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Hunger nach Leben


Mehr als 50 Millionen Menschen bewegen sich täglich in virtuellen Parallelwelten. Diese Menschen sind fasziniert von der Möglichkeit, all jene Bedürfnisse ausleben zu können, die im realen Leben versagt bleiben. Für manche dagegen ist es mehr als nur ein Spiel, es ist nicht ihr zweites, sondern vielmehr ihr erstes Leben: Menschen, die in der realen Welt aufgrund von Krankheit oder Behinderung in ihrem Handeln sehr eingeschränkt sind, erleben dort, was ihnen in der Realität verwehrt ist. Eine Person ohne Füße hat Probleme, sich in der realen Welt zu bewegen. Sobald sie die virtuelle Welt betreten hat, ist dies für sie überhaupt kein Hindernis mehr.

„Jeden Tag freue ich mich, am Leben zu sein“, sagt Alice B. Krueger, die an Multipler Sklerose erkrankt ist und sich heute nur mehr mit großer Mühe bewegen kann. Die Erziehungswissenschaftlerin und Mutter von drei erwachsenen Kindern ist eine sehr soziale Person, die sich in ihrer Gemeinde immer sehr engagiert hat. Solange, bis ihre Krankheit sie daran hinderte, ihr Haus zu verlassen. Es war ein großes Problem für sie, von der Gemeinschaft abgeschlossen zu sein. Alice wusste: "Ich will nicht allein sein“. Sie war entschlossen, Freunde zu haben.

So tauchte sie ein in die virtuelle Welt von „Second Life“ ein und wurde zu Gentle Heron. Second Life ist eine Online-Infrastruktur, in der Menschen durch Avatare[1] kommunizieren, interagieren, spielen und Handel betreiben können. Dort gewann sie etwas davon zurück, was sie durch ihre Krankheit verloren hatte. „Gentle Heron repräsentiert mich, so wie ich gern sein würde“, sagt Alice, „sie ist jung, fit und gesund. Sie hat viel von meinem persönlichen Charakter. Sie schließt gerne Freundschaften, sie unterhält sich gerne, sie geht gerne in Violinkonzerte“. Und sie hilft gerne anderen Menschen.

Auf die Idee kam sie gemeinsam mit zwei Freunden, die ebenfalls behindert sind. Sie fühlten sich isoliert und dachten: Wenn wir im wirklichen Leben nirgendwo dazugehören können, vielleicht klappt es ja in der virtuellen Welt. Durch die künstlicher Phantasiewelt konnte Alice mit Leuten aus verschiedenen Teilen der Welt in Kontakt treten. „Ich komme her, um zu tun, was ich im wirklichen Leben nicht tun kann. Second Life ist eine virtuelle Welt, aber die Freundschaften sind echt.“

Login 2 Life!

Im Dokumentarfilm "Login 2 Life" begleitet Daniel Moshel Menschen, denen die virtuelle Welt zur alternativen Lebenswelt geworden ist. Begonnen hat es damit, dass Daniel „World of Warcraft“ spielte und von den Möglichkeiten, mit anderen zu spielen, fasziniert war. Bald stellte er sich die Frage, wer sich hinter den Avataren verbirgt. Damit war die Idee für den Film geboren. Fünf Jahre lang hat Daniel Moshel gebraucht, um seinen Dokumentarfilm fertig zu stellen. Dafür ist er in die virtuellen Welten eingetaucht, hat die Akteure dort kennengelernt, und ist dann an verschiedene Orte der Welt gefahren, um sie auch im realen Leben zu begleiten. Es war nicht leicht, finanzielle Mittel dafür aufzutreiben. Oft musste er den Einwand hören: „Sobald der Film fertig ist, wird der Hype vorbei sein“. Doch seine Ausdauer hat sich gelohnt. Am 17. Oktober wurde das Ergebnis im ZDF präsentiert.

Der Film zeigt, wie Wünsche der Menschen in der virtuellen Welt wahr werden, die in der wirklichen Welt nie erfüllt werden. Dabei sind die Bedürfnisse vielfältig, wie Daniel anhand verschiedener Portraits dokumentiert. Corey ist seit einem Autounfall ab dem ersten Halswirbel querschnittsgelähmt. Die einzige Welt, in der er sich frei bewegen kann, ist die von „World of Warcraft“. Er kann den Computer nur mit einem Stab, den er mit den Lippen bewegt, bedienen. „Hier kann ich meinen Aggressionen freien Lauf lassen“, sagt Corey, „obwohl ich normaler Weise kein aggressiver Mensch bin“. Die virtuelle Welt ermöglicht aber auch Menschen, die in der wirklichen Welt niemals Sex gehabt haben, eine Einführung ins Sexualleben.


Gentle Heron                                                         Virtual Ability Island

Schöne Neue Welt

In der wirklichen Welt spielt das Aussehen eine große Rolle. In der virtuellen Welt dagegen kann sich jedeR sein Aussehen selbst aussuchen. JedeR kann hübsch und sexy sein. Weil jedeR weiß, dass das Aussehen erfunden ist, spielt es hier aber gar keine so große Rolle. „Die Persönlichkeit scheint immer durch“, weiß Alice. Sie hat Freunde, die sie durch Second Life kennengelernt hat, auch persönlich getroffen. „Da sehen sie zwar anders auch, ich kannte sie aber trotzdem schon gut“.

Second Life wurde im Jänner 2003 von der Software-Firma Linden Lab ins Netz gestellt. Es kostet nichts, am Second Life teilzunehmen, aber es ist möglich, Geld auszugeben. „Das Durchschnittsalter in Second Life, und das mag manche erstaunen, ist 32 Jahre“, erzählt Alice bei einer Präsentation im „Haus der Kulturen der Welt“ in Berlin. Die älteste Person, die Alice in Second Life getroffen hat, ist 94 Jahre alt. Second Life ist nicht männlich dominiert, sondern Frauen sind dort ebenso aktiv. „Manche Menschen nennen es ein Spiel. Sie irren sich“, sagt Alice. Weil ein Spiel von Designern gestaltet ist, argumentiert sie, in Second Life werde aber alles von den BewohnerInnen selbst entworfen. Es gibt auch kein vorgegebenes Ziel, jeder muss sich seine Ziele selbst setzen, deshalb gebe es auch keine Gewinner und Verlierer, es sei denn, man entscheide sich dafür.

Die Ausflüge in die virtuelle Welt können auch ganz reale Auswirkungen haben, in medizinischer sowie in sozialer Hinsicht. Durch die Bewegung mit den Figuren werden die Gehirnzellen, die für das Gehen zuständig sind, aktiviert, deshalb fühlt es sich so echt an. Oder als Schmerztherapie für Kinder. Mit Freunden zu lachen und Spaß zu haben, kann eine Ablenkung von Schmerzen bedeuten. Die virtuelle Welt bietet aber auch die Möglichkeit zu lernen – in Second Life gibt es Universitäten, wo Vorlesungen abgehalten und Diskussionen geführt werden – und die Möglichkeit soziale Kontakte zu knüpfen, die ganz real sein können.

Virtuelle Sozialarbeit

In Second Life gibt es auch Selbsthilfegruppen für behinderte und chronisch kranke Menschen und ihre Angehörigen. Ein hoher Prozentsatz der Menschen in Second Life ist in irgendeiner Weise beeinträchtigt. Weil Menschen soziale Wesen sind, brauchen sie Kontakte zu anderen Menschen. Es gibt auch Menschen, die sehr scheu sind und Angst vor anderen Menschen haben. Diese Menschen brauchen einen Ort, an dem sie unter sich sein können und wo man Verständnis hat. Diese Menschen finden ein Zuhause auf Sanctuary Island, einer nicht öffentlich zugänglichen Insel. Hier finden sie einen sicheren Platz für soziale Kontakte, sie können aber auch soziale Kompetenzen in der Praxis lernen, und somit kann die virtuelle Welt auch eine Vorbereitung für eine Rückkehr in die reale Welt werden.

Menschen mit verschiedenen Behinderungen können durch die virtuellen Netzwerke in den Genuss ganz realer Vorteile kommen. Alice B. Krueger gründete die gemeinnützige Organisation „Virtual Ability Incorporation“, die die Interessen Behinderter in Netzwerken wie Second Life unterstützt. Die „Virtual Ability Community“ hilft Menschen, sich anhand technischer Hilfsmittel in dieser virtuellen Welt zurecht zu finden. Inzwischen ist die Organisation ein reales Unternehmen geworden. „Irgendwann haben wir gemerkt, dass wir im realen Leben Verträge mit anderen Firmen und Organisationen abschließen müssen“, erzählt Alice, „Ich glaube, wir waren die erste Firma, die es zuerst in der virtuellen Welt und dann in der realen Welt gab!“ Mittlerweile ist Virtual Ability Inc. eine staatlich anerkannte, gemeinnützige Organisation. Den Großteil des Geldes verdienen die Mitglieder durch reale Arbeit. Vom US-Militär beispielsweise bekommen sie Aufträge, um Kriegsversehrte dabei zu unterstützen, ihre Traumata zu überwinden und wieder zum Leben zurückzufinden.

Kein Ersatz für ein richtiges Leben

Man könnte einwenden, dass die virtuelle Welt nur eine Täuschung ist. Wenn Alice ihren Computer ausschaltet, ist sie wieder allein in ihrem Haus. Man hört auch von Jugendlichen, die in der virtuellen Welt versinken, so dass sie die Realität um sich herum vergessen und jeden Kontakt zur Außenwelt verlieren. Es wäre auch eine Illusion zu glauben, dass virtuelle Welten bessere Orte seien und nur positive Auswirkungen haben. Es gibt auch Kinderpornos in Second Life. Die künstlichen Welten sind nur ein Spiegel der realen Verhältnisse, weil sie ja von realen Personen mit ihren Bedürfnissen und Schwächen, ihren geheimen Phantasien und Abgründen geschaffen werden.

Die Botschaft, die Daniel mit diesem Film vermitteln will, ist, dass virtuelle Welten nicht nur negative Seiten haben. Ihr Vorteil liege einfach darin, meint Daniel, dass uns die modernen Kommunikationstechnologien heute erlauben, am sozialen Leben auch dann noch teilzuhaben, wenn wir weniger bewegungsfähig sind. Solange behinderte und kranke Menschen aus der Gesellschaft ausgegrenzt sind, braucht es Alternativen, um ihnen ein Stück Lebensqualität zurück zu geben. So wie wir Sozialarbeiter brauchen, um die Auswirkungen der Ungerechtigkeiten in unserer Gesellschaft zu lindern. Der Film bietet einen tiefen Einblick in die Welt der Bedürfnisse und Wünsche der Menschen. „Die virtuelle Welt ist kein Ersatz für ein richtiges Leben“, weiß auch Alice B. Krueger, „aber sie ist besser als gar nichts.“


[1] künstliche Stellvertreter

Daniel Moshel (Buch, Regie, Kamera, Produktion bei Login2Life)

Daniel Moshel wurde 1976 in Offenbach am Main geboren. Im Rahmen seines Multimedia Art Studiums an der FH Salzburg, das er 2001 abschloss, entstand der Kurzfilm "komA", der im TV und auf mehreren Festivals erfolgreich lief. 2003 gründete er seine Filmproduktion Moshel Film. Es entstanden einige mit internationalen Preisen ausgezeichnete Sportdokumentationen, Image- und Werbefilme. Er produzierte den 2009 fertig gestellten Kunstfilm "Der Doppelgänger" von Stephanie Winter. Dieser lief erfolgreich auf diversen Filmfestivals und wurde am Short Film Festival Busan (Südkorea) mit dem "Excellence Award" ausgezeichnet. "Login 2 Life" ist sein Dokumentar-Langfilmdebüt.

www.login2life.net « Diese E-Mail-Adresse ist gegen Spambots geschützt! JavaScript muss aktiviert werden, damit sie angezeigt werden kann.

erschienen in Talktogether Nr. 38/2011