Gespräch mit Rainald Grugger
Lehrer an der Rudolf-Steiner-Schule Salzburg
Talktogether: Seit wann organisieren Sie die Gedenkveranstaltung zum 9. November auf dem Alten Markt? Wie ist diese Initiative entstanden?
Rainald Grugger: An unserer Schule haben wir im Abschlussjahr immer eine große Projektarbeit. 2005 wollte ein Schüler, sein Name war Darwin Kuhn, eine Arbeit über das Thema Nationalsozialismus machen. Ich riet ihm, sein Vorhaben zu konkretisieren und in Salzburg Recherchen anzustellen. Da diese Projektarbeit auch immer einen praktischen Teil beinhaltet, hatte er die Idee, dazu eine Veranstaltung zu organisieren. Da habe ich ihm etwas vorgeschlagen, was ich schon lange in mir herumgetragen habe, nämlich am 9. November eine Gedenkveranstaltung zur Reichspogromnacht im Jahr 1938 durchzuführen. In vielen Städten in Deutschland und Österreich ist das bereits Tradition, aber in Salzburg hat es das nie gegeben. Deshalb war es mir ein großes Anliegen, auch hier ein Zeichen zu setzen. Auch ihm wurde es dann ein Anliegen und wir haben es gemeinsam auf die Beine gestellt. Ein Jahr danach, als er in der Maturaklasse war, hat er noch einmal mitgeholfen. Weil wir überzeugt sind, dass es ein gutes Projekt ist, haben wir uns entschlossen, weiter zu machen.
Talktogether: Was war Ihr persönlicher Beweggrund und was möchten sie damit bei den Schülern und Schülerinnen und bei der Bevölkerung erreichen?
Rainald Grugger: Mir war die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Verfolgung schon immer ein wichtiges Thema in der Arbeit mit den SchülerInnen. Je länger ich jedoch daran gearbeitet habe, desto deutlicher wurde mir, dass ich diese Thematik nicht immer nur theoretisch abhandeln, sondern auch mit einer Tat verbinden wollte. Da hat sich das Datum 9. November angeboten, eine Veranstaltung zu machen. Einerseits geht es hier darum, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen und ein Gedenken für die Opfer zu schaffen. Wir haben in Salzburg über Jahrzehnte Gedenkfeiern für die Gefallenen gehabt, aber für die Opfer der Verfolgungen gab es nichts. Deshalb war es mir ein Anliegen, hier einen Kontrapunkt zu schaffen zu diesen Feiern, die am 1. November an den Kriegerdenkmälern im Kommunalfriedhof und anderswo stattfinden. Zum anderen möchte ich den SchülerInnen etwas mitgeben, um einen Beitrag zu leisten, damit so etwas nie wieder geschieht.
Talktogether: Wie behandeln Sie das Thema Nationalsozialismus im Unterricht?
Rainald Grugger: Schon seit vielen Jahren kommt Herr Marco Feingold von der israelitischen Kultusgemeinde in die 9. oder 10. Schulstufe um in einer Doppelstunde als Zeitzeuge über seine Erfahrungen und Erlebnisse zu berichten. Darüber hinaus haben wir eine Projektwoche in Weimar, wo wir zwei Tage in der KZ-Gedenkstätte Buchenwald verbringen. In diesen Zusammenhang gehört auch die Veranstaltung zum 9. November. Darüber hinaus machen wir am 21. September beim Weltfriedenstag mit, der vom Salzburger Netzwerk für Frieden und Gewaltfreiheit organisiert wird und schon drei Mal an unserer Schule stattgefunden hat. Diese Veranstaltung richtet sich an die Gegenwart und Zukunft, während die andere einen Blick auf die Vergangenheit, auf einen Höhepunkt der Unmenschlichkeit in der Menschheitsgeschichte, wirft.
Talktogether: Wie sind die Reaktionen der SchülerInnen?
Rainald Grugger: Für die SchülerInnen ist die Begegnung mit Herrn Feingold und mit Buchenwald eine tiefgreifende, in manchen Fällen auch existenzielle Erfahrung. Daraus entsteht dann bei einigen – nicht bei allen – das Bedürfnis bei dieser Aktion am 9. November mitzumachen. Die Beteiligung ist freiwillig, es handelt es sich hier nicht um ein Klassenprojekt, es ist vielmehr so, dass aus allen Klassen der Oberstufe ein paar SchülerInnen mitkommen.
Talktogether: Gibt es auch SchülerInnen, die sich nicht mit diesem Thema auseinandersetzen wollen?
Rainald Grugger: Nein. Das gibt es eigentlich nicht, diese Erfahrung habe ich zumindest bisher noch nicht gemacht. Manchmal gibt es SchülerInnen, die nicht in die Gedenkstätte Buchenwald mitgehen wollen, weil sie Angst haben, dass sie es psychisch nicht ertragen könnten. Aber ich habe aus eigener Erfahrung gelernt, dass ich das Thema nicht überstrapazieren darf. Mir hängt nämlich noch der Ruf nach: „Das ist dem Herrn Grugger sein Lieblingsthema“. Es muss manchmal seinen Platz haben, und dann ist das Interesse groß. Die SchülerInnen mögen es aber nicht, wenn ein Lehrer sie zu sehr nur mit einem Thema konfrontieren und sie dafür gewinnen will, sich dafür besonders zu engagieren. Sie lehnen es ab, wenn eine suggestive Wirkung auf sie ausgeübt wird, dann gehen sie – gerade im Jugendalter – in Opposition. Davor sollte man sich hüten.
Talktogether: Welche Fächer unterrichten Sie?
Rainald Grugger: Ich unterrichte Geschichte, früher habe ich auch noch Deutsch und Philosophie unterrichtet.
Talktogether: Wird die Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus auch in Zusammenhang gebracht mit aktuellen Ereignissen wie dem Rechtsruck in Österreich und ganz Europa?
Rainald Grugger: Ja, natürlich. Im Augenblick ist das leider wieder aktueller als je zuvor. Heute tritt Rassismus wieder offener auf als es früher war und nimmt politisch zu. In manchen osteuropäischen Ländern wie beispielsweise Ungarn ist er noch weit massiver und viel offener als hier in Österreich. Es gibt Übergriffe auf Sinti und Roma und sogar Lynchmorde, in den Medien wird offen Antisemitismus propagiert. Hier sieht man, dass die Dinge, von denen man glaubte, dass sie der Vergangenheit angehören, wieder ganz aktuell sind.
Talktogether: Wie kann man darauf reagieren? Die Menschen sind, wie man sieht, nach wie vor für diese Parolen empfänglich. Wie kann man dieser Tendenz entgegenwirken?
Rainald Grugger: Ich glaube, das Problem fängt eigentlich damit an, wie ich mit meinen Mitmenschen umgehe. Bin ich im täglichen Leben in der Lage, Andersartigkeit zu akzeptieren, und nicht nur zu akzeptieren, sondern sie auch anzunehmen und mich mit ihr auseinanderzusetzen? Und das muss gar nicht nur im kulturellen Kontext oder im Zusammenhang mit Lebensgewohnheiten oder Hautfarben sein. In jeder Klasse gibt es SchülerInnen, die in irgendeiner Weise anders sind und in die Gefahr kommen, Außenseiter zu sein. Daran muss man arbeiten. Das ist der eine Aspekt. Auf der anderen, der gedanklichen Ebene muss man pauschalisierenden Urteilen entgegentreten, also wenn gesagt wird, die Juden, die Zigeuner, die Nigerianer, die Deutschen sind so oder so... Man muss den jungen Menschen schon ziemlich früh beibringen, dass es falsch ist, solche Kollektivurteile zu fällen und dass es immer auf den einzelnen Menschen ankommt. Aber auch hier muss ich mich vor Urteilen hüten, wenn ich nicht in der Haut des Anderen stecke. Aber fragen Sie mich nicht, wie ich das machen würde, wenn ich nicht an der Walddorfschule wäre.
Talktogether: Mit rechten Parolen werden ja immer Ängste geschürt, irgendwer nimmt uns etwas weg. Sind es nicht die Unzufriedenheit mit dem eigenen Leben und Ängste, die Menschen für diese Propaganda empfänglich macht?
Rainald Grugger: Ja, richtig. Deshalb ist es wichtig, an der Stärkung des Selbstwertgefühls zu arbeiten. Den Menschen dabei zu helfen, mit sich selbst zu Recht zu kommen, ist eine wichtige erzieherische Aufgabe, und wenn es in der Erziehung nicht gelingt, eine therapeutische. Oft ist es ja so, wenn ich Ängste habe und mit mir selbst unzufrieden bin, suche ich etwas, wo ich meinen Frust abladen kann. Deshalb glaube ich, dass es ganz entscheidend ist, dass sich Menschen mit all ihren menschlichen Anlagen gut entwickeln können, um gefestigte Persönlichkeiten werden zu können. Das sehen wir in der Waldorfschule als unsere zentrale pädagogische und soziale Aufgabe an. Wie kann ich den Menschen dabei helfen, besser in sich selbst zu ruhen, oder zumindest zu erkennen, dass es mir nicht hilft, wenn ich die Probleme, die ich habe, auf andere projiziere, sondern dass ich meine Probleme selber lösen muss.
Talktogether: Denken Sie, dass es möglich wäre, dass es wieder zu einer ähnlichen Situation kommen könnte wie damals?
Rainald Grugger: Es ist ja nicht, so, dass solche Dinge heute nicht stattfinden, es gibt sie ja immer wieder an verschiedenen Orten der Welt, zum Beispiel in der Demokratischen Republik Kongo, in Darfour, wo sich schreckliche Dinge abspielen, oder in Ruanda, in Tschetschenien… Ich habe das Gefühl, dass wir hier in Mitteleuropa gerade durch die Geschehnisse von damals besonders gute Voraussetzungen haben, etwas zu verändern, und dass in den letzten 20 Jahren durchaus die Bewusstheit für diese Fragen ein höheres Niveau erreicht hat. Während früher der Verdrängungsmechanismus sehr stark im Vordergrund stand, ist in den letzten Jahrzehnten ein Prozess in Gang gekommen, der doch große Teile der Bevölkerung erfasst, so dass ich glaube, dass zurzeit bei uns eine solche Denkweise nicht mehrheitsfähig wäre. Ich habe stärkere Befürchtungen für manche der Länder, die bis vor zwanzig Jahren kommunistisch waren, was eigentlich absurd ist. Wahrscheinlich weil die Menschen dort unselbständig gehalten wurden und man versucht hat, ihnen von außen Humanität aufzuerlegen - was offenbar aber so nicht funktioniert - so dass dort heute Dinge leichter hochkommen können als bei uns. Eine interessante Tatsache ist auch, dass in Deutschland die Situation in den östlichen Bundesländern viel dramatischer ist. Doch obwohl es große Bevölkerungsgruppen gibt, in denen sich solche Tendenzen wieder ausbreiten, denke ich, dass diese nicht mehrheitsfähig sind, weil das Gegengewicht zu stark ist.
Talktogether: Wenn man in die Vergangenheit schaut, sehen wir, dass das jüdische Volk nicht das einzige Opfer von Ausgrenzung, Ausbeutung und Vernichtung war, es hat auch Sklavenhandel und Kolonialismus gegeben. Beschäftigen Sie sich auch mit diesen Themen?
Rainald Grugger: Ja, natürlich. Im Unterricht nehme ich gerne Namibia als Beispiel, und zwar deswegen, weil Namibia deutsche Kolonie war, und die Generalprobe des Völkermordes meiner Ansicht nach dort stattgefunden hat, und zwar in der Niederschlagung des Herero-Aufstandes 1904/05, wo mehr als vier Fünftel eines Volkes vernichtet wurden. Es gibt Forschungen, die Zusammenhänge festgestellt haben zwischen den Deutschen, die an den Morden 1905 in Namibia beteiligt waren, und denen, die in den 1930er Jahren den Holocaust vorbereitet haben. Hier sehen wir eine deutsche Tradition des Genozids. Die Herero waren vor allem Rinderzüchter, doch die Deutschen Kolonialherren hatten ihnen das Land weggenommen, so dass sie in existenzielle Nöte kamen, weil ihnen die Weideflächen fehlten. Es kam dann zu einem Aufstand, im Zuge dessen auch deutsche Farmer ermordet wurden. Dann wurde ein Heer aus Deutschland geschickt und der Aufstand in einer Schlacht niedergeschlagen. Darauf hat der Deutsche General, der das Oberkommando hatte, das ganze Volk mit Frauen und Kinder in die Wüste treiben und einen Sperrzaun um sie herum errichten lassen. Die Menschen hatten dort weder Wasser, noch Gras für ihre Viehherden. Dieser Völkermord wurde erst gestoppt, als 80 Prozent der Menschen verhungert und verdurstet waren. Es gab auch andere Vorfälle in anderen Kolonien, aber hier handelt es sich um ein besonders drastisches Beispiel. Die Herero beanspruchen heute eine Entschädigung, ähnlich wie afrikanische Länder es für die Sklaverei fordern. Die deutsche Bundesregierung stellt sich jedoch hier juristisch auf den Standpunkt, dass sie nicht Rechtsnachfolgerin des deutschen Kaiserreiches sei.
Talktogether: Wir finden die Gedenkveranstaltung am 9. November sehr wichtig und sind dankbar für Ihre Initiative. Wir haben aber festgestellt, dass viele Menschen davon nicht gewusst haben. Wie man könnte man noch mehr Menschen ansprechen?
Rainald Grugger: Diese Frage stelle ich mir auch oft. Ich bin Mitglied des Netzwerks „Nationalsozialismus und Holocaust – Gedächtnis und Gegenwart“, in dem viele Lehrer und Lehrerinnen erfasst sind. Über den E-Mail-Verteiler, dieses Netzwerks schicke ich die Information über die Veranstaltung aus, auch über das Friedensbüro und das Zentrum für jüdische Kulturgeschichte. Ich habe auch immer wieder zum Mitmachen eingeladen, aber bisher wenig Resonanz bekommen. Aber es gibt natürlich auch Schulen, die sich in anderen ähnlichen Projekten engagieren. Eva Navran, die im Zusammenhang mit dem Friedensbüro tätig ist, organisiert im April eine Gedenkfeier am Ignaz-Rieder-Kai für die Sinti und Roma, die durch den Nationalsozialismus umgekommen sind. Ihr ist es gelungen, dass jedes Jahr eine Schule mitmacht. In Maxglan gab es ein „Zigeunerlager“, in dem über 400 Menschen interniert waren, und von dort in die Konzentrationslager – zum Großteil nach Auschwitz – verschickt und dort getötet wurden. Wie gesagt gibt es Schulen, die verschiedene Projekte durchführen. Und dann gibt es noch das Projekt Stolpersteine – hier werden Gedenktafeln für Menschen aus Salzburg, die Opfer des Nationalsozialismus geworden sind, gesetzt – an denen halten wir vor der Feier auf dem Alten Markt Mahnwachen.
Talktogether: Können Sie uns mehr über die „Stolpersteine“ erzählen?
Rainald Grugger: Hier handelt es sich um ein gesamteuropäisches Konzept, das der deutsche Künstler Gunter Demnig initiiert hat und 2007 auch in Salzburg begonnen wurde. Es war Jahrzehnte lang ganz schwer gewesen, Gedenktafeln für Opfer an Häusern anzubringen, weil die Hausbesitzer das aus unterschiedlichen Gründen nicht haben wollten. Geschäftsleute fürchteten das Ausbleiben von Kunden, natürlich gab es auch welche, die sich mit der Sache einfach nicht auseinandersetzen wollten. Die Idee des Künstlers war nun, ein Gedenken auf öffentlichen Grund zu organisieren, indem man auf der Straße eine Messingplakette in der Größe eines Granitsteines herstellt, auf der der Name, das Geburts- und das Sterbedatum sowie der Geburts- und Sterbeort eines Opfers des Nationalsozialismus eingraviert sind. Die Bedingung ist, dass die Biographie dieses Menschen nachgewiesen und dokumentiert ist. Der Stolperstein sollte an der Stelle stehen, wo der letzte freiwillig gewählte Wohnort dieses Menschen gewesen war. (www.stolpersteine-salzburg.at).
Ich finde dieses Projekt besonders wichtig, weil man dadurch aus der Anonymität herauskommt. Es heißt nicht mehr, sechs Millionen Juden sind getötet worden, zwei Millionen russische Kriegsgefangene und ein paar Hunderttausende anderer Menschen, das sind abstrakte Zahlen und Dimensionen, wo man keine Vorstellung von Menschlichkeit mehr hat. Es geht um einzelne Menschenschicksale, Menschen wie du und ich, die geboren wurden, verheiratet waren, Kinder hatten oder noch kleine Kinder waren, als sie ermordet wurden. Wir legen auch Wert darauf, dass alle Opfergruppen bedacht werden, in Salzburg sind das Juden, Roma aus dem „Zigeunerlager“ Maxglan, Zeugen Jehovas, die als Wehrdienstverweigerer hingerichtet wurden, sowie Widerstandkämpfer, meistens Kommunisten und Sozialdemokraten aber auch katholische Geistliche. Bei der letzten Stolpersteinlegung im August ging es um zwei Benediktiner aus dem Kloster St. Peter. Es gibt jetzt fast 100 Stolpersteine, aber die Liste von Menschen, die Opfer des Nationalsozialismus wurden, ist noch lang. Hier möchte ich Gert Kerschbaumer erwähnen, der die Recherchen über diese Menschen in den Archiven macht, was eine ziemlich aufwändige Arbeit ist, und der auch die Führungen bei unserer Gedenkfeier leitet.
Talktogether: Woher kommt der Hass, der Menschen dazu bringt, ein ganzes Volk vernichten zu wollen?
Rainald Grugger: Ich denke, der Mensch ist ein Wesen, das zwischen Licht und Finsternis lebt. Jeder Mensch kann negative Seiten in seiner eigenen Seele erleben. Und dabei ist es ein psychologischer Mechanismus, dass ich die dunklen Teile der eigenen Persönlichkeit, das eigene Schattenwesen, wie es C.G. Jung nennt, nicht annehmen will und stattdessen mein Problem in die Außenwelt versetze und auf jemand anderen projiziere.
Das findet offenbar auch kollektiv statt. Und dazu kommt es, wenn eine Gesellschaft in Schwierigkeiten kommt, wie es in Deutschland und Österreich nach dem Ersten Weltkrieg der Fall war. Die Deutschen sind ja im Ersten Weltkrieg darauf hingetrimmt worden, wir sind die Größten, wir sind die Stärksten, wir werden den Krieg gewinnen und dann eine Weltmacht sein. Vor diesem Hintergrund hat die Niederlage mit den starken Demütigungen durch die Siegermächte eine Art kollektives Trauma ausgelöst.
So ein Prozess findet leider in der Welt immer wieder statt und man muss verstehen, wie gefährlich das ist. Besonders schlimm ist die Situation zurzeit im Nahen Osten, wo sich zwei traumatisierte Bevölkerungsgruppen gegenüberstehen, die Juden haben das Trauma im Holocaust und die Palästinenser durch den Verlust ihres Landes erlitten. Traumatisierungen werden auch auf die nächsten Generationen weiter gegeben. Dann passiert es, dass ich das Problem nach Außen versetze und mir ein Feindbild schaffe, auf das ich es projiziere.
Die Ausgrenzung und Verfolgung hat bei den Juden in Europa bereits im Mittelalter begonnen, weil sie damals die einzige Bevölkerungsgruppe waren, die völlig anders als die Mehrheit war. Auch im Mittelalter fanden die großen Judenpogrome in Krisenzeiten statt, z.B. in der Pestzeit, wo große Angst herrschte und den Juden die Schuld an der Pest zugeschrieben wurde. Adolf Hitler und die Nationalsozialisten haben nichts Neues erfunden, sondern nur das, was vor ihnen schon andere gedacht haben, in die Tat umgesetzt und das auf eine Art und Weise, die vorher nicht vorstellbar war. Man hat die Menschen eingeteilt in eine Hierarchie von Qualitäten, also in höher- und minderwertige Menschen, das ist der Grundgedanke, der dahinter steckt. Die einen seien die Herrenrasse, die Kulturschaffenden, und es sei für die Menschheit besser, wenn sie die Führung der Welt haben. Wenn ich heute mit Schülern Originalzitate und Zeitungsartikel aus der nationalsozialistischen Zeit bearbeite, kommt ihnen das völlig absurd vor und sie können sich in eine solche Denkweise gar nicht hinein versetzen. Die war aber damals zeitweise Mainstream, denn man konnte ja nur so den Kolonialismus, die Herrschaft über Afrika und Asien rechtfertigen, indem man sagte: Wir sind die Herrenrasse und können die anderen an unserer Kultur beteiligen, wenn sie uns dienen.
Dann kommt noch dazu, dass man sagte, es gäbe eine besondere Gruppe von Menschen, die nicht nur minderwertig sei, sondern auch gefährlich. Und das Böse und Gefährliche sei zu vernichten. Man hat dann naturwissenschaftlich argumentiert und als böse bezeichnete Menschengruppe mit Viren oder Parasiten verglichen. Viren und Parasiten muss man auszumerzen, weil sonst die Gefahr besteht, dass sie die Weltherrschaft übernehmen würden. Die Denkweise war, es gibt einen Kampf zwischen Gut und Böse und der wurde rassistisch erklärt. Heute hat sich so eine Denkweise interessanter Weise auf die religiöse Ebene verlagert und findet sich wieder bei fundamentalistischen Bewegungen, z.B. auch in den USA, wo sie den jetzigen Wahl beängstigenden Zulauf haben und reihenweise Leute für den Senat und das Repräsentantenhaus kandidieren, die eine solche Denkweise auf religiöser Ebene haben.
Talktogether: Ist das nicht politisch gesteuert? Die Menschen haben ja reale Probleme, Arbeitslosigkeit zum Beispiel, wird hier nicht bewusst die Schuld für soziale und wirtschaftliche Problem auf irgendwelche Sündenböcke gelenkt, um die wahren Ursachen zu verschleiern?
Rainald Grugger: Ja klar. Wovon ich geredet habe, ist die wahnwitzige Denkweise einer Sekte und nicht der Mehrheit. Die Frage ist aber, unter welchen Umständen gelingt es so einer Sekte, die Herrschaft über ein ganzes Volk zu erringen und die Zustimmung der Mehrheit zu bekommen. Dazu braucht es bestimmte soziale Bedingungen. Es ist ja nicht so, dass die Nationalsozialisten eine brutale Diktatur über das deutsche Volk errichten mussten, die meisten Menschen musste man ja gar nicht zwingen, mitzumachen, es war eine Minderheit, die Widerstand leistete und verfolgt wurde.
Talktogether: Durch ihre Schilderungen wird klar, dass hinter dem Hass auch immer eine große Angst steckt. Wovor haben die Menschen solche Angst?
Rainald Grugger: Ich glaube, jeder Mensch hat mit Angst zu tun. Es ist natürlich auch unsinnig zu glauben, wenn man eine Gruppe von Menschen beseitigt, könnte man auch die Angst beseitigen, das ist natürlich eine illusionäre Idee, die nicht funktioniert. Aber nicht nur die Angst spielt eine Rolle. Man darf nicht vergessen, dass man sich auch auf Kosten der Ausgegrenzten bereichern konnte. In Wien zum Beispiel herrschte in der Zwischenkriegszeit große Wohnungsnot. Wenn man zehn Prozent die Wohnungen wegnimmt, kann man zu einem gewissen Teil das Problem der Wohnungsnot lösen. Der Nationalsozialismus hat ja auch Sozialleistungen geschaffen, für diejenigen, die zur Volksgemeinschaft dazu gehörten. Wenn man eine Bevölkerungsgruppe wirtschaftlich völlig ausschaltet, ihnen ihren Besitz und ihre Unternehmen wegnimmt und sie anderen gibt, gibt es eine ganze Menge Nutznießer, die von diesem Raub an einem Teil der Bevölkerung profitierten, und das in einer wirtschaftlich sehr schwierigen Zeit. Und mit der Rechtfertigung, dass das ja die Bösen und Gefährlichen sind.
Talktogether: Vielen Dank für das Gespräch!
erschienen in: Talktogether Nr. 34/2010
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