Die Tyrannei der Wahl
Die Wahl zu haben wird gemeinhin als positives Gut gesehen. Doch haben wir wirklich eine Wahl und welche Wahl haben wir? Bedeuten unbegrenzte Wahlmöglichkeiten auch, dass wir uns frei entfalten können? Zu viele Entscheidungsmöglichkeiten rufen bei den Menschen Angst und ein Gefühl der Reue hervor, sagt Renata Salecl. Außerdem verhindere eine Ideologie, die uns vorspiegelt, Herr über unser eigenes Schicksal zu sein, soziale Veränderung, indem sie unsere Kritik ständig gegen uns selbst lenkt, statt gegen die Verhältnisse, unter denen wir leiden.
Die slowenische Soziologin und Philosophin Renata Salecl analysiert in ihrem Buch „Choice“ in humorvoller Weise, wie das Beharren auf der Illusion von den grenzenlosen Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung uns verängstigt und in uns ein konstantes Gefühl des schlechten Gewissens und der Reue hervorruft. Anhand von Beispielen aus dem Alltagsleben kommt entlarvt Salecl „das Paradoxon der Wahl“ als spätkapitalistische Ideologie, die letztlich wesentlich beiträgt, soziale Veränderungen zu verhindern.
„In der westlichen Welt“, schreibt Salecl, „stehen die Menschen nicht nur unter dem Eindruck, dass sie endlose Möglichkeiten haben, im Leben Erfüllung zu finden, sie werden auch dazu ermutigt, sich selbst zu kreieren. Sie scheinen die Freiheit zu haben, sich aussuchen zu können, was sie sein wollen. In dieser extrem individualisierten Gesellschaft, die angeblich der individuellen Freiheit höhere Priorität einräumt als Gruppeninteressen, sind Menschen mit der Angst erzeugenden Frage konfrontiert: Wer bin ich?“
Sind wir unseres Glückes Schmied?
Die Idee der Wahlfreiheit ist verbunden mit einem Selbstbild, das die spätkapitalistische Gesellschaft prägt. Heute erscheint die Wahrheit als individuelles Projekt. Die Selbstkonstruktion ist ein kultureller Imperativ des Westens geworden. Diese Spielart des Individualismus beinhaltet laut Salecl eine „Fetischisierung“ des autonomen Selbst und ignoriert die Vorstellung, dass die Gesellschaft individuellen Ansprüchen eine Grenze setzen kann. Wir leben in der Annahme, dass alles im Leben eine Sache der Wahl ist (allen voran Konsum- und politischen Entscheidungen, wir können aber auch entscheiden über unser Aussehen, unsere sexuelle Orientierung, ob wir Kinder haben oder nicht usw.). Paradoxer Weise scheint diese unendlichen Auswahlmöglichkeiten in den Menschen Angst und das Gefühl tiefer Unbefriedigtheit hervorzurufen.
Warum fühlen wir uns so überfordert und verloren angesichts so vieler Wahlmöglichkeiten? Jeder kennt wahrscheinlich das Gefühl, wenn man einen Supermarkt betritt und vor der schier unendlichen Auswahl an Produkten erschrickt. Diese überwältigende Auswahl erzeugt das Gefühl von Unsicherheit: Was will ich wirklich? Die Wahl wird zu Qual. Viele Menschen erstarren in einem Zustand der Unentschlossenheit, wenn es zu viele Auswahlmöglichkeiten gibt.
Warum wird das Leben als eine Angelegenheit von persönlichen Entscheidungen aufgefasst?
Warum müssen wir unser Leben als ein Kunstobjekt oder ein Unternehmen betrachten? Warum stehen wir unter ständigem Druck, an unserem Leben zu arbeiten? Es gibt Leute, die eine gute Ausbildung un einen guten Job haben, schlank sind und vielleicht sogar in einer guten Partnerschaft leben, trotzdem fühlen sie sich leer. Das trifft nicht nur auf den Westen zu sondern auch auf die Mittelklasse in den armen Ländern. Was passiert in einer Gesellschaft, die die Idee der Wahl in allen Phasen unseres Lebens hervorhebt? Für frühere Generationen war es keine Frage, ob sie Kinder haben oder nicht. Heute dagegen müssen wir ständig Entscheidungen treffen. Will ich Kinder haben? Wie möchte ich meine Kinder erziehen? Welchen Partner möchte ich haben? Wie kann ich mich selbst neu erfinden? Die Idee der Wahl wird eine dominante Ideologie, auf der sich der Kapitalismus begründet, nicht nur in Bezug auf Konsum, sondern auch in Bezug auf die ganze Lebenseinstellung.
Warum machen uns Entscheidungen so viel Angst?
Erstens treffen wir Entscheidungen nicht als Individuen, die außerhalb der Gesellschaft stehen. Wir wählen oft, was andere wählen, oder wir sind besessen davon, wie andere uns unsere Entscheidungen betrachten. Werden sie uns aufgrund unserer Entscheidungen auslachen? Wie werden sie unsere Entscheidungen beurteilen?
Zweitens versuchen wir, die ideale Wahl zu treffen. Deshalb wechseln Menschen von einem Telefonanbieter zum anderen oder wechseln ständig ihren Partner und sind immer unzufrieden. Entscheidungen gehen zudem immer mit einem Verlust einher. Wenn wir uns für eine Richtung in unserem Leben entscheiden, bedeutet das den Verlust aller anderen Möglichkeiten. Schließlich müssen wir uns mit einem Verlust konfrontieren, bei dem wir keine Wahl haben, dem Tod. Aber wir versuchen sogar den Tod zu beherrschen, ihn hinauszuzögern, zu kontrollieren…
Wir sind heute von einer Ideologie geprägt, die uns zwingt, uns selbst für unsere Misserfolge verantwortlich zu sehen. Wenn du deinen Job verlierst, wirst du zuerst dir selbst die Schuld geben und nicht dem Unternehmen. Während sich Menschen früher als Mitglied der Arbeiterklasse identifizierten, dominiert heute das Gefühl der Unzulänglichkeit. Wir schämen uns, arm zu sein und fühlen uns als Versager. Der Kapitalismus hat seit seinem Anbeginn auf der Vorstellung aufgebaut, dass es jeder schaffen kann. „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ ist der Grundstein dieser Ideologie.
Der Kapitalismus ist ein System, dass immer schneller und schneller funktioniert. Wir arbeiten länger, wir hetzen herum und konsumieren ständig. Irgendwann ist der Punkt gekommen, an dem das Subjekt nicht mehr glaubt, ein proletarischer Sklave, sondern Herr über sein Leben zu sein. Und das erlaubt dem System, weiter zu machen. Der Kapitalismus erzeugt eine Art von Subjektivität, die sich um sich selbst herum dreht, das Subjekt konsumiert nicht nur ständig alles um sich herum, sondern schließlich auch sich selbst. Deshalb treten Bulimie, Magersucht oder Workoholismus in unserer heutigen Gesellschaft so häufig auf.
Schließlich fragt Salecl, warum gibt es heute so wenig gesellschaftliche Veränderungen gibt, und stellt die Hypothese auf, dass die Ideologie der Wahlfreiheit den sozialen Wandel verhindere. Sie. Wir haben ein bisschen, einen kleinen Job mit einer kleinen Pension. Wenn wir ein Bisschen haben, sind wir von der Angst beherrscht, selbst dieses Wenige zu verlieren. Deshalb sind wir nicht daran interessiert, soziale Veränderungen zu provozieren. Doch die Ideologe, dass jeder Herr seines eigenen Schicksals ist, entspricht nicht der Realität der soziale Situation, sie lähmt die Menschen und bringt sie dazu, ihre Kritik gegen sich selbst zu richten, statt sich zu organisieren und die Gesellschaft zu kritisieren, in der wir leben.
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Renata Salecl, 1962 in Slowenien geboren, studierte Philosophie und Soziologie. sie arbeitete als Gastprofessorin in New York, Michigan und Berlin, war Mitglied am Berliner Wissenschaftskolleg und veröffentlichte mehrere Bücher. Renata Salecl lebt in Ljubljana, wo sie am Institut für Kriminologie der juristischen Fakultät forscht.
RSA-Video: http://youtu.be/1bqMY82xzWo Vortrag: http://youtu.be/E4_HGRjJs9A
erschienen in Talktogether Nr. 39/2012
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