Gespräch mit Moukhles
aus Tunesien
Talktogether: Wie ist die Lage in Tunesien?
Moukhles: Die Lage ist sehr instabil, es wackelt, aber nicht in eine positive, sondern eher in eine negative Richtung. Die ehemalige Regierung ist immer noch da und obwohl es jetzt Minister mit neuen Namen gibt, hat sich in Wirklichkeit nichts geändert. Die Ex-Regierung versucht, das Volk mit Versprechungen zu beruhigen und zu beeinflussen, es ist lächerlich. Gleichzeitig greifen in den Städten jeden Tag bewaffnete sogenannte Milizen die Demonstranten an, sie bewegen sich schnell und sind gut organisiert. Es gibt Plünderungen und sie haben sogar Schulen angegriffen.
Talktogether: Wer hat sie geschickt?
Moukhles: Das kann ich nicht mit Sicherheit sagen. Es wird gesagt, sie seien von der Ex-Regierung geschickt, vom Ex-Präsidenten und seiner Clique. Diese Leute wollen die Macht nicht verlieren, weil sie durch sie profitieren, angefangen vom kleinen Soldaten oder kleinen Polizisten bis zum Oberleutnant und Bürgermeister. Durch die Partei haben sie ihre Posten bekommen. Es ist ihre Taktik, die Menschen zu zermürben. Sie hoffen, dass die Bewegung geschwächt wird, wenn viele aufgeben und an einen Punkt kommen, wo sie nur mehr ihre Ruhe haben wollen. Wenn ich mit meiner Mutter und mit meinen Verwandten oder mit Freunden spreche, äußern viele, dass sie sich nach Ruhe sehnen. Das ist verständlich. Wenn ich Taxifahrer, Maurer oder Bäcker bin, muss ich Geld verdienen. Wenn ich eine Woche nicht arbeiten oder mein Geschäft nicht aufmachen kann, weil ich Angst habe, attackiert zu werden, verdiene ich nichts.
Talktogether: Kannst du uns etwas über die Lage in Tunesien vor dem Aufstand erzählen?
Moukhles: In den 1970er und 1980er Jahren war die politische Lage besser, aber die wirtschaftliche Situation sehr schlecht. Es gab viel Korruption und viel Geld, das durch den Tourismus erwirtschaftet wurde, landete in den Taschen bestimmter Leute. Als Zine el-Abidine Ben Ali 1987 die Macht übernahm, gab es einen wirtschaftlichen Aufschwung, es wurden Autobahnen gebaut, Straßen gebaut und die Infrastruktur verbessert. Dadurch hat er das Vertrauen des Volkes gewonnen. Früher konnte man nur in der Hauptstadt studieren. Dafür brauchte man aber Geld für ein Zimmer, für Essen und Transport, das konnten sich viele nicht leisten. Unter Ben Ali wurden Schulen und Universitäten in allen Landesteilen gebaut, das hat mehr Menschen ermöglicht zu studieren. Gleichzeitig ist aber auch die Zahl der Polizisten stark angestiegen. Es gab eine Zeit, da wurde gesagt, für jeden Bewohner gibt es einen Polizisten.
Als der Aufschwung 1993-94 wieder abflaute, spielte die Regierung mit der Strategie, jedem im Volk ständig mit seinen eigenen Sorgen zu beschäftigen. Wenn du Student bist, versuchst du so schnell wie möglich dein Studium abzuschließen, damit du schnell einen Job bekommst, denn in jeder Branche stieg die Arbeitslosigkeit rasch an. Solange du Student bist, bekommst du zumindest ein Stipendium, aber wenn du dein Studium abgeschlossen hast und keinen Job bekommst, stehst du ohne Einkommen da. Und wenn du einen Job hast, kannst du dir dein Leben aufbauen, aber dann hast du Schulden. Die Medien haben mitgespielt und immer nur über die positiven Seiten der Regierung und nie etwas Regierungskritisches berichtet.
Talktogether: Was sind die Ursachen für die offensichtlich so große Wut der Menschen auf die Regierung?
Moukhles: Das sind die Ungerechtigkeit und das Gefühl von Unterdrückung und Machtlosigkeit. Wenn du Einfluss und die richtigen Kontakte hast, kannst du machen, was du willst, ohne von der Polizei bestraft zu werden. Wenn du aber keine Beziehungen hast, wirst du wegen jeder Kleinigkeit betraft und dazu noch beleidigt und beschimpft. Man sieht ja, die Provokateure, die Gewalt verbreitet haben, werden von der Regierung bezahlt. Die Angehörigen der Opfer, die von ihnen erschossen worden sind, bekommen nichts.
Warum bin ich nach Österreich gekommen? Mein ältester Bruder war einer der besten Studenten in seinem Fachgebiet, doch als er mit dem Studium fertig war, hatte er trotz seiner hervorragenden Studienerfolge überhaupt keine Chance, irgendwo eine Arbeitsstelle zu bekommen, weil mein Vater keine Beziehungen hat und kein Schmiergeld bezahlen konnte. Deshalb sah ich keine Zukunft für mich. in Tunesien Was sollte ich machen, wenn ich mit meinem Studium fertig bin? Dann werde ich auch arbeitslos. sein Seit damals habe ich angefangen, daran zu denken, ins Ausland zu gehen.
Talktogether: Welche Rolle spielt das Militär?
Moukhles: In Tunesien ist die Situation nicht wie in Algerien, wo die ganze Macht beim Militär liegt. In Tunesien verdient ein General nicht so viel, und ein großer Teil der Soldaten sind Wehrpflichtige. Es ist hart zum Bundesheer zu gehen, es dauert 12 Monate. Viele sind geflüchtet, um dem Militärdienst zu entkommen. Aus diesen Gründen haben die Militärs auch die Befehle des Ex-Präsidenten missachten und sich geweigert, auf das Volk zu schießen.
Talktogether: Im Westen wird immer von der Gefahr geredet, dass die Islamisten an die Macht kommen. Gibt es diese Gefahr?
Moukhles: Da möchte ich das Wort Islamisten genauer definieren. Wenn jemand an die Macht kommt, der sich an die Gesetze des Koran hält, besteht keine Gefahr, dann würden die Menschen in Frieden leben können. Leute, die im Namen Allahs Gewalt verüben, sind für mich keine Islamisten. Im Koran steht auch, dass keiner zum Glauben gezwungen werden kann, der Glaube kann nur aus innerer Überzeugung kommen. Aber für viele Machthaber ist die Religion ein Mittel, um ihre Macht zu erhalten. Die Regierungen in der arabischen Welt, ob sie nun mit Religion kombiniert sind oder nicht, machen nur das, was für sie zum Vorteil ist und damit sie an der Macht bleiben können. In Tunesien haben Christen, Juden und Muslime seit jeher immer friedlich zusammengelebt. In fast allen Städten gibt es Synagogen und Kirchen. Auch in Ägypten war das so. Aber aufgrund verschiedener Faktoren haben Juden und Christen in den arabischen Ländern keine Teilhabe an der politischen Macht, und die politische Situation im Nahen Osten hat das Klima schwieriger gemacht.
Talktogether: Die Leute auf den Demos in Tunesien und Ägypten kommen aus unterschiedlichen Bevölkerungsschichten, im Fernsehen hat man u.a. Studenten, Arbeiter, Rechtsanwälte, Bauern, Schauspielerinnen gesehen. Was hat die Menschen zusammengeschmiedet?
Moukhles: Wenn man so viel Wut und Zorn angestaut hat, kann man viel Kraft entfalten. Die Menschen wollen ihre Würde und ihren Stolz zurückgewinnen. Die Medien reden von der „Jasmin-Revolution“, ich würde sie eine Revolution des Stolzes nennen. In Tunesien hat die Geschichte angefangen mit Stolz. Es hat angefangen, als eine Beamtin hat einem machtlosen Mann auf der Straße eine Ohrfeige gegeben hat, danach hat er sich mit Benzin übergossen und angezündet…
Talktogether: In den Zeitungen stand, es war, weil man ihm seinen Gemüsestand weggenommen hat…
Moukhles: Das ist nicht der wirkliche Grund. Die Polizei hat ihm schon so oft seinen Gemüsestand weggenommen und er hat schon viele Strafen bezahlen müssen. Das war für ihn Alltag. Doch trotzdem muss er weitermachen, irgendwie muss er ja sein Geld verdienen. Aber diese ungeheuerliche Arroganz der Beamtin, die denkt, sie hat die Macht, alles zu tun, und die sich das Recht herausnimmt, Menschen zu demütigen, hat den Ausschlag gegeben. Er fühlte sich in seinem Stolz verletzt, konnte aber nichts tun, denn sie hat Macht und er ist machtlos. Deshalb hat er auf so radikale Weise reagiert.
Talktogether: Was wünschen sich die Menschen in Tunesien? Was muss sich verändern?
Moukhles: Es wird sicher schwierig werden, etwas zu verändern. Das Volk wünscht sich eine Regierung sein, die wirkliche wirtschaftliche und soziale Veränderungen durchführen will, die die Ausbildungsmöglichkeiten verbessert, mehr Arbeitsmöglichkeiten schafft, die Gesundheitsversorgung verbessert. Es sollten auch nicht Leute an die Macht kommen, die die ganze Zeit im Exil gelebt und versucht haben, vom Ausland aus Revolution zu machen. Sie haben nicht die Erfahrungen mit der Ex-Regierung gemacht, und es gibt die Sorge, dass diese Leute Beziehungen mit ausländischen Mächten aufgebaut haben.
Talktogether: Wie siehst du die Rolle des Westens?
Moukhles: Der Westen versucht, im Hintergrund die Fäden zu ziehen und den Machtwechsel zu kontrollieren, um die eigenen strategischen und wirtschaftlichen Interessen schützen. Hier geht es beispielweise um Waffenlieferungen aus Frankreich. Woher hat die tunesische Polizei ihre Gewehre, Handschellen, mit denen sie die Bevölkerung zu unterdrückte? Der Ex-Präsident hat das Land verlassen, weil er von oben einen Hinweis bekommen hat, dass er keine Unterstützung mehr bekommt. Sonst wäre er bestimmt nicht gegangen.
Talktogether: Wie geht es weiter? Besteht die Gefahr eines Bürgerkrieges?
Moukhles: Für mich ist jetzt noch alles unklar. Ich habe noch vor Kurzem große Hoffnung gehabt, dass die Lage besser wird, aber jetzt weiß ich, dass das noch sehr viel Zeit brauchen wird. Dass ein Bürgerkrieg ausbricht, hoffe ich nicht, denn dann würde das Land nicht mehr auf die Beine kommen. Ich kann mir schon vorstellen, dass manche Leute planen, die Lage zu destabilisieren, und dann kommt ein Retter und die Geschichte beginnt wieder von vorne. Die Gewalt kommt nicht von den Leuten, die demonstrierten, nicht von den Studenten oder Rechtsanwälten, sondern von ungebildeten Leuten von der Straße, von Kleinkriminellen, die nur ans Geld denken und die Situation ausnützen. Dann kann man schnell in eine Situation kommen, wo man nicht mehr weiß, wer auf welcher Seite steht.
Aber für mich stellt sich die Situation anders dar. Ich arbeite und lebe hier im Österreich und habe ein gutes Leben. Wenn ich nach Tunesien komme, kann ich mir alles leisten. Wenn ich die ganze Zeit in Tunesien geblieben wäre, würde ich die Dinge anders sehen. Wer nichts hat, keinen Job, keine Familie und keine Perspektive, wer festgenommen wird, nur weil er sein Brot verdienen will, reagiert anders.
Talktogether: Auch in anderen arabischen Ländern gibt es Demonstrationen gegen die Regierung. Breitet sich die Bewegung aus?
Moukhles: Als es in Tunesien angefangen hat, hat keiner geahnt, wie weit das gehen würde. Jetzt ist Ägypten das Hauptthema. Die Situation ist dort ähnlich und es spielen sich ähnliche Szenen ab. Für die Machthaber anderer arabischer Staaten ist es deshalb von entscheidender Bedeutung, dass sich die Lage in Ägypten beruhigt, damit sich die Proteste nicht ausbreiten.
Die Menschen in der Protestbewegung sind sehr unterschiedlich und sie haben unterschiedliche Ziele, das macht ihre Situation schwierig. Bei uns sagt man: Es ist schwer, den höchsten Punkt eines Berges zu erreichen, aber es ist noch viel schwieriger, oben zu bleiben. Aber es gibt noch ein anderes Sprichwort: Der Kampf ist wie das Meer, die Wellen gehen vorwärts und dann wieder zurück, man muss manchmal angreifen und sich manchmal wieder zurückziehen.
Talktogether: Was erwarten die Menschen?
Moukhles: Die Menschen wollen eine wirkliche Veränderung. Sie wollen nicht, dass nur Namen ausgetauscht werden, die Regierenden aber wieder aus derselben Schicht kommen und dieselbe Politik weiterführen. Sie wünschen sich, ein gutes Leben zu haben, Arbeit zu haben, sich einen Urlaub leisten können. Sie wollen Gesetze, nach denen alle Menschen gleich behandelt werden, sie wünschen sich die Freiheit, ihre Meinung äußern zu können, Gleichheit und Frieden.
Talktogether: Danke für das Gespräch. Normal 0 21 false false false DE X-NONE X-NONE MicrosoftInternetExplorer4
erschienen in Talktogether Nr. 35/2011
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