Jugoslawien: in Rakovica PDF Drucken E-Mail

IM ARBEITERVIERTEL RAKOVICA

Rakovica war einst das Industrieviertel Belgrads, wo die Arbeiterklasse arbeitete und lebte. Ehemals zählte Rakovica 25.000 Arbeiter und wenn man schlecht lebte, pflegten die einfachen Menschen zu sagen: "Sie (man dachte dabei an die Staatsmacht) werden schon sehen, wenn Rakovica sich erhebt!" Eigentlich begann in den schlechten Zeiten der Inflation 1993 auch der Zerfall der Industriegiganten. Ebenso wie jede andere Ware an Wert verlor, geschah das auch mit den Traktoren, und so auch mit den Motoren für die Traktoren, die beispielsweise in der Motorenindustrie Rakovica hergestellt wurden. Dann folgten Sanktionen, Bombenangriffe, und jetzt, heißt es, sei der Mangel an Investitionen der Grund, weshalb in Rakovica dreimal weniger Arbeiter beschäftigt sind, die im Durchschnitt mit Gehältern von 6000 Dinar auskommen müssen.

In der Motorenindustrie dauert der Konkurs schon fünf Jahre an und solange schon funktioniert keine Gewerkschaftsorganisation. Das ist natürlich nicht vom Gesetz vorgeschrieben, denn die Gewerkschaft ist keine juristische Person, um mit dem Konkurs auch die Arbeit einzustellen. Während des Konkurses melden sich allerdings alle Arbeiter beim Arbeitsamt, es werden aber nur solche benachrichtigt, die gebraucht werden. Da es unter diesen meistens keine Gewerkschaftler gibt, ziehen sich die eingeschüchterten Gewerkschaftsmitglieder zurück und gehen ihrer Gewerkschaftsaktivität nicht mehr nach. Die Konkursverwalter wechseln ab (in der Motorenindustrie wurden 4 Verwalter abgelöst), die große Befugnisse besitzen, vor dem Handelsgericht Rechenschaft ablegen, während sich vor den Arbeitern niemand zu verantworten braucht, noch können sich diese irgendwo beschweren. Sie enden irgendwo an einem Stand auf den Marktplätzen oder auf der Straße, wo sie geschmuggelte Waren verkaufen. Den Ärzten bezahlen sie Schmiergeld, damit sie in Invalidenrente gehen können, denn auch das ist irgendeine Lösung. Sie suchen die Räume der Selbstständigen Gewerkschaften im Stadtbezirk Rakovica oder die Dienststelle der sozialen Arbeit auf, um sich ein paar Dinar zu leihen. Eine der Hauptforderungen der Gewerkschaften ist die Änderung des Konkursgesetzes, damit es nicht unendlich lange andauert.

Die Fabrik "21. Mai" befindet sich in der Umstrukturierungsphase, die überschüssigen Arbeitskräfte wurden entlassen, doch die, die geblieben sind, leben nicht besser. Von 5.500 Arbeitern sind 1700 geblieben. Dieser Gigant umfasst 9 Fabriken, eine davon stellte Flugzeugteile her. Im Rahmen der Holdinggesellschaft hat jedes Teil sein Produktionsprogramm, aber kein einziges funktioniert. Der Teil, der Kfz-Motoren herstellt, teilt das Schicksal der Kragujevacer Autorwerke "Zastava" bezüglich der Produktion und der Gehälter. Die Gehälter werden mit Verspätung ausgezahlt, man kann weder Strom noch Wasser bezahlen, die Wohnungsfrage ist ungelöst. Die Umstrukturierung wurde Anfang dieses Jahres eingestellt, da es angeblich an Geld mangelte. Die Schulden sind angewachsen und diese Bürde kann man nicht mehr weiter tragen. Früher, als sich die Staatsmacht noch fürchtete, in Rakovica könnte es zur Aufruhr kommen, wurden den Fabriken Kredite eingeräumt, aber mit großen Zinsen, die jetzt keiner zurückzahlen kann.

Die Gewerkschaftsführung von Rakovica fragt sich, wenn man uns wie dem Staat die Schulden abgeschrieben hat, weshalb kann man nicht auch den strategisch wichtigen Fabriken die Schulden abschreiben. Da in den Verwaltungsausschüssen dieser Fabriken Vertreter der Staatsmacht sitzen, von denen es abhängt, ob ihnen die Schulden aus einer vielleicht unbewussten Angst abgeschrieben werden, erschienen die Arbeiter von Rakovica kürzlich auf einer Protestversammlung der Arbeiter in Belgrad hauptsächlich mit Fahnen der Gewerkschaften und nicht der Fabriken, aus denen sie kommen. "21. maj" und "Rekord" stehen auf einer Liste von 40 Unternehmen, die nach einem Sonderprogramm der Regierung rekonstruiert werden, was zu bedeuten hat, dass sich die Regierung ihrer Bedeutung bewusst ist. Als die Arbeiter entlassen wurden, griff man ebenfalls auf das soziale Programm der Regierung zurück, und das bedeutet 6000 Dinar je Dienstjahr. Für dieses Geld kauften sich die Leute Kochherde, wechselten die abgenutzten Haushaltsgeräte aus, und kaum jemand startete irgendein Business. "Rekord" hat einen Vertrag über Zusammenarbeit mit einem russischen Arbeitgeber, der gerade die Reifenherstellungsfabrik gepachtet und den Rohstoff sichergestellt hat. Den Arbeitern werden die Gehälter regelmäßig gezahlt, wenn man ein Einkommen von 6000 Dinar so bezeichnen kann. Von 3000 Arbeitern, wie viele es einmal waren, sind nur 800 übrig geblieben.

Als Beispiel des reinen Sklavenhalterverhältnisses führen die Gewerkschafter den Fall des "Steinbruchs EMS Kijevo" a.d. (AG) Belgrad an, der wie es heißt eine Illustration für die Privatisierung ist, die für die Arbeiter niederschmetternd ist. Den Steinbruch in Straževica, so oft während der Nato-Aggression gegen Jugoslawien unter Beschuss genommen, kaufte ein Italiener auf einer Versteigerung, der keinen Kollektivvertrag achtet, obwohl er sich dazu mit dem Kaufvertrag verpflichtet hat. Er verteilte den Arbeitern gedruckte Gesuche für die einvernehmliche Auflösung des Arbeitsverhältnisses und auf die Frage, was er damit erreichen wolle, meinen die Gewerkschafter von Rakovica, das Ziel sei, dass die Arbeiter bereitwillig allen Arbeitsbedingungen zustimmen.

Ein positives Beispiel ist "Tehnogas", wo ein deutscher Staatsbürger den Mehrheitsanteil des Eigentums hat. Er stellte am Start 3 Millionen D-Mark für die Lösung der Wohnungsfrage bereit. Die Höhe der Gehälter ist ein Geheimnis und es heißt, die Gewerkschaftsorganisation in dieser Firma leistet gute Arbeit.

Und hier noch eine Einzelheit aus der Arbeit der Selbstständigen Gewerkschaften Rakovica. Wie deren Führungskräfte sagen, seien sie in den meisten Fabriken im Arbeiterviertel Rakovica mehrheitlich vertreten. Kürzlich wurde ihnen der Strom abgestellt, und zwar nur in dem Stockwerk in dem Gebäude des Stadtbezirks, in dem sie ihren Sitz haben. Die Gewerkschaft von Rakovica möchte keine unreal hohen Rechnungen bezahlen und meint, die Regierung wolle auch auf diese Weise ihre Stärke demonstrieren. Vom Leben in Rakovica bezeugt auch eine Angabe von einer Sitzung in der Stadtbezirksversammlung, wonach früher in diesem Bezirk 160 bis 180 Menschen jährlich an Krebs erkrankten, jetzt sind es 500. Gründe dafür gibt es viele (daran mangelt es zumindest nicht): Bombardierung, Unterernährung, Stress wegen Arbeitsplatzverlustes, ein Leben unter schlechten Untermieterbedingungen...

Es hat allerdings den Anschein, dass sich die Staatsmacht vor dem Aufruhr dieser zahlenmäßig geschwächten Arbeitskräfte nicht fürchtet. Das sind hauptsächlich eingeschüchterte, müde Menschen, bis zu denen keine Informationen gelangen, welches Schicksal auf sie wartet. Welches Schicksal den ehemaligen Industriegiganten beschert ist, wissen auch die Gewerkschaftsführer nicht, denn es fehlt der soziale Dialog. Er ist, sagen sie, einseitig, denn die Vertreter der Staatsmacht bestimmen den Zeitpunkt des Treffens mit den Gewerkschaftern, aber auch die Tagesordnung und das Thema, das auf diesen Begegnungen behandelt wird.

 

Die Zerstörung Jugoslawiens

Die Zerstörung der Wirtschaft der vereinigten Bundesrepublik Jugoslawiens begann bereits Anfang der achtziger Jahre, als Geldgeber und internationale Finanzinstitutionen den Staat zu weit reichenden Reformen zwangen, die zur Auflösung des Industriesektors und zur allmählichen Demontage des jugoslawischen Sozialsystems führten. Durch das dadurch ausgelöste wirtschaftliche Chaos und den Fall des Lebensstandards wurden soziale und ethnische Spannungen in der Bevölkerung und zwischen den Regierungen der Republiken und Provinzen ausgelöst und der Zerfallsprozess gefördert. Das auf Druck des Internationalen Währungsfonds 1989 eingeführte Unternehmensgesetz forderte die Zerschlagung der unter der Selbstverwaltung von Arbeiterräten geführten Betriebe und deren Umwandlung in privatkapitalistische Unternehmen. Mit der Absicht, genossenschaftliches Kollektiveigentum in profitorientierte unabhängige Institutionen zu verwandeln, wurde ein Bankengesetz verabschiedet, dass die Zerstörung des kompletten Banksystems zur Folge hatte. Gegen die Privatisierung gab es 1990 noch einen gemeinsamen Widerstand der Arbeiter aller Nationalitäten. Nach den von IWF und Weltbank geforderten Reformen wurden die Kredite für den industriellen Sektor eingefroren um die Konkursentwicklung zu beschleunigen. Die Wirtschaftsreformen, die heute den Nachfolgestaaten aufgezwungen werden, sind eine logische Fortsetzung dessen, was damals begonnen wurde

Mirela Belošević, Belgrad, Juni 2003

erschienen in: Talktogether Nr. 4/2003