Die Symbolik des Mahles
in den Weltreligionen
von Herbert Hopfgartner
Teil 4: Indien und die heilige Kuh
Die kosmologischen Zusammenhänge, die groĂźen Mythen und Erzählungen der hinduistischen Kultur können in dieser Serie, die nur Schlaglichter, also verschiedene Phänomene einer äuĂźerst komplexen Beziehung zwischen Mensch – Religion – Speiseriten diskutiert, lediglich angedeutet werden. Fundamentale Qualitäten in der indischen EssensÂgeschichte, wie die Verehrung des Rindes, der Vegetarismus und die Gewaltlosigkeit werden deshalb in einen sehr engen Kontext gestellt.
„Aus der Nahrung entstehen die Geschöpfe. Alle, die auf Erden leben, leben wahrlich durch die Nahrung. Und am Ende gehen sie in Nahrung ein. Die Nahrung ist das älteste aller Wesen, und daher nennt man sie Allheilmittel. Diejenigen erlangen alle Nahrung, die die Nahrung als das Brahman erkennen (und verehren). Alles Gewordene gedeiht durch Nahrung. (…) Die Nahrung ist der Atem, der Verzehrer der Nahrung ist der Körper.“ (Taittiriyopanisad 2.2 und 3.7.)
Aus den ältesten vedischen Schriften ist bekannt, dass die indischen Völker vor 3000 Jahren den verschiedenen Göttern die edelsten Nahrungsmittel offerierten: Milch, Butter, Getreide, Honig, Sesam, Linsen aber auch Fleisch und ein aus der Soma-Pflanze gewonnener Saft. Die davon übrig gebliebenen Teile aßen die Priester und in weiterer Folge die Opfernden. Der Glaube an die Zirkulation der Speisen zwischen den Göttern und religiösen Menschen ist in Indien mitunter bis heute noch zu beobachten. Wer mit wem, wann bzw. welche Speise isst, ist im Hinduismus jedoch vor allem durch die Zugehörigkeit an eine Gruppe (Familie, Kaste, gesellschaftliche und religiöse Stellung) und damit auch durch das Konzept der rituellen Reinheit bzw. Unreinheit geprägt. Generell rein ist die Kuh, ihre Milch oder das Wasser des Ganges, prinzipiell unrein sind der Hund, der Speichel, Blut aber auch Geburt und Tod. Aufgrund dessen, dass Nahrung rein und unrein ist, darf ein Brahmane nur mit einem Brahmanen essen. Kastenfremde, auch die eigene Frau, sind verpönt.
Vor dem Essen werden Hände und Füße gereinigt, der Mund wird ausgespült. Im Stehen oder Gehen essen, sowie das Reden oder Schmatzen während der Nahrungsaufnahme gelten als Vergehen.
Gesundheit wird als das Ergebnis richtiger Ernährung angesehen. Als Grundlage dafür gelten Qualitäten wie dharma (umfassende Ethik), artha (materieller Wohlstand), kama (sinnlicher Genuss) und moksa (Erlösung). Ähnlich der chinesischen Fünf-Elemente-Lehre (Feuer, Erde, Metall, Holz, Wasser) existiert auch in Indien eine Lehre, wonach der Mensch, sein Körper und die Nahrung aus fünf Elementen (Erde, Wasser, Feuer, Wind und Äther) bestehen. Durch die Aufnahme der Elemente durch die Nahrung nährt und pflegt der Mensch die entsprechenden Teile seines Körpers.
Die drei Komponenten der Materie, sattva, rajas und tamas bestimmen die ayurvedische Medizin und dadurch auch das Essverhalten der Inder: sattva-Nahrungsmittel (Getreide, Reis, Wasser, Milch, Butterschmalz, Gemüse, Früchte, Nüsse) sind rein und fördern die Spiritualität, rajas-Nahrungsmittel (Gewürze, Salz, Fisch, Eier, Tee, Süßes) erhöhen die Energie, während tamas-Nahrungsmittel (Fleisch, Alkohol, Zwiebel, Knoblauch, fermentierte und eingelegte Speisen) träge und dumpf machen bzw. auch sexuell erregen. Eine andere Einteilung spricht von „kalten“ und „heißen“ Speisen.
Dass die verschiedenen Kasten, die Brahmanen („Priester“), Kshatriya („Krieger“), Vaishyas („Händler und Hirten“), Shudras („Diener“) bzw. Dalits („UnberĂĽhrbaren“) unterÂschiedliche ErnährungsÂgewohnheiten bzw. Speisevorschriften pflegen bzw. einhalten mĂĽssen, versteht sich von selbst, beispielsweise sind rajas- und tamas-Nahrungsmittel fĂĽr Brahmanen tabu.
Ein Sonderfall ist das Fleisch des Rindes, im Besonderen das der Zebu-Kuh – ein Fleisch, das heute allen Hindus verboten ist zu essen. In den Veden wird die Kuh als Göttin und Verkörperung der Mutter Erde beschrieben. Krishna, die Inkarnation des Gottes Vishnu, wuchs unter Kuhhirten auf – überhaupt spielte die Kuh (Go) in seiner Lebensgeschichte eine große Rolle.
In ihrer lebendigen Form wird sie zu bestimmten Feiertagen geputzt und geschmückt. Unter der Aufsicht eines Brahmanen wird die Kuh rituell berührt bzw. dabei gebetet. Das Tier gilt als Muttersymbol, das die Menschen ernährt und sich um sie sorgt. Im hinduistischen Gottesdienst wird nach wie vor mit ghi, der geklärten Butter, ein Licht angezündet bzw. werden Milch und Joghurt als Opfergaben verwendet.
Merkwürdig ist, dass in vedischer Zeit Rinder noch zeremoniell geschlachtet wurden bzw. das Fleisch nach der Opferung auch verzehrt wurde. In weiterer Folge erlaubten die Gebote das vereinzelte Töten für ausschließlich rituelle Zwecke, während der nichtrituelle Verzehr immer mehr eingeschränkt wurde. Mit dem Gesetz des Nichtschädigens von Lebewesen (ahimsa) und möglicherweise auch durch die rasche Zunahme der indischen Bevölkerung wurde der Vegetarismus immer populärer. In einigen indischen Bundesstaaten gelten zwei Drittel der Bürger als Vegetarier, in anderen sind es wesentlich weniger. Statistisch ernähren sich ein Viertel aller Inder rein pflanzlich, das sind immerhin über 300 Millionen Menschen.
„Mich wird derjenige in der nächsten Existenz verzehren, dessen Fleisch ich in diesem Leben esse; dieses ist die wahre Bedeutung von mamsa (Fleisch), so verkünden die Weisen.“ (Manusmrti 5.55)
Wer also in Indien (80% der Inder sind Hindus, 13,4% Muslime) in einem amerikanischen Fast-Food-Restaurant einen „Maharaja-Burger“ bestellt, wird aller Voraussicht einen „reinen“ und damit vegetarischen Burger erhalten. Möglicherweise aber mit Curry!
Teil 5: Die daoistische (zenbuddhistische) Tee-Zeremonie – Das Ritual der Stille
In chinesischen Chan-Klöstern und den späteren japanischen Zen-Klöstern wurde bzw. wird zu bestimmten Gelegenheiten eine Teezeremonie abgehalten. Diese feierliche Handlung konnte bzw. kann mehrere Stunden dauern. Die Freude an der Schönheit des Schlichten und Unscheinbaren, die Loslösung von materiell und egoistisch geleiteten Gedanken, die Hinwendung zur Natur und das Schweigen begleiten diesen Ritus, der auch im Westen immer mehr Anhänger findet.
Die Bezeichnung chado oder chanoyu – der Weg des Tees – wird in den ostasiatischen Kulturen sowohl als darstellende Kunst (!) als auch als spirituelle kulturelle Lebensform diskutiert. Seit Urzeiten als Medizin eingesetzt, wird der Tee in China seit dem 8. Jahrhundert in der Dichtung erwähnt. Der legendäre Dichter Lu YĂĽ verfasste 780 n.Chr. eine Schrift ĂĽber den Tee („Chajing“, „Ch’a-king“), in der er ĂĽber das Wesen der Teepflanze, die GerätÂschaften, die Auswahl der Blätter, die Zubereitung, die gewöhnliche Form des Teetrinkens, berĂĽhmte Teetrinker, chinesische Teeplantagen und Variationen des Geschirrs schreibt.
Das Getränk steht durch die saubere Zubereitung für die Reinheit und Einfachheit, durch die Verwendung ausschließlich natürlicher Elemente für den integralen Zusammenhang des Menschen mit der Natur und dem Kosmos und durch die Verwandlung getrockneter Blätter in einen wohlschmeckenden aromatischen und den Geist anregenden Tee für den ewigen Fluss der Lebensenergie.
„Teeismus ist die Kunst, die Schönheit so zu verhüllen, dass sie entdeckt werden kann, die Kunst, das vorzuschlagen, was man nicht auszusprechen wagt.“ (Kakuzo Okakura)
Li Chih-lai, ein Literat der Sung-Dynastie (960-1279), kritisiert drei kulturelle Untugenden: Die Vergeudung junger Menschen durch die falsche Ausbildung und Erziehung, die Abwertung von Kunst durch eine allzu „gewöhnliche Bewunderung“ und die Verschwendung von feinem Tee durch unwissende Verarbeitung.
Die Aufmerksamkeit auf den Augenblick, die Prozesshaftigkeit des Tuns, das heiĂźt das BemĂĽhen um die Vervollständigung, wurde und wird von daoistischen und zenbuddhistischen Philosophen als wichtiger angesehen als die körperliche Unsterblichkeit (Aberglaube) oder die gesellschaftliche Vollkommenheit (Konfuzianismus). So gewann die Kunst des täglichen Lebens eine besondere Bedeutung. Das Teetrinken wurde und wird innerhalb der daoistischen MuĂźekultur nicht als Zeitvertreib, sondern analog den anderen Betätigungen als Methode der Selbstverwirklichung betrachtet: Der leere und karge Teeraum, die stumme Zeremonie der Bewirtung, das Blumengesteck im Eck, die Kalligraphie an der Wand und der leise Klang der Wölbbrettzither versinnÂbildlichen eine Philosophie der stillen Harmonie.
Der Daoismus als die „Kunst des In-der-Welt-Seins“ relativiert das Leben durch das Verstehen und Integrieren der Gegensätze: Im Kampf des T’ai Ji Quan („Schattenboxen“) wird der Gegner durch passiven Widerstand verunsichert und dadurch geschwächt. In der Kunst (Kalligraphie, Malerei, Musik) drückt sich diese Verunsicherung bzw. scheinbare Inaktivität durch den sparsamen Umgang mit dem Material (Leere, Stille) aus, um dem Zuhörer oder Zuschauer die Möglichkeit zu geben, das Kunstwerk durch Hinzugabe eigener Ideen zu vervollständigen. Durch diese Aufmerksamkeit vereinigt sich das Kunstobjekt mit dem rezipierenden Subjekt.
Der Teeraum wurde von den ursprünglich verwendeten Schriftzeichen als Wohnsitz der Einbildungskraft, aber auch als Wohnsitz der Leere bezeichnet, da er ohne die Tee-Zeremonie der Vergänglichkeit ausgesetzt und ohne die Utensilien bzw. den Zelebranten ja völlig leer war. Die schlichte Einfachheit ist aus der daoistischen Tradition des Eremitismus und der Abneigung gegen höfische Zeremonien bzw. gesellschaftliche Sitten und Gebräuche zu erklären.
Der Besucher hat sich aller Waffen zu entledigen und muss in gebückter Haltung durch den engen und kleinen Eingang gehen, um überhaupt in den Teeraum zu gelangen. Diese Symbole des Friedens und der Demut beinhalten eine kathartische (seelenreinigende) Qualität. Die Ruhe, das gedämpfte Licht und die penible Sauberkeit ermöglichen das Fließen der Energie und damit das Eintauchen des Individuums in den kosmischen Kreislauf.
Als weiteres bemerkenswertes Detail ist von den ostasiatischen Teemeistern die Schaffung der daoistisch und zen-buddhistisch inspirierten Gärten zu nennen. Selbst in den chinesischen Ballungszentren des 21. Jahrhunderts finden sich noch liebevoll angelegte Gärten mit sorgfältig gepflanzten Bäumen und Sträuchern, künstlich angelegten Wasserstraßen und den berühmten daoistischen Steinskulpturen.
Sen Rikyu (1522-1591) verwendet die Begriffe Harmonie, Respekt, Reinheit und Ruhe als dem chanoyu zugrunde liegende Prinzipien:
- Harmonie als ein „Aufeinander-bezogen-Sein“ ist in einem Ort der Stille und in einer Zeit des Innehaltens als Ritual für alle (gleichwertigen) Beteiligten erlebbar. Das Üben der verschiedenen daoistischen Beschäftigungen ist die bewusste Absage an eine Vergangenheits- oder Zukunftsfixierung und gleichzeitig eine Sensibilisierung auf den Augenblick – nicht weil der Moment die seelische Qualität an sich erhöht, sondern weil die bewusste Einstimmung in das Jetzt das eigene Selbst übersteigt und den Einklang mit dem Transzendenten erreicht.
- Respekt bedeutet, die Welt um uns herum wahrzunehmen. Zu hören heißt, die alltäglichen Gebräuche und Urteile abzulegen und die akustischen Eindrücke um ihrer selbst willen neu aufzunehmen.
- Reinheit steht für das Reinwerden des Herzens und des Geistes. Schon der Pfad durch den Garten stellt den Weg aus der Beliebigkeit des weltlichen Lebens dar. Die steinernen Wasserbecken sind ebenfalls zur Reinigung (der Wege, der Tee-Utensilien) vorgesehen. Die Verwendung von Weihrauch dient überdies zur Säuberung der Luft, der ganzen Atmosphäre.
- Ruhe als Lebensform meint nicht nur das kurzzeitige Sammeln, sondern Kontemplation als Lebensform, eine Konzentration auf innere Zufriedenheit durch äußere Wirkungen und umgekehrt.
erschienen in Talktogether Nr. 38/2011
Â
Â
|