Wir hatten den Traum, dass die Welt
besser sein könnte, als sie es heute ist
Sind wir Frauen heute in der westlichen Welt gleichberechtigt? Oder ist die völlige Gleichstellung zwischen Mann und Frau nur eine Utopie, ein unerfüllbarer Wunschtraum? Die Historikerin und Frauenforscherin Wang Zheng, die heute an der Universität von Michigan in den USA lehrt, wuchs in China während der Zeit der Kulturrevolution auf, in einer Zeit, als die Gleichberechtigung der Frauen ein zentrales Thema der Politik war. Mit ihrer revolutionären Politik gelang es den chinesischen KommunistInnen, jahrtausende lang praktizierte feudale Bräuche der Frauenunterdrückung aufzubrechen und abzuschaffen. Mit ihrem Buch „Some of Us: Chinese Women Growing Up in the Mao Era“, einer Sammlung der Lebensgeschichten von neun Frauen, die in dieser Periode aufgewachsen sind, versucht Wang Zheng, gängigen Vorurteilen von einer barbarischen und unterdrückerischen Epoche entgegenzuwirken. Hier ein paar Auszüge aus einem Gespräch mit Wang Zheng:
SRS: Es gibt viele Lebensgeschichten von Leuten aus China ĂĽber die Ă„ra Maos. Was hat euch bewogen, dieses Buch zu schreiben?
Wang Zheng: Dieses Buch umfasst die Lebenserinnerungen von neun Autorinnen, die alle aus der Volksrepublik China stammen. Wir haben in den USA studiert und die meisten von uns sind jetzt Professorinnen. Unsere Motivation, dieses Buch herauszugeben, war, dass wir verwundert waren über die vielen Memoiren, die von Leuten aus China auf dem Markt erschienen waren. Diese Memoiren, die Maos Ära als „dunkles Zeitalter“ beschreiben, in dem es nur Verfolgung, Diktatur und Gewalt gegeben hat, wurden sehr gefördert und erreichten große Verkaufserfolge, stellen aber eine sehr einseitige Sicht dar.
Obwohl ich nicht behaupte, dass alle diese Geschichten Lügen sind, ist vieles davon nachweislich erfunden. (…) In den USA herrscht noch immer die Mentalität des „Kalten Krieges“ und es wird noch immer erzählt, dass die kapitalistischen Länder wundervolle Länder der Freiheit seien, während der Kommunismus unmenschlich, und das Rote China eine schreckliche Hölle gewesen seien. Bücher, die solche Horrorgeschichten wiedergeben, erfahren in den Medien immer die höchste Aufmerksamkeit.
Ich will nicht sagen, dass die beschriebenen Grausamkeiten nicht passiert sind. Mein Anliegen ist nur klarzustellen, dass China ein riesiges Land mit einer Bevölkerung von einer Milliarde Menschen ist, in dem es verschiedene soziale Schichten gibt. Angehörige unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen erleben aber die gleiche historische Periode unterschiedlich.
Viele der Erfahrungen, die in diesen Memoiren beschrieben sind, habe ich nicht geteilt. Als ich herausfand, dass viele meiner chinesischen Altersgenossinnen die gleichen Gefühle gegenüber diesen Memoiren hatten, wollten wir etwas tun, zumindest unsere Stimme erheben. Wenn jene ihre Geschichten erzählen können, was ist mit unseren Erfahrungen? Für mich als Historikerin war es nicht wichtig, jemanden oder etwas zu verteidigen, sondern ein differenzierteres Bild der Geschichte zu präsentieren.
Wenn man sich anschaut, wer diese „Verurteilungen“ geschrieben hat, fällt auf, dass es sich meist um Leute aus den privilegierten Schichten handelt, man hört keine Stimmen von ArbeiterInnen oder BäuerInnen, von Leuten aus den unteren Klassen der Gesellschaft. Wie haben diese Menschen Maos China erlebt?
Die Kommunistische Partei war sehr komplex, mit unterschiedlichen Strömungen, unterschiedlichen Visionen von China, sogar unterschiedlichen Visionen vom Sozialismus. Viele verschiedene Menschen waren in die Politik involviert und ihre Entscheidungen hatten unterschiedliche Auswirkungen. Es war eine komplizierte Situation, doch was man hier hört, ist nur eine einzige Stimme – von Leuten aus der Oberschicht, die klagen, wie sie während dieser Jahre gelitten haben.
SRS: Warum bekam die „Verurteilungsliteratur“ so viel Aufmerksamkeit?
Wang Zheng: Die „Kulturrevolution zu negieren“ war ein Plan von Deng Xiaoping, um den Weg zu ebnen für die Demontage des Sozialismus und um seine Macht zu festigen. Es war seine Methode, von den Verbrechen abzulenken, die er und seine Mitarbeiter verübten. Nach diesem Aufruf verschaffte es Ansehen, ein Opfer der Kulturrevolution zu sein. Viele Intellektuelle sprangen auf den Zug auf und produzierten solche Opfergeschichten. (…) Die Leute, die sich weigerten mitzumachen, wurden von den Privilegien ausgeschlossen, die die neu entstandene Elite genoss, wenn sie nicht ins Gefängnis verbannt wurden.
SRS: Eine Geschichte beschreibt, wie dir eine Frau stolz erzählte, dass ihre Tochter Cheerleader sei …
Wang Zheng: Nachdem Deng Xiaoping die Kulturrevolution verurteilt hatte, war auch ich sehr verwirrt. (…) Aber meine Erfahrungen in den USA ließen mich den Sinn der chinesischen Revolution und ihrer Veränderungen klarer erkennen – ich konnte die Mentalität amerikanischer Frauen mit der von Frauen meiner Generation in China vergleichen. Ich lebte damals bei einer amerikanischen Familie, als die Freundin meiner Vermieterin zu Besuch kam und über ihre Tochter sprach. „Was macht ihre Tochter?“ fragte ich. Voller Stolz sagte sie: „Sie ist Cheerleader“. Ich wusste nicht, was das ist, und fragte, welche Art von Führerin sie denn sei. Als sie es mir erklärte, war ich schockiert. Ich fragte mich: Wie kann diese Frau darauf nur stolz sein? Sie konnte sich wohl nicht einmal vorstellen, dass ihre Tochter eine Führerin sein könnte, die bei Männern Achtung genießt. Solche scheinbar unbedeutenden Erlebnisse zeigten mir den scharfen Gegensatz zwischen den Erfahrungen auf, die ich im sozialistischen China gemacht habe, und den Erfahrungen der meisten Frauen in dieser Gesellschaft, ihrer Mentalität und ihren Ansichten.
SRS: Das Thema zieht wie ein Faden durch dein Buch.
Wang Zheng: Ich habe mein Buch unter der Gender Perspektive geschrieben. Ich würde sagen, dass für die Kommunistische Partei Chinas von Beginn an die Gleichheit der Geschlechter ein zentrales Thema war. Viele Forschungen haben demonstriert, dass die Politik der Frauen- und Geschlechtergleichheit von den Feministinnen in der Partei gefördert wurde. Die Partei war ja niemals ein monolithischer Block, sondern schloss die unterschiedlichen politischen Visionen verschiedener Leute ein. Jede politische Maßnahme war das Ergebnis von Verhandlungen und Auseinandersetzungen. Und den kommunistischen Feministinnen gelang es ziemlich erfolgreich, ihre Interessen in der Partei zu vertreten.
SRS: Um welche Politik ging es da?
Wang Zheng: Um die Ehegesetze zum Beispiel. Weil die Frauen seit 1949 daran gearbeitet haben, die Gender-Politik zu thematisieren, wurde die Gleichheit zwischen Mann und Frau die herrschende politische Ideologie - heute nicht mehr, aber damals –, die sich durch die gesamte kulturelle Produktion zog. Frauen wurden ermutigt, die männlich dominierten Berufsfelder zu durchbrechen, es gab Pilotinnen, Lokführerinnen, Soldatinnen usw. Meine Generation wurde in eine solche kulturelle und politische Atmosphäre hineingeboren. Gleiche Ausbildungsmöglichkeiten und gleicher Lohn waren eine Selbstverständlichkeit für uns, speziell während der Zeit der Kulturrevolution. Das sozialistische Wirtschaftssystem, das die gerechte Aufteilung der Produktionsmittel einschloss, begünstigte dabei die Frauen. Mutterschaftsurlaub wurde garantiert und es gab keine Diskriminierung der Frau in staatlichen Unternehmen und im Bildungssystem. Ich muss aber dazu sagen, dass davon vor allem die städtischen Frauen profitierten, weil in der ländlichen Gesellschaft der Widerstand gegen die Gleichberechtigung größer war.
Heute hat sich die Situation für die Frauen allerdings wieder sehr verschlechtert, weil sich allgemein die Kluft zwischen arm und reich, zwischen den Geschlechtern und den Regionen vergrößert hat. Während der Kulturrevolution war man bestrebt, die Kluft zwischen Stadt und Land zu reduzieren, so genannte „Barfuss-ÄrztInnen“ und LehrerInnen wurden überall hin aufs Land geschickt.
SRS: Welche Ziele hatte eure Generation?
Wang Zheng: Wir hatten den Traum, dass die Welt besser sein könnte, als sie heute ist. Wir hatten die Vision von einer Gesellschaft, in der es nicht nur darum geht, möglichst viel Besitz anzuhäufen. Wir wollten etwas zum Gemeinwohl beitragen, wir machten uns über die Menschheit Gedanken. Wir wünschten uns eine Gesellschaft, nicht nur in China sondern auf der ganzen Welt, in der die Menschen glücklich und in Frieden ohne Ausbeutung und Unterdrückung leben können. Wir verfolgten einen utopischen Traum, der so alt ist wie die Menschheitsgeschichte. Ich würde niemals Gewalt entschuldigen, doch um eine gerechte Gesellschaft zu schaffen, bedarf es drastischer Maßnahmen, z.B. das Land der Großgrundbesitzer zu konfiszieren und es unter der landlosen Bevölkerung aufzuteilen. Wenn du einen Großgrundbesitzer oder seine Kinder interviewst, wirst du natürlich Geschichten hören, die von Hass auf die Kommunisten erfüllt sind. Wenn du aber Bauern fragst, die zum ersten Mal Land erhalten haben, wirst du etwas ganz anderes erfahren. Aber diese Leute schreiben ihre Geschichten nicht auf Englisch – und wenn doch, erreichen sie nicht die breite Öffentlichkeit.
Dass es Gleichheit und Gerechtigkeit auf dieser Welt geben soll, darin sehe ich nichts Falsches, auch wenn manche diesen Traum für naiv halten. Wir Menschen brauchen doch etwas Schönes in unserem Geist, sonst werden wir ja wie hässliche Tiere. Heute hat die Menschheit so viele materielle Reichtümer angesammelt, aber dabei zerstören wir die Erde. Wir könnten ein ganz anderes Leben führen, deshalb sind Träume wichtig.
SRS: Was hoffst du mit deinem Buch zu erreichen?
Wang Zheng: Die Leute, die die chinesische Revolution verurteilen, haben die ganze Maschinerie des Marktes hinter sich. Für uns ist es aber wichtig, dass unsere Arbeit nicht nur in akademischen Kreisen diskutiert wird. (…) Akademische Konferenzen erreichen kein großes Publikum. Für uns stellt sich die Frage, wie wir mehr Menschen erreichen können.
Die US-Regierung hat mehr als 70 Milliarden Dollar in den Irak-Krieg gesteckt. Wenn dieses System mehr Geld investiert, um Menschen zu töten, als in die Bildung der heranwachenden Generation, kann man dann wirklich sagen, dass dieses System besser ist, als in China zur revolutionären Zeit, als die Menschen freien Zugang zu Bildung und medizinischer Versorgung hatten? Wenn die Ziele der chinesischen Revolution durch Fehler oder Fehlentwicklungen vereitelt wurden, müssen wir aus ihnen lernen, neue Wege entwickeln und es in Zukunft besser machen.
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Quelle: Auszüge aus einem Interview mit dem Setting The Record Straight (SRS) Project, USA, veröffentlicht in: „Revolution“ vom 3.9.2006, (v. d. R. übersetzt) revcom.us/a/059/some-of-us-en.html
Wang Zheng ist Professorin für Women’s Studies am Institute for Research on Women and Gender der University of Michigan und eine der international führende Wissenschaftlerin, die Geschlechterverhältnisse im modernen China untersuchen.
Veröffentlichung: Some of Us: Chinese Women Growing Up in the Mao Era (Rutgers University Press, 2002, herausgegeben mit Xueping Zhong and Bai Di)
erschienen in: Talktogether Nr. 19/2007
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