Nur Wohlstand macht nicht frei
von Abdullahi A. Osman
Amina und Anita sind Arbeitskolleginnen in einem kleinen Betrieb. Amina trägt ein Kopftuch, Anita ist überzeugte Feministin. Anita möchte Amina abraten, das Kopftuch zu tragen, im Glauben, ihr helfen zu müssen. Denn Anita denkt, dass Amina das Kopftuch aus Zwang trägt. Eines Tages beschließt Anita, mit Amina darüber zu sprechen und lädt sie ins Kaffeehaus ein. Amina schlägt stattdessen vor, dass Anita zu ihr nach Hause kommt:
Anita: Ich hätte gerne gewusst, warum du immer dieses Kopftuch trägst, ich finde, es passt überhaupt nicht zu dir.
Amina: Warum? Stört es dich etwa?
Anita: Nein, stören tut es mich nicht. Aber warum trägst es?
Amina: Bevor ich dir das sage, möchte ich dich fragen: bist du gläubig oder Atheistin?
Anita: Ich bin römisch-katholisch erzogen worden, allerdings tue ich nicht viel in dieser Richtung …
Amina: Die katholischen Schwestern tragen auch ein Kopftuch. Ist dir das nicht aufgefallen?
Anita: Die sind Nonnen, aber ich bin keine Nonne. Bist du etwa eine mohammedanische Nonne?
Amina (lacht): Nein. Ich bin Muslimin und nicht Mohammedanerin. Mohammedaner sagt man eigentlich nicht, aber ich weiß, was du damit meinst.
Anita: Komm zur Sache, warum Kopftuch?
Amina: Ich kann nur für mich sprechen: Ich trage das Kopftuch, weil ich zu meiner Religion und der Kultur, in der ich aufgewachsen bin, stehe. Das Kopftuch trage ich, weil ich meine Haare bedecken möchte. Ich bedauere, dass viele Frauen das Kopftuch gegen ihren Willen tragen müssen, oder nicht tragen dürfen. Ich habe die Freiheit, das selbst zu entscheiden.
Anita (ungeduldig): Aber warum musst du deine Haare verstecken, die sind ja doch schön?
Amina: Die Schönheit meiner Haare gehört mir allein und nicht der Öffentlichkeit. Ich bestimme, wer sie zu Gesicht bekommt oder wer sie nicht sehen darf!
Anita: Willst du mir damit sagen, dass du mit diesem Tuch jeden Tag freiwillig unterwegs bist?
Amina: Ja, ich bestimme selbst, ob ich es trage oder nicht!
Anita: Aber, bei jeder Frau ist das nicht so, oder?
Amina: Ich habe dir schon gesagt, dass ich nur für mich spreche.
Anita: Wenn ich eine Frau mit Kopftuch sehe, habe ich den Eindruck, sie trägt es aus Zwang, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau ihre Haare freiwillig verstecken würde. Mich stört es, dass die Frauen unter den Kulturen und Religionen leiden müssen.
Amina: Denkst wirklich, dass es mir gleichgültig ist, wenn ich eine Frau sehe, die gegen ihren Wille das Kopftuch tragen muss? Oder wenn ich eine Frau sehe, die seit 15 Jahren unter einer Ehe leidet, die sie aus Zwang eingehen musste? Denkst, dass es mich kalt lässt, wenn ich junge Frauen mit Kindern auf der Strasse sehe, die von ihren Männern zurückgelassen wurden? Ich bin davon überzeugt, dass die Mehrheit der Frauen auf dieser Welt unterdrückt ist, aber auf unterschiedliche Art und Weise.
Anita: Da stimme ich dir zu, aber ich möchte beim Thema Kopftuch bleiben. Wann hast du angefangen, es zu tragen?
Amina: Ich bin in einer Umgebung aufgewachsen, in der niemand gezwungen wird, es zu tragen. Ich habe es früher nicht getragen, irgendwann habe mich dazu entschlossen.
Anita: Aber dein Mann will schon, dass du es trägst?
Amina: Mir geht es an erster Stelle darum, was ich will oder nicht. Was mein Mann, meine Familie und meine Umwelt wollen, kommt an zweiter Stelle.
Anita: Aber du denkst anders, als die meisten?
Amina: Als wer? Ich weiß, dass viele denken, alle Fatimas und Aminas sind arm und alle Frauen mit Kopftuch sind unterdrückt, was leider auch nicht immer falsch ist. Aber es handelt sich um Verallgemeinerungen und Vorurteile. Ich habe auch hier viele Frauen kennen gelernt, die sich unterordnen und tun, was ihre Männer von ihnen verlangen, auch wenn sie kein Kopftuch tragen. Es gibt einige, die dagegen demonstrieren, und andere, die es akzeptieren. Damit möchte ich andeuten, dass nicht alle muslimischen Frauen alles ohne Widerspruch akzeptieren.
Anita: Gibt es wirklich in deiner Gesellschaft Frauen, die ihren Männern widersprechen können, ohne davor Angst zu haben, bestraft oder geschlagen zu werden?
Amina: Ja, ich bin eine von diesen Frauen. Ich will damit nicht sagen, dass immer alles nach meinem Willen und meinen Vorstellungen geht, aber ich lebe in einer Ehe, die zwischen zwei freien Menschen geschlossen wurde. Mein Mann und ich sind in einer von Männern dominierten Gesellschaft erzogen worden. Aber ich habe zu ihm gesagt, wenn er mit einer willenlosen Dienerin ohne Wünschen leben will, sollte er sich lieber eine andere suchen. Ich bin ein Mensch und habe einen Willen und Wünsche, darauf will ich nicht verzichten. Mit solchen Kompromissen funktioniert unsere Ehe.
Anita: Das klingt aber nach europäischen Gedanken?
Amina: Willst du damit sagen, dass alle guten Dinge aus Europa gekommen sind?
Anita: Naja, das ist demokratisch, und Demokratie gibt es ja nicht überall, bei euch zum Beispiel nicht.
Amina: Auch die europäischen Frauen hatten nicht immer das Recht, über ihr Leben selbst zu entscheiden, und Demokratie hat es hier auch nicht schon immer gegeben. Wir wissen doch, worunter die Frauen auch hier leiden. Es hat lange gedauert, bis die Frauen das Recht erlangten, zu wählen, zu studieren oder sich scheiden zu lassen. Dass die europäischen Frauen heute mehr Freiheit haben als früher, ist nicht vom Himmel gefallen. Aber auch wenn es heute viele Frauen gibt, die qualifizierte Berufe ausüben, wissen wir nicht, wie es ihnen in der Partnerschaft oder der Familie geht. Aber die Hauptsache ist, dass diese Frauen finanziell unabhängig sind.
Anita: Du kannst emanzipierte und unterdrückte Frauen nicht vergleichen! Die Frauen hier haben ja doch Freiheit!
Amina: Was heißt für dich, eine emanzipierte Frau zu sein? Welche Art von Freiheit haben die Frauen hier? Wenn eine Frau, um den Männern zu gefallen, sich als Sexobjekt präsentiert, oder sich vielleicht sogar Schönheitsoperationen unterzieht, ist das wirklich Freiheit? Frauen, die Gewalt, Demütigungen und Erniedrigungen ertragen müssen, um ihr Ehe zu retten, oder aus finanzieller oder anderer Abhängigkeit mit einem Mann leben, gibt es doch auch hier genug. Liebe Anita, glaub mir, nur Wohlstand allein macht nicht frei. Ich habe über die Geschichte der Frauen im Westen gelesen. Ich habe erfahren, dass die Frauen das, worauf sie heute stolz sein können, nicht als Geschenk bekommen, sondern durch ihr Wissen und Selbstbewusstsein erreicht haben. Viele Frauen in der Dritten Welt sind Analphabetinnen, und das ist das größte Hindernis für ihre Befreiung, da benötigen sie Hilfe. Aber wenn ihr uns wegen unseres Kopftuches Vorwürfe macht oder uns deswegen bemitleidet, damit helft ihr uns nicht.
Anita: Ich mache dir doch keinen Vorwurf, aber es fällt mir schon schwer zu verstehen, warum eine selbstbewusste Frau wie du, diesen Brauch akzeptiert und noch dazu verteidigt. Manche Politiker mit islamischem Hintergrund schlagen sogar vor, dass die Frauen das Kopftuch aus dem Fenster werfen sollen, weil es ein Hindernis für die Integration sein soll, was sagst du dazu?
Amina: Da müssen wir zwei Sachen trennen: Kopftuch und Integration. Integration ist für mich etwas, was zwischen zwei Kulturen oder Gesellschaften stattfindet. Ich weiß, dass viele Einheimische von den Zuwanderern nur erwarten, sich anzupassen, aber das finde ich nicht richtig. Es muss doch Signale geben, dass ich in dieser Gesellschaft willkommen bin. Wenn alle Türen verschlossen sind, trauen sich viele nicht anzuklopfen. Natürlich müssen wir Einwanderer aus unserem eigenen Interesse die Sprache lernen und wissbegierig sein. Ich kann nicht die Staatbürgerschaft des Landes haben wollen und gleichzeitig nicht wissen, wie viele Bundesländer Österreich hat oder wie viele Parteien es im Parlament gibt etc. Aber man sollte die Menschen auch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Die Menschen brauchen sicherlich Orientierung. Bedrohung und Panik sind aber bestimmt keine Lösung.
Das Kopftuch aber ist etwas Privates und sollte kein Hindernis für die Integration sein. Ob die Frau es trägt oder nicht, soll sie selbst entscheiden. Man sollte aufhören, die Frau als unmündig oder Opfer darzustellen. Wer sie aber dazu zwingt, soll vor Gericht kommen. Ich muss aber betonen, dass eine Migrantin immer Probleme hat, ob sie ein Kopftuch trägt oder nicht. Das Kopftuch wird nicht negativ angesehen, wenn es von einer reichen Urlauberin aus einem arabischen Land getragen wird. Wenn sie zur Rezeption kommt um den Schlüssel zu holen, wird sie höflich begrüßt, aber auf die Putzfrau mit Kopftuch wird herabgesehen.
Amina steht auf, geht ins Schlafzimmer und kommt ohne Kopftuch zurück. Sie will weiter sprechen.
Anita (verwundert): Was ist jetzt? Warum bist du ohne Kopftuch?
Amina: Ich habe mit dir über eine halbe Stunde diskutiert, jetzt möchte ich mit dir ohne Kopftuch diskutieren, damit du siehst, dass ich immer noch die gleiche Person bin.
Anita: Aber du bist mir ohne das Kopftuch sympathischer, außerdem hast du schöne Haare, schade, dass du sie verstecken musst.
Amina: Aber wenn ich meine Haare bedecke, wann ich es will, warum sollte man sich damit beschäftigen?
Anita: Weil wenige Menschen wissen, dass manche Frauen das freiwillig tun. Was machst du, wenn dein Mann jetzt kommt?
Amina: Vor meinem Mann verstecke ich meine Haare nicht, auch nicht vor meinem Vater, meinen Brüdern und meinen Söhnen.
Anita: Aber wenn ein Mann von seiner Frau verlangt, einen Schleier zu tragen, damit kein anderer ihren Körper sieht, kann man da nicht sagen, dass er den Körper seiner Frau als sein Eigentum betrachtet? Und es gibt doch auch viele Frauen, die nur deswegen ein Kopftuch tragen, damit die anderen nicht schlecht über sie reden.
Amina: Es kommt darauf an, wo eine Frau lebt, wie selbstbewusst sie ist und ob sie in der Lage ist, ihre Entscheidung zu verteidigen. Was jedoch manche so genannte Scheichs erzählen, dass sie Frauen als nacktes Fleisch oder einen Gegenstand bezeichnen, und die Männer als wilde Tiere, für solche Aussagen habe ich kein Verständnis. Genau sowenig Verständnis habe ich, wenn jemand mir vorschreiben will, wie ich mit meinem Kopf umgehen soll. Ich wehre mich gegen Fremdbestimmung, muss aber dazu sagen, dass ich mit dieser Einstellung fast allein da stehe, sowohl im Okzident als auch im Orient. Die Aussage dieses Scheichs zeigt mir, dass er weder Frauen noch Männer als denkende und fühlende Wesen ansieht (1). Die Kritik innerhalb der islamischen Gemeinde zeugt davon, dass nicht alle so denken, was ich gut finde.
Anita: Menschen, die am Islam oder islamischen Praktiken Kritik üben, werden oft mit Gewalt bedroht!
Amina: Ich muss zugeben, dass wir Menschen, was Religion, Hautfarbe und Kultur betrifft, empfindlich sind. Wir müssen jedoch in der Lage sein, unsere Meinung mit Argumenten zu verteidigen, und Konflikte ohne Gewalt oder Drohungen durch Dialog zu lösen. Ich finde aber auch, dass die Provokationen eingeschränkt werden müssen, damit wir uns nicht gegenseitig verletzen und Feindbilder abbauen können.
Anita: Viele meinen, das Kopftuch ist ein Zeichen der Unterwerfung und beschränkt die Freiheit der Frauen.
Amina: Natürlich gibt es viele Frauen, die das Kopftuch aus Unterwürfigkeit tragen, weil sie es nicht anders kennen. Aber es gibt auch muslimische Frauen, die Fragen stellen. Wie ich schon gesagt habe, ich habe es mir überlegt, ob ich ein Kopftuch tragen will oder nicht, und mich dazu bewusst entschieden. Doch das ist eine Frage der Unabhängigkeit, und Voraussetzung dafür ist Bildung, Deshalb sage ich zu meinen Schwestern: Lernt die Sprache, denn die Sprache ist wichtig für euch und eure Kinder. Der Prophet Mohammed sagte: die beste Lehrerin ist die Mutter. Was euren Körper betrifft, sollt ihr ausnahmslos selbst entscheiden.
Anita: Es gibt bei uns auch viele, die gegen Abtreibung sind, ich bin der Meinung, dass die Frau das entscheiden soll.
Amina: Kopftuch und Abtreibung kann man doch nicht vergleichen.
Anita: Aber es geht doch um die freie Entscheidung der Frau über ihren Körper.
Amina: Du hast Recht, aber mit solchen Fragen muss man behutsamer umgehen. Bei einer Abtreibung geht es ja um Leben oder Tod. Aber wenn eine Frau das Kind im Bauch nicht behalten kann oder will, können sie weder ein Priester noch irgendwer sonst dazu zwingen. Man kann ihr nur Hilfe anbieten, ob die Frau sie annimmt oder nicht, ist ihre Entscheidung.
Anita: Ich frage mich, wer hat den Männern den Auftrag geben, über unsere Körperteile zu entscheiden? Wir bestimmen auch nicht, ob sie Bart tragen oder nicht.
Amina: Ja, wir diskutieren auch nicht über ihren runden dicken Bauch. Ich finde, dass wir Frauen ohne Einmischung der Männer über unsere Angelegenheiten diskutieren sollen.
Anita: Könntest du dir vorstellen, das Kopftuch abzulegen?
Amina: Vorstellen schon, aber ich will nicht, weil ich mich dafür entschieden habe. Ich tue es ja nicht für die anderen, sondern für mich. Wenn jemand von mir verlangt, darauf zu verzichten, wäre es so, als ob man mir einen Teil meiner Freiheit geraubt hätte. Genauso würde ich mich aber auch fühlen, wenn ich es gegen meine Wille tragen müsste.
Anita: Stimmt es, dass ihr glaubt, ohne Kopftuch keinen Himmel?
Amina: Das Kopftuch ist doch keine Eintrittskarte zum Himmel! Für mich ist es ein Symbol der Zugehörigkeit, das ist alles. Ist es nicht wichtiger, was in meinem Kopf drin ist, als was darüber ist? Was mir am wichtigsten ist, trage ich in meinem Herzen, das sieht kein Mensch. Wir reden den ganzen Tag über meine Haare, aber wir haben nicht einmal über deine gesprochen, warum das?
Anita: Was gibt es bei mir denn zu diskutieren! Du siehst sie ja. Ich kann sie abschneiden, rot oder grün färben (lacht)…
Amina: Du kannst mit deinen Haaren machen, was du willst, und ich auch. Wenn ich erfahre, dass Frauen diese Möglichkeit nicht haben, oder über noch viel schlimmere Dinge höre wie Zwangheirat und ähnliches, dann schaue ich bestimmt nicht weg.
Anita: Da kannst du auch auf mich zählen. Du hast recht, es gibt für uns Frauen viel größere Probleme als ein Stückchen Stoff. Obwohl die Frauen von Geburt an den Männern zur Seite stehen, werden sie oft als Fabrik betrachtet, die nur Kinder produziert. Frauen in der ganzen Welt sind Gewalt und Unterdrückung unterworfen. Das haben wir als Mütter, Schwestern, Ehefrauen, Geliebte usw. nicht verdient, ob mit oder ohne Kopftuch. Es ist eine Tatsache, dass auch in Europa leider nur wenige Frauen ihre eigenen Ziele erreichen, weil sie sie denen der Männer unterordnen.
Amina: Ich finde es wichtig, dass unsere Schwestern in Europa erkennen, das manches, was oberflächlich betrachtet als „Freiheit“ bezeichnet wird, oft nur ein Trugbild ist, das sich in Wirklichkeit gegen die Frauen richtet.
Anita: Durch unsere Diskussion habe ich viel gelernt und ein paar Vorurteile abbauen können. Ich habe erkannt, dass nicht jede Frau mit Kopftuch ein Opfer und unmündig sein muss, sondern dass es auch Frauen wie dich gibt, mit denen man diskutieren kann.
Amina: Wir können viel voneinander lernen, indem wir miteinander sprechen und diskutieren, das habe ich auch in Talk Together gelesen. Statt Trennendes zu suchen, sollen wir Frauen uns solidarisieren und gemeinsam für Gerechtigkeit und Gleichberechtigung kämpfen!
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