befriedigen, bestimmen noch immer den Wert der Frau. Natasha Walters Untersuchungen brachten zu Tage, dass die Hälfte der weiblichen Teenager sich wünschen, Supermodels zu sein. In Castingshows, kritisiert Natasha Walter, erlebten junge Frauen, dass jene, die dem vermeintlich objektiven Anspruch an weibliche Attraktivität nicht genügen, aussortiert werden. Frauen und Mädchen lernen dabei, dass der Weg zur Selbstverwirklichung der Frau unvermeidlich über die Perfektion ihres Körpers führe, und wachsen mit einer sehr verengten Sicht auf, was es heißt, eine Frau zu sein. In ihren Untersuchungen stellte Walter fest, das bereits acht- bis neunjährige Mädchen einseitige Rollenbilder internalisiert haben. Nicht die intellektuelle oder emotionale Entwicklung bestimme ihrer Vorstellung nach den Wert einer Frau, sondern die körperliche Anziehungskraft. Schon sechsjährige gaben an, dünner sein zu wollen, als sie es sind, und eine von vier 16-jährigen Mädchen denkt bereits über plastische Chirurgie nach.
Walter hat mit Frauen gesprochen, die sich vom Frauenbild, das der zunehmende Konsum von Pornographie, die heute leicht über das Internet zugänglich ist, in den Köpfen der Männer erzeugte, unter Druck gesetzt fühlen. Diese werden dadurch ermutigt, Frauen als Objekte ihrer sexuellen Phantasien zu anzusehen. Eine weitere Folge ist die Zunahme von plastischer Chirurgie einschließlich des Intimbereichs. Freiwillige Beschneidung? Die Pornographie hat also dazu geführt, dass Frauen glauben, es gäbe für ihre Schamlippen nur ein einziges korrektes Aussehen!
Die „Hypersexualisierung“ der Gesellschaft ist laut Walter oft als Zeichen der weiblichen Emanzipation missverstanden worden, tatsächlich sei sie nicht nur verwurzelt in fortschreitender Ungleichheit, sondern produziere noch mehr Ungleichheit. Untersuchungen im Rahmen des Forschungsprojekts Lillith im Londoner Stadtteil Camden haben ergeben, dass die Fälle von Vergewaltigungen und sexueller Belästigung auf den Straßen deutlich zugenommen haben, seitdem dort vier Lap-Dancing-Clubs eröffnet haben. KritikerInnen von Pornographie oder sexistischer Werbung stehen aber heute oft isoliert da.
Des Weiteren zeigt die britische Feministin auf, wie diese Ungleichheit durch eine biologisch-deterministische (Pseudo)Wissenschaft verschleiert und gerechtfertigt wird. Biologischer Determinismus, der behauptet, menschliches Verhalten sei mehr von Genen und Hormonen bestimmt, als von sozialen Normen und internalisierten Stereotypen beeinflusst, regiert heute in vielen Universitäten und in den Medien. Demnach werden Unterschiede in den Leistungen und Begabungen sowie im Verhalten und im Denken zwischen Männern und Frauen mit biologischen Unterschieden im Gehirn erklärt.
Das Gegenteil beweist eine Studie, die an Londoner Taxifahrern durchgeführt wurde. Das Gehirn der Testpersonen wurde vermessen und mit Kontrollpersonen des gleichen Alters verglichen. Das Ergebnis war verblüffend: Der hintere Teil des Hippocampus dieser Taxifahrer war signifikant größer als der der Kontrollpersonen, und sein Volumen war umso größer, je länger die Person als Taxifahrer tätig gewesen war. Dieser Teil des Gehirns speichert die Raumorientierung und wächst offensichtlich mit zunehmenden Navigationsfähigkeiten. Dieses Beispiel beweist, dass sich das Gehirn auch im Erwachsenalter physisch verändert, je nach den Erfordernissen und Herausforderungen der Umwelt.
Biologisch deterministische Erklärungen führen zu der fatalistischen Meinung, dass Geschlechterunterschiede unvermeidlich und unveränderbar seien. Deshalb müssen diese pseudo-wissen-schaftlichen Rechtfertigungen für die herrschende Ungleichheit enthüllt und angefochten werden. Leider werden aber Forschungsergebnisse, die diese Erklärungen bestätigen, heute häufiger veröffentlicht und durch Massenmedien verbreitet.
Als Natasha Walter ihrem Verleger mitteilte, dass sie den Untertitel „Die Rückkehr des Sexismus“ für ihr neues Buch wünsche, fragte dieser erstaunt, ob der Sexismus denn nicht von der Frauenbewegung schon längst niedergerungen worden sei. Doch Walter kommt zu dem Schluss, dass der Sexismus nie verschwunden war, auch wenn es eine Zeit gab, in der er weniger offensichtlich war, sondern weiter lebt mit dem Unterschied, dass die Kräfte des Marktes viel stärker geworden seien und Frauen heute vielfach freiwillig mitmachen.
erschienen in: Talktogether Nr. 34/2010
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