Aegypten: Begegnung mit Nawal El Saadawi auf dem Tahrir Platz PDF Drucken E-Mail

FrĂĽhlingserwachen in Ă„gypten?

Nawal El Saadawi: Gedanken und Begegnungen auf dem Tahrir Platz

Sie ist schon gegen ägyptischen König und die britischen Kolonialherren auf die Straße gegangen, hat erlebt, wie die Stadt bei den schweren Unruhen 1952 in Flammen aufging, und wurde von Sadat ins Gefängnis geworfen. Heute kämpft die 80-jährige Nawal El Saadawi gemeinsam mit den jungen Menschen auf dem Tahrir Platz dafür, ein freies Ägypten zu erleben.

Seite an Seite mit Menschen, die seit ihrer Geburt nichts als Unterdrückung erlebt haben und trotz unterschiedlicher Überzeugungen für ein gemeinsames Ziel kämpfen, fühlt sich die unermüdliche Kämpferin für Gerechtigkeit, ihren Worten nach, als ob sie wiedergeboren sei. Am dem 6. Februar schreibt sie:

„Seit 12 Tagen und Nächten haben Millionen von ägyptischen Frauen und Männern, Muslime und Christen, Leute aller Ideologien und Glauben – das ägyptische Volk – sich unter dem Banner der spontanen Volksrevolution vereint. Sie haben sich verbündet gegen das korrupte, tyrannische, von Kopf bis Fuß verdorbene System des modernen Pharaos. Sein Thron ist klebrig vom Blut des Volkes. Während seine regierende Partei Schlägerbanden ausschickt, um Jugendliche zu töten und Parlamentsabgeordnete Gesetze erfinden, handeln sie mit Ländereien, Frauen, Drogen und Bestechungsgeldern. Seine sogenannte gebildete Elite hat schon vor langer Zeit ihre Schreibstifte und ihr Gewissen verkauft und die öffentliche Meinung manipuliert, alles in ihrem im Interesse, Posten in der Regierung zu erlangen, kleine oder große.

Aber diese Revolution hat junge Frauen, Männer und sogar Kinder aus ihren Häusern getrieben, sich gegenseitig schützend. So fällt die alte Ordnung und mit ihr auch das, was die Polizei „Sicherheit“ nennt, mit ihr fällt die Elite, die Information und Kultur kontrolliert, mit ihr fällt der selbsternannte mit Reichtum und Macht verbündete „Rat der Weisen“. Und alle Parteiführer, sogar jene der sogenannten Opposition, die das Regime mehr als ein halbes Jahrhundert lang heimlich oder offen unterstützt haben. Sie alle werden fallen.

Das waren die Kräfte, die im Namen der Sicherheit Chaos geschaffen haben, Diktatur im Namen von Demokratie, Armut und Arbeitslosigkeit im Namen von Entwicklung und Wachstum, Prostitution, Schikanen und Frauenfeindlichkeit im Namen von Wahlfreiheit und Tradition, unterwürfigen Kolonialismus und Abhängigkeit im Namen von Partnerschaft, Freundschaft und Friedensprozess. Sie verhafteten Frauen wie mich selbst, die ihre Stimmen und ihre Schreibstifte benutzten, um uns in ihren Zellen zum Schweigen zu bringen, um uns zu isolieren und unseren Ruf zu beschmutzen, oder uns ins Exil zu verbannten, innerhalb oder außerhalb unseres Heimatlandes.

Aber dieses Mal ist es anders. Dieses Mal strömten Millionen Männer und Frauen in die Straßen aller Provinzen, aller Dörfer und Städte, von Assuan bis Alexandria, Suez und Port Said, in jeden Quadratmeter des Heimatlandes. In der Hauptstadt Kairo ist der Ort der Befreiung, der Tahrir Platz (Tahrir bedeutet Freiheit) – unser Gebiet geworden, unser Lager. Es ist eine Zeltstadt über dem Asphalt entstanden, und in diesen Zelten befindet sich eine feste Einheit menschlicher Wesen.

Wir verlassen unseren Platz nicht, sogar als wir letzten Mittwoch, am 2. Februar, von verkleideten Polizisten angegriffen werden, die in unsere Stadt eingebrochen sind – bestechliche Banden, die vom Regime angeheuert wurden. Bewaffnete Räuber ritten auf Pferden und Kamelen donnernd auf uns zu. Ich saß gerade auf dem Platz und sprach mit jungen Leuten, ich habe den Barbarismus mit eigenen Augen gesehen, die Reiter auf dem Feld, das Feuer, den Staub und den Rauch, die überall den Boden bedeckten. Ich sah Feuerbälle in der Luft und junge Frauen und Männer die auf den Boden fielen und bluteten.

Trotzdem blieben die friedlichen Rufe des ägyptischen Volkes beharrlich. Das Verteidigungskomitee der Revolutionären Jugend konnte über die Verbrecher triumphieren und sogar ein paar der Bestechlichen samt ihrer Ausweise einsperren. Darunter waren Sicherheitsbeamte, andere waren Arbeitslose, manche von ihnen haben zugegeben, dass sie 200 Pfund in die Tasche bekommen hatten und ihnen 5000 Pfund versprochen worden waren, wenn sie die Leute mit Molotov-Cocktails überschütten und vom Platz vertreiben.

Der Kampf geht weiter. Junge Leute bauen ihre Zelte auf, um sich in der Nacht ein paar Stunden auszuruhen. Hunderte junge Mädchen spazieren frei und singend über den Platz, keine einzige von ihnen wird belästigt. Ihre Lieder handeln von Freiheit, Würde und Gleichheit, viele Gruppen werden von Frauen angeführt. Koptische Christen gehen Seite an Seite mit Muslimen.

Nawal El Saadawi wird nicht müde, mit den Menschen auf dem Tahrir-Platz zu diskutieren. Für viele von ihnen ist sie ein Vorbild, auch von einem jungen Anhänger der Moslem-Bruderschaft erfährt sie Bewunderung: „Wir stimmen zwar nicht allem zu, was Sie geschrieben haben, aber wir lieben Sie, weil Sie nicht opportunistisch und nachgiebig waren, sondern standhaft geblieben sind.“ Die jungen Leute erzählen Nawal über ihre Sehnsucht, über ihren Wunsch nach revolutionärer Veränderung. Sie sind sich darüber einig, dass das Land eine Verfassung benötigt, die nicht zwischen den Menschen aufgrund von Religion, Geschlecht, Überzeugung oder Herkunft unterscheidet.

„Wir brauchen einen neuen Gesellschaftsvertrag. Wir wollen selbst unsere Übergangsregierung wählen und ein Nationalkomitee ernennen, das die Verfassung ändern kann. Wir wollen nicht, dass uns ein neu formierter Weisenrat seine Ideen aufzwingt! Das sind Opportunisten, die sich hier nicht beteiligt haben, nicht mit uns gelitten haben. Sie sind gerade aus Europa oder Amerika angereist. Ägypter, die ihr Leben außerhalb des Heimatlandes verbracht haben, kommen nun um die Führung der Revolution zu übernehmen. Zu ihnen sagen wir: Wir führen die Revolution an, wir haben unsere eigenen Weisen unter uns“, meint ein junger Mann namens Jalal, und ein anderer, Mohammed, fügt hinzu: „Ich fühle mich das erste Mal in meinem Leben stolz, Ägypter zu sein. Manche von uns wurden getötet, doch wir haben die Niederlage in einen Sieg umgewandelt, wir zahlen den Preis für unsere Freiheit mit dem Blut unserer Martyrer. Es gibt keine Kraft, die uns zum Aufgeben zwingen kann, niemals.“

Auf dem Tahrir Platz haben die jungen Menschen ihre Zeltstadt und ein provisorisches Krankenhaus aufgebaut, wo die Verletzten von freiwilligen ÄrztInnen und KrankenpflegerInnen behandelt werden. Von der Bevölkerung werden sie mit Decken, Medikamenten, Verbandszeug, Essen und Wasser versorgt. Nawal El Saadawi lebt zusammen mit den entschlossenen Männern und Frauen und es erscheint ihr fast wie ein Traum. Täglich beobachtet sie die jungen Leute, wie sie sich organisieren und Komitees bildeten, um die Zeltlager sauber zu halten, Verwundete ins Krankenhaus zu transportieren, Essen und Medikamente zu beschaffen und ihren Platz vor den Angriffen zu verteidigen.

Doch wie wird das Erwachen aus diesem Traum sein? Das ägyptische Volk steht einer schwierigen Situation gegenüber, denn die Verfechter der herrschenden Ordnung und ihre Verbündeten werden alles daran setzten, den befreiten Geist wieder in die Flasche zu verbannen. Solange aber die politische und ökonomische Macht in Händen der Eliten bleibt, die sie damals von den Kolonialherren übernommen hatten, wird es schwierig sein, allgegenwärtige Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit zu beseitigen.

In ihrem Buch Tschador hat Nawal El Saadawi geschrieben: „Erst wenn die Völker den Besitz ihrer Rohstoffquellen und Wirtschaftspotenziale zurück gewonnen haben, werden sie ihre spezifischen Möglichkeiten und Fähigkeiten eigenständig weiterentwickeln, ihre Ursprünge in der Geschichte entdecken und ihre kulturelle Identität finden“.

Die ägyptische Bevölkerung hat in eindrucksvoller Weise der Welt ihre Furchtlosigkeit und Entschlossenheit gezeigt. Der Jubel über ihren ersten Sieg, den Rücktritt der Regierung am 11. Februar, ist grenzenlos. Doch ob es dem ägyptischen Volk gelingen wird, die so dringend benötigten politischen, sozialen und ökonomischen Veränderungen zu erringen, ist ungewiss. Dieser Kampf hat gerade erst begonnen.

Quelle: Nawal El Saadawi: The City in the Field, übersetzt von Robin Morgan. Women’s Media Center, 06.02.2011

http://womensmediacenter.com/blog/2011/02/exclusive-from-tahrir-square-the-city-in-the-field/

Videos auf Youtube:

http://www.youtube.com/watch?v=kxzQdCoQuJY

http://www.youtube.com/watch?v=UKTcNkazEDo&NR=1

Die Ärztin, Autorin und Feministin Nawal El Saadawi hat sich zeitlebens für Demokratie und soziale Veränderung eingesetzt. In ihrem Kampf gegen die Frauenunterdrückung ist es ihr nie um eine oberflächliche Modernität im westlichen Sinne gegangen. Es war ihr dabei immer auch ein Anliegen hervorzuheben, dass der Islam auch fortschrittliche, demokratische und revolutionäre Elemente hat und es immer davon abhängt, welche Aspekte von welchen Kräften zu welchen Zwecken in den Vordergrund gestellt werden. Dass Frauen unterdrückt, ausgebeutet und sozialen Zwängen unterworfen sind, sieht sie nicht als eine Besonderheit der arabischen Länder oder der „Dritten Welt“ an, die politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Zusammenhänge, in denen diese Phänomene auftreten, seien vielmehr fast überall auf der Welt anzutreffen.

erschienen in Talktogether Nr. 35/2011