Ein grandioser Sieg, aber noch viel zu tun
Indem es in nur drei Wochen geschafft hat, einen Tyrannen zu entmachten, hat das ägyptische Volk der Welt gezeigt, dass Veränderung möglich ist. Die Menschen haben dabei das Gefühl von Selbstbewusstsein, Kameradschaft und Gleichheit erlebt. Aber können demokratische Wahlen auch eine Lösung für Armut und soziale Ungleichheit bieten?
Überall auf der Welt haben die Menschen die Ereignisse in Ägypten mit Freude und Aufregung verfolgt. Denn die Menschen in Ägypten sind aus der Passivität getreten und haben ihren Stimmen und ihrem Leben eine Bedeutung gegeben. Sie sind zu Subjekten geworden, entschlossen, ihre Zukunft selbst zu gestalten. Sie haben die Zuversicht der Mächtigen erschüttert, die bis vor Kurzem noch geglaubt hatten, fest im Sattel zu sitzen, und offenbart, dass deren Macht allein von ihren Waffen und der Resignation der Menschen abhängt. Sie haben die Schwäche der Regierenden aufgezeigt, aber auch ihre Fähigkeit, sich selbst zu verändern und die Welt um sie herum. Jetzt, wo sie erfahren haben, dass sie in der Lage sind, die Macht zu erschüttern, erkennen sie auch, dass es möglich ist, noch weiter zu gehen.
Die Menschen auf dem Tahrir-Platz haben Ausdauer und Entschlossenheit gezeigt, sie waren bereit, Risiken einzugehen und Opfer zu bringen, ohne Gedanken an den persönlichen Vorteil oder dem ihrer Familien, sondern für ihre Brüder und Schwestern nah und fern. Damit haben sie Gelegenheit gewonnen, einen flüchtigen Blick zu werfen in eine Gesellschaft, die nach anderen Regeln funktioniert, jenseits von Konkurrenzdenken und individuellem Interesse. Eine Demonstrantin sagte zu einem Reporter, auf dem Tahrir- Platz habe sie eine Kostprobe davon bekommen, wie eine Gesellschaft aussehen könnte, in der sich die Menschen zu leben wünschen. Und das hat große Bedeutung in einer Zeit, in der die Menschen zumeist mit ihren eigenen Problemen beschäftigt sind und der herrschende Zustand von vielen als unveränderbar hingenommen wird.
Die Frauen auf dem Tahrir-Platz
"Vor dem 25. Jänner hatte ich nicht das Gefühl, dass meine Stimme gehört werden könnte. Ich fühlte nicht, dass ich die Kontrolle über meine Zukunft habe. (…) Die Revolution hat uns aufgeweckt, ein kollektives Bewusstsein ist erwacht." (Salma El Tarzi)
Die jungen Leute auf dem Tahrir-Platz in ihrem friedlichen aber entschlossenem Protest, die gemeinsam Gitarre spielten, Lieder sangen, Verletzte versorgten und ihren Platz sauber hielten, zeigten in den internationalen Medien ein ganz anderes Bild der islamischen Welt, als das übliche Stereotyp von muslimischen Attentätern und unterdrückten und unterwürfigen Frauen. Im Artikel "Women of the revolution" (Fatma Naib, Aljazeera 19.02.2011) beschreiben drei junge Frauen, wie sie diese Tage erlebt haben. Frauen aus verschiedenen Schichten, Christinnen, Musliminnen mit und ohne Kopftuch oder verschleiert standen Seite an Seite und spielten eine zentrale Rolle in den Protesten und Streiks. Der Geist der Kameradschaft und Gleichheit, die sie auf dem Tahrir-Platz gespürt haben, wurde für sie ihr Mini-Modell für Demokratie, wie sie in ihren Augen funktionieren solle, und hat ihnen offenbart, dass Differenzen – ob sie mit Religion oder Geschlecht zu tun haben – überwindbar sind. Durch den gemeinsamen Kampf hat sich die Beziehung zwischen Männern und Frauen verändert. Niemals zuvor haben sich die Frauen in ihrer Stadt sicherer gefühlt. „Es hat sich etwas verändert in der Dynamik zwischen Männern und Frauen auf dem Tahrir. Als die Männer sahen, dass die Frauen an der vordersten Linie kämpften, hat das ihre Wahrnehmung verändert und wir waren alle vereint“, beschreibt die Filmemacherin Salma El Tarzi ihre Erfahrung.
"Ich fühlte mich nicht mehr von der Gesellschaft entfremdet. Nun ging ich auf den Straßen Kairos und lächelte Fremde an." (Mona Seif)
Kam der Aufstand unerwartet?
Nach Meinung von Ray Bush, Professor für Afrikastudien in Leeds, gibt es drei Faktoren, die zu einer so breiten Zustimmung großer Teile der ägyptischen Bevölkerung zur Protestbewegung geführt haben. Zum einen ist es die wirtschaftliche Situation. Ökonomische Reformen haben dazu geführt, dass 40 Prozent der Bevölkerung - manche sagen, es seien 80 Prozent - von weniger als 2 Dollar pro Tag leben müssen, während sich die Elite auf obszöne Weise bereichert hat. Viele Menschen wurden durch den Verlust ihrer Lebensgrundlage in der Landwirtschaft in die Hauptstadt getrieben, auf der verzweifelten Suche nach Arbeit. 50.000 Kinder leben in Kairo auf der Straße. Das außergewöhnlich fruchtbare Land ist heute abhängig von Importen aus dem Ausland und ein Großteil der Bevölkerung überlebt nur, weil Brot subventioniert wird. Statt das Land zu entwickeln, wurde viel Geld in das Tourismusgeschäft investiert. Während junge gebildete Menschen vergeblich auf einen Arbeitsplatz warten, bildet die ägyptische Bevölkerung ein schier unermessliches Reservoir an billigen Arbeitskräften im Ausland. (A World To Win NewsService, 21.02.2011)
Mittelfristig sind es die zahlreichen Streiks, Bauernproteste und Hungeraufstände. Zwischen 1998-2010 gab es mehr als 2000 Arbeitskämpfe, die durch unoffizielle Gewerkschaften organisiert wurden. Große Teile der ägyptischen ArbeiterInnen verdienen weniger als 20 $ pro Monat. Undokumentiert und heruntergespielt wurden Bauernaufstände und Kämpfe um den Zugang zu Land und Bewässerung. Allein zwischen Jänner und Mai 2010 sind 116 Menschen bei solchen Konflikten ums Leben gekommen. Der Tropfen auf den heißen Stein war der Tod des 28-jährigen Khalid Said, der im Sommer in Alexandria auf offener Straße von Polizisten zu Tode geprügelt wurde.
Eine Wahlurne statt Gerechtigkeit und Freiheit?
Manche Teile der Bevölkerung neigen dazu, sich damit zufrieden zu geben, dass der Tyrann von der Bildfläche verschwunden ist. Aber sind nur Korruption und der schlechte Charakter einzelner Akteure schuld an der Misere? Das würde den Schluss nahelegen, dass man nur einzelne Personen austauschen müsste, und das System würde wunderbar funktionieren, meint Walter Armbrust (Aljazeera 24.02.2011). Nicht die Plünderungen des Mubarak-Regimes seien entscheidend, denn es sei kein Zufall ist, dass Mubaraks Ägypten ebenso wie Ben Alis Tunesien an vorderster Front bei der Einführung einer neoliberalen Politik im Nahen Osten standen. Privatisierungsmaßnahmen erlaubten es Leuten mit guten Beziehungen, Staatseigentum weit unter seinem Wert zu erwerben und sich ein Monopol auf die Einnahmen aus dem Tourismus und der Auslandshilfe zu verschaffen. Armbrust bezweifelt, dass das Militär, das mit diesem System untrennbar verbunden, zu mehr als kosmetischen Veränderungen bereit ist, und äußert die Befürchtung, dass sich die ägyptische Bevölkerung durch die Drohung des wirtschaftlichen Ruins in Panik versetzen lässt und zulässt, dass Technokraten die Privatisierungen weiter vorantreiben.
Durch die neoliberale Globalisierung teilen viele Menschen im globalen Süden ähnliche Erfahrungen: zunehmende Verarmung, wachsende Arbeitslosigkeit, Rückgang der Agrarproduktion, die fortschreitende Enteignung ihrer Ressourcen und eine zunehmende Willigkeit ihrer Regierungen, den politischen und ökonomischen Wünschen des Nordens zu entsprechen. Proteste in Gabon und von Ägypten und Tunesien inspirierte Demonstrationen in Djibouti und Sudan erhalten von der internationalen Presse aber weit weniger Aufmerksamkeit als die Umbrüche im arabischen Raum. Auch in Senegal, Kamerun und anderen afrikanischen Ländern gab es Proteste aufgrund des Anstiegs der Lebensmittelpreise um bis zu 25 Prozent, sollte sich die Lage nicht ändern, muss mit neuen Aufständen gerechnet werden.
Heute beobachten auch die Menschen in Nepal mit großer Anteilnahme die Ereignisse in Ägypten und erinnern sich an ihre eigene Revolution. Doch das nepalesische Volk musste die bittere Erfahrung machen, dass es weit komplizierter ist, ein ungerechtes ökonomisches System zu entwurzeln, als einen verhassten Tyrannen zu stürzen. Die Ablösung der Monarchie durch eine demokratische Verfassung gab Anlass zu Hoffnungen auf mehr soziale Gerechtigkeit. Heute, fünf Jahre später, wartet es immer noch auf wirtschaftliche und soziale Reformen.
Die Forderungen des ägyptischen Volkes sind klar: Es will Demokratie UND soziale Veränderung. Können aber allein durch Wahlen Probleme wie Armut und soziale Ungleichheit überwunden werden? Erfahrungen in Kenia, Zimbabwe, Côte d'Ivoire, Gabon and anderen Ländern haben gezeigt, dass Wahlen keine Lösung für die Probleme bieten, mit denen die Menschen täglich konfrontiert sind, meint Firoze Manji vom afrikanischen Pambazuka-Netzwerk. Eine Demokratie, die fundamentale Fragen der ökonomischen Struktur ausklammert, ermächtige die Menschen nicht, ihre Zukunft selbst zu gestalten, sagt Manji, „was die Menschen wollen, ist die Demokratisierung der Gesellschaft, der Produktion, der Ökonomie und aller Aspekte des Lebens. Was sie stattdessen bekommen ist eine Wahlurne.“ (Pambazuka 23.02.2011)
"Was die Menschen wirklich wollen, ist die Demokratisierung der Gesellschaft, der Produktion, der Ökonomie und aller Aspekte des Lebens." (Firoze Manji)
Viele Menschen in Ägypten fürchten, dass reaktionäre Kräfte versuchen werden, die Menschen zu spalten um jede wirkliche Veränderung zu verhindern. Davon zeugen die Angriffe auf die Frauen, die am 8. März auf dem Tahrir Platz für ihre Rechte demonstrierten, und auf die Proteste koptischer Müllsammler. Andere wiederum wünschen sich eine rasche Rückkehr zur Normalität. Doch würden Stabilität und Ordnung auch ein Ende der dynamischen politischen Debatten bedeuten. Die Menschen aber brauchen den Tahrir-Platz und möchten ihn nicht mehr missen.
„Eine schlechte Pflanze muss mit der Wurzel ausgerissen werden und es reicht nicht, nur den Kopf abzureißen“, sagt Mustafa Ismail. Wie er sind viele entschlossen, auszuharren und wachsam zu bleiben, um sicherzugehen, dass ihre Forderungen erfüllt werden. Erfolgreich kann die ägyptische Demokratiebewegung nur sein, wenn es gelingt, den Schwung und die Begeisterung der über eine längere Zeit aufrecht zu erhalten.
erschienen in Talktogether Nr. 36/2011
Â
|