Arundhati Roys „Wanderung mit den Genossen“
Plädoyer gegen den Krieg des indischen Staates gegen seine Urbevölkerung
Sie wanderte jede Nacht viele Stunden durch die Wälder, unterhielt sich mit Indiens meistgesuchten Guerrillakämpfern, von denen fast die Hälfte Frauen sind, verbrachte die Nächte auf blauen Plastikplanen im ihrer Beschreibung nach “schönsten Zimmer, in dem ich seit langem geschlafen habe. Meine Privatsuite in einem Tausend-Stern-Hotel“.
Die Schriftstellerin und Aktivistin Arundhati Roy berichtet in ihrem Essay „Wanderung mit den Genossen“ über ihre Begegnungen und Gespräche mit den Rebellen, die in den Wäldern Zentralindiens seit 40 Jahren einen erbitterten Krieg gegen die indische Regierung führen. Vom Volk werden sie Dada Log genannt, Bruder-Leute. Die Regierung nennt sie „Indiens größte Sicherheitsbedrohung“. In der Mehrzahl handelt es sich um Adivasi, Angehörige der indigenen Völker Indiens. Weil ihre Siedlungsgebiete reiche Bodenschätze bergen, sind sie in das Blickfeld großer Konzerne geraten. Doch der Abbau der Rohstoffe würde die Zerstörung ganzer Landstriche und die Vernichtung der Existenzgrundlagen der dort lebenden Völker bedeuten
Kampf ums Ãœberleben
„Sie bauen Staudämme, überfluten unsere Dörfer, bauen Fabriken, roden unsere Wälder, graben Minen und errichten Nationalparks. Die Flüsse sind ausgetrocknet und verschmutzt. Ihr trinkt Cola und Wasser in Flaschen, doch wie sollen wir unseren Durst löschen?“, heißt es in einem populären Lied Adivasi-Widerstandsbewegung (1).
Die Wälder Zentralindiens sind Heimat vieler indigener Völker. Seit Jahrhunderten unterdrückt und ausgegrenzt, haben sie sich in abgelegene Gebiete zurückgezogen, wo sie ihre Lebensweise bewahren konnten und von der Subsistenzwirtschaft leben. Schon gegen die Briten haben sie Widerstand geleistet und sich gegen die Zamindare (2) gewehrt. Nach der Unabhängigkeit wurden diese Menschen, die keine Besitzurkunden besitzen für das Land, das sie bebauen, in die Illegalität getrieben. Erst durch ihren Widerstand sind die seit Jahrhunderten unterdrückten und ignorierten Menschen ins Blickfeld der herrschenden Klassen geraten.
Viele von ihnen haben sich unter der Führung der maoistischen People's Liberation Guerilla Army (PLGA) organisiert, um ihren Lebensraum und ihre Lebensgrundlagen zu verteidigen. Das Vertrauen der Adivasi konnten sie mit einer Kampagne für eine Preiserhöhung für Tendublätter, aus denen Bidis (3) hergestellt werden, gewonnen. Das Sammeln der Blätter stellt eine der wenigen Einkommensquellen der Adivasi dar. Die Kampagne war erfolgreich und es ist gelungen, eine Verdoppelung des Preises durchzusetzen.
Bald richtete sich die Konfrontation gegen einen mächtigeren Gegner, die Forstverwaltung: „Jeden Morgen kamen Forstbeamte und hinderten die Leute daran, ihre Felder zu pflügen, Feuerholz zu sammeln, Blätter zu pflücken, Früchte zu sammeln, ihr Vieh zu weiden, ganz einfach am Leben. Die Leute wurden geschlagen, verhaftet, erniedrigt, ihre Ernten wurden zerstört. Natürlich waren sie vom Gesichtspunkt der Forstbeamten aus einfach illegale Leute, die illegalen Tätigkeiten nachgingen, und das Forstministerium setzte nur die Einhaltung der Gesetze durch.“
Als die Regierung Lizenzen für die Förderung von Eisen und Bauxit sowie für die Aluminiumproduktion an indische und ausländische Konzerne verkauft hatte und die Konzerne auf die Einhaltung der Verträge pochten, hat die Auseinandersetzung an Intensität zugenommen. Die von der Regierung gesponserte „Bürgerwehr“ Salwa Judum wurde losgelassen, um die Aufständischen durch Mord, Brandschatzungen, Plünderungen und Vergewaltigungen in die Knie zu zwingen. Eine Straße durch die Wälder wurde gebaut und zwang die Menschen, in Camps entlang der Straße zu ziehen.
Die Aktionen zeigten aber nicht viel Wirkung: Viele Menschen flüchteten in die Wälder und die Maoisten bekamen mehr Zulauf als zuvor. Also wurde die Operation „Green Hunt“ ins Leben gerufen: Zehntausende bis auf die Zähne bewaffnete Soldaten wurden in den Dschungel Zentralindiens geschickt und alle, die im Wald leben, für vogelfrei erklärt. Heute können die Menschen in Dandakaranya nur mehr tagsüber in ihre Dörfer um ihre Felder bestellen, in der Nacht wandern sie durch den Dschungel, gejagt von einer Armee, die mit modernster Technologie ausgerüstet ist: lasergesteuerte Gewehre, Wärmebildkameras und Drohnen…
"Glück wird ernst genommen in Dandakaranya. Die Menschen wandern tagelang, um gemeinsam zu singen und zu tanzen."
Wer definiert, was Gewalt ist?
Ist eine Politik, die Millionen Menschen in die Armut treibt, Gewalt? Ist es Gewalt, wenn einer Forstverwaltung erlaubt wird, Frauen zu vergewaltigen? Ist es Gewalt, wenn der indische Staat alle Arten von Waffen einschließlich des Hungers einsetzt, um die Menschen von ihrem Land zu vertreiben, damit Konzerne mit den Bodenschätzen Profite einfahren können. Wenn die Menschen aber zu den Waffen greifen, um sich zu wehren, werden sie als gewalttätige Terroristen verurteilt. Arundhati Roy, die als Aktivistin viele Jahre lang den gewaltfreien Widerstand gegen die Staudämme an der Narmada unterstützt hat, argumentiert: „Was könnte ich ihnen empfehlen zu tun? Vor Gericht zu gehen? Eine Sitzblockade vor der Sternwarte in New Delhi zu machen? Eine Hungerstreik-Staffel? Es klingt lächerlich. (…) Welche Partei sollten sie wählen? An welche demokratische Institution dieses Landes sollten sie sich wenden?“
Arundhati Roy hat sich die letzten zehn Jahre in ihrer schriftstellerischen Tätigkeit ganz auf politische und soziale Themen konzentriert. Mit ihren poetischen und berührenden Essays und Reden wurde sie zu einer der bekanntesten Sprecherinnen für soziale und ökologische Widerstandsbewegungen in Indien, was ihr nicht nur viel Kritik, sondern auch Gerichtsprozesse und Gefängnisstrafen eingebracht hat.
„Ich bin umgeben von diesen eigenartigen, wunderschönen Kindern mit ihren merkwürdigen Waffen. Werden sie sterben? Warum müssen sie sterben und wofür? Um all dies in ein Bergwerk zu verwandeln?"
Über die Errichtung der Bauxitminen in Orissa schreibt Arundhati Roy: „Wo es einst Wald gegeben hat, sieht das Land heute aus wie eine rohe, rote Wunde. Roter Staub dringt in Nase und Lungen. Das Wasser ist rot, die Luft ist rot, die Menschen sind rot, ihre Lungen und Haare sind rot. Den ganzen Tag und die ganze Nacht brummen die Lastwagen durch ihre Dörfer, Stoßstange an Stoßstange, tausende und tausende Lastwagen, die Eisenerz zum Hafen von Paradip bringen, von wo es nach China geht. Dort wird es sich in Autos verwandeln und Rauch und abrupte Städte, die über Nacht aus dem Boden schießen. In einer Wachstumsrate, die Ökonomen atemlos macht. In Waffen, um Krieg zu machen.“
Wachstum und Entwicklung für wen?
Indiens ökonomisches Wachstum ist atemberaubend, die Kosten dafür sind enorm. Während die Entwicklung auf eine konsumfreudige städtische Mittelklasse ausgerichtet ist, die trotz ihres kleinen Prozentsatzes eine beträchtliche Zahl ausmacht, zählt die indigene kleinbäuerliche Bevölkerung nicht als potenziellen Konsumenten und wird als überflüssig betrachtet. Die Strategie zielt darauf ab, sie durch Missachtung loszuwerden, ohne dass ihr Verschwinden viel Aufmerksamkeit auf sich zieht.
Während auf der einen Seite die Zahl der Super-Milliardäre in Indien sprunghaft angestiegen ist, müssen über 800 Millionen Menschen von weniger als 50 Cent pro Tag leben. Im Namen des Wachstums werden Menschen, Natur und die Lebensgrundlagen der kommenden Generationen geopfert. Bedeutet Wachstum das Recht einer Minderheit, sich uneingeschränkt zu bereichern, während die Massen geduldig warten sollen, ob für sie ein paar Brocken abfallen? Die Minen werden in ein paar Jahrzehnten erschöpft sein. Zurück bleiben eine zerstörte Umwelt und für immer vernichtete indigene Kulturen.
Ein Regierungsbericht offenbart, dass sich die Wälder seit dem Beginn der Kämpfe ausgebreitet haben. Wer könnte einen geringeren ökologischen Fußabdruck haben als diese Menschen, die in den Wäldern einen Kampf ums Überleben führen? Sie können sich keine Verschwendung leisten. Es ist eine Lebensweise, die aus der Not entspringt und mit der die Adivasi gut vertraut sind. Es wäre aber falsch, die Lebensweisen der indigenen Völker zu romantisieren. Die Menschen haben es sich nicht ausgesucht, arm und marginalisiert zu sein. Viele schlossen sich der PLGA auch deshalb an, um aus einer Welt voller Aberglauben und starren Traditionen auszubrechen.
Heute haben die Maoisten eine Abteilung zur Rettung des Waldes. Würden sie das Bauxit auch in den Bergen lassen, wenn der Krieg einst vorbei ist? Die Menschen haben das Recht, selbst zu bestimmen, wie ihre Entwicklung aussehen soll. Und auch, auf welche Art sie Widerstand leisten, wie Joe Velu, der Leiter eines südindischen Entwicklungsprojekts, sagte: „Ob sich die Menschen einer pazifistischen gandhianischen Bewegung oder einer bewaffneten maoistischen Gruppe anschließen, ist ihre Entscheidung“.
„Gaon chodab nahi! Wir verlassen unser Dorf nicht, wir verlassen unseren Wald nicht, wir geben unseren Kampf nicht auf“, singen die Adivasi in ihrem Lied. Für sie geht es ums Überleben, um ein selbstbestimmtes menschenwürdiges Leben. Die Menschen in Dandakaranya brauchen keinen Krieg, sie brauchen ÄrztInnen, LehrerInnen und AgrarexpertInnen, sie brauchen unsere Solidarität! Brechen wir das Schweigen!
Originaltext: http://www.outlookindia.com/article.aspx?264738
(2) ursprünglich Steuereintreiber für die Briten, die sich zu einer Klasse von Feudalherren entwickelten
(3) Bidi: billige indische Zigaretten
erschienen in Talktogether Nr. 37/2011
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