Hat der Kampf um das 21. Jahrhundert begonnen? PDF Drucken E-Mail

Hat der Kampf um das 21. Jahrhundert begonnen?

von Richard Mayr

Wiederfinden einer festen Ordnung!

Aus der Lektüre des letzten Kapitels von Slavoj Žižeks Buch: „Die bösen Geister des himmlischen Bereichs. Der linke Kampf um das 21. Jahrhundert“, möchte ich verkürzt folgende Aussagen wiedergeben: Der permanente Fluss des Kapitals führt zur permanenten Störung jeder festen Ordnung. Der Kampf für die Wiedererlangung einer festen Ordnung, muss daher antikapitalistisch und zielorientiert sein! Da das Kapital mittlerweile weltweit alle Lebenssituationen revolutioniert und verändert hat, ist es notwendig, durch eine radikal-revolutionäre Anstrengung den Staat/die Staaten dazu zu bringen, sich zu transformieren und neue Praxen im Sinne des Gemeinwohls in sich aufzunehmen. Westliche Demokratien kapitalistischer Prägung sind dazu verurteilt, dem Kapital zu dienen. Der heruntergekommene Begriff der Demokratie, der nur mehr Kapital-Interessen vertritt, bedeutet die sichere Demontage unserer Gesellschaften. Das Kapital macht mehr und mehr Menschen orientierungslos, nimmt ihnen das Vertrauen in die Welt, rüttelt an ihren Grundkoordinaten und macht sie mehr und mehr „substanzlos“. Dieser allgemeinen Tendenz ist Einhalt zu gebieten!

Wir haben ein Problem der Form!

Demokratie westlicher Prägung funktioniert nicht mehr. Es muss unsere Aufgabe sein, eine neue Form der Präsenz und letztendlich der Repräsentanz zu finden. Die neue Form muss jedoch antikapitalistische, am Gemeinwohl orientierte Utopien in sich bergen! Haben wir die neue Form erkämpft, haben wir die Chance auf eine festere gesellschaftliche Ordnung.

Die Politik revolutionieren!

Des Weiteren argumentiert Slavoj Žižek: „Die Menschheit, scheint an einen Wendepunkt/Nullpunkt zu kommen. Es scheint, als stehe eine Unterbrechung im Raum. In dieser Unterbrechung entscheidet es sich, welche Richtung unsere Gesellschaften – welchen Weg Europa – gehen wird.“ Žižek plädiert für eine radikal-emanzipatorische Politik als Projekt der Zukunft! Er plädiert für den antikapitalistischen, kommunistischen Egalitarismus im weltweiten Maßstab, welcher dem Klimawandel wirklich Rechnung trägt, der Biogenetik für Wohlstandsbürger und der Biopolitik Einhalt gebietet, die totale digitale Kontrolle vermeidet und es der Unmenge an „substanzlos“ gemachten Menschen (Obdachlose, Asylanten, Migranten, Ausländer, Schwarze – Stichwort: neue Apartheid) erlaubt, wieder einen „Platz“ in der Gesellschaft zu erobern.

Er betont, dass wir den Staat nicht abschaffen sollen, wenn wir keine bessere Idee haben, aber dass wir ihn mittels einer radikalen, neuen Bewegung – vielleicht durch ein Bündnis von Intellektuellen, Arbeitern und „Anteilslosen“ (Obdachlose, Asylanten, Migranten, Slumbewohner etc.) – transformieren können. Die westliche Demokratie muss sich transformieren, ansonsten bleiben unsere Gesellschaften durch Krieg nach innen (Mauern, Abschiebungen etc.) und außen (Afghanistan, Pakistan, Kongo, Somalia, Irak, Naher Osten, Burma, Tibet, fast schon endlos die Aufzählung) in Anarchie oder im autoritären Polizei- oder Ständestaat stecken.

Die vier Invarianten der kommunistischen Idee:

Die vier Invarianten der kommunistischen Idee lauten: Egalitäre Gerechtigkeit, Voluntarismus (eisener Wille aus Notwendigkeit, „Glaube versetzt Berge“, „Mit dem Kopf durch die Wand gehen“), Schrecken und Vertrauen ins Volk. Wirkliche Revolutionen (Volkserhebungen) greifen immer wieder auf diese vier begrifflichen Invarianten zurück.

Was eine neue Bewegung interessieren muss ist einzig, dass sie durch egalitären Schrecken(sherrschaft) eine auf Gleichheit und Gerechtigkeit orientierte Gesellschaft schafft. Das heißt auch, dass es eines eisernen Willens bedarf, sich diesen hehren Idealen anzunähern. Und die Bewegung schreckt auch nicht davor zurück, bereits Erkämpftes mit all ihrem Einsatz zu verteidigen. Da es sich um eine kollektive Aufgabe im Interesse des Volkes handelt, ist es für sie selbstverständlich, dass eine radikal emanzipatorische Bewegung Vertrauen ins Volk hat, wenn es um die Gestaltung der Zukunft geht. Eine „kommunistische“ Zukunft kann nicht parlamentarisch-repräsentativ sein, sondern muss eine neue Form (einen eigenen Körper) (er)finden.

Ja, für ein neues Europa! Aber wie?

Gründe für eine neue Politik gibt es genug, denn die Menschheit ist bedroht. Sie wird bedroht von Parlamenten, die anscheinend handlungsunfähig geworden sind, bedroht vom Kapital, das wütet und tausende Opfer, Ausgestoßene schafft, sie aber leugnet oder verbirgt und abschiebt. Millionen von Menschen, die nie eine Chance auf ein friedliches Leben haben. Millionen, die verhungern oder ihr Land durch Überflutungen verloren haben…!

Wir ahnen es. Das Kapital ist die letzte Ursache für die allgemeine Ratlosigkeit. Und weil dem so ist, sehen wir es als unsere Aufgabe, unserer Gesellschaft ein neues Ordnungsprinzip zu geben. JA, wir wollen eine neue Ordnung, ein neues Europa. Aber welches Europa, werden Sie nun fragen? Zu Recht! In den letzten Jahrzehnten wurden von der parlamentarischen Demokratie kapitalistischer Prägung fast alle Prinzipien der Wohlfahrt und der Barmherzigkeit über Bord geworfen. Das Kapital hat eine „weltlose“ Welt geschaffen, ohne Haltepunkt und Orientierung.

Hier einige Punkte, woran sich eine solche neue Bewegung orientieren könnte[1]:

1) Beispielsweise sind wir entschieden gegen die Abschiebung von Ausländern, Asylanten oder gar ganzen Familien ausländischer Herkunft. Jeder hat in Europa ein Existenzrecht, unabhängig davon, aus welchem Land er kommt oder in welchem Land er landet. NEIN, wir wollen das nicht: Es ist uns ein Dorn im Auge, wenn Menschen, die sich bei uns eingelebt haben, wegen drakonischer Gesetze zurück in ihr, vielleicht von Bürgerkrieg verwüstetes, Land geschickt werden. Heimatlosigkeit gehört mittlerweile zum Schicksal von Millionen von Menschen. Es ist unsere Aufgabe, eine neue Form zu finden, wie diese Menschen Anteil haben können an unseren Gesellschaften. Rettet die Barmherzigkeit vor der Kälte der Abschiebepraxis!

2) Da wir alle in ein und derselben Welt arbeiten und leben, ist es unsere Aufgabe, die Arbeit zu würdigen; Arbeiter, die niedrige Tätigkeiten ausführen und oftmals ausländischer Herkunft sind, sind besonders zu würdigen. Wir machen nicht viel Aufheben bezüglich der „nationalen“ Herkunft. Im Gegenteil! Rettet die Würde der Arbeit!

2a) Das Funktionieren unserer Gesellschaften beruht auf dem Konkurrenzprinzip. Das Wort Konkurrenz ist jedoch nur ein anderer Name für den Krieg der Interessen. Hinter diesem Namen verbirgt sich der animalische Wunsch nach der Befriedigung von Eigeninteresse. Sind beispielsweise kleine Unternehmen der internationalen Konkurrenz ausgesetzt, bedeutet das oft den sicheren Tod von vielleicht tausenden von Arbeitsplätzen. Und dies alles im Namen der Globalisierung. Deswegen sagen wir: Rettet die Fabriken vor der internationalen Konkurrenz! Schützt sie vor den Interessen der Investmentbanken!

3) Unabhängig davon, ob ein Patient eine Sozialversicherungsnummer besitzt oder nicht, ist es die Pflicht des Arztes, an Patienten Behandlungen durchzuführen. Wir wollen, dass jeder Arzt, der den „hippokratischen Eid“ geleistet hat, sich auch daran hält. Jeder Arzt hat nach bestem Wissen und Gewissen jeden Menschen zu behandeln, wenn er in Not ist. Es ist für unser medizinisches System notwendig, dass man an diesem Punkt festhält. Die Demontage unserer guten medizinischen Versorgung (unseres Gesundheitssystems) lassen wir nicht zu! Rettet unser Gesundheitssystem vor der Klassenmedizin!

4) Wir haben den Eindruck, dass die gängigen Medien – das Fernsehen allgemein, das Privatradio, Boulevard-Medien, Zeitungen jeder Couleur und Internetprodukte – einzig den Mächtigen des Landes, den herrschenden Parteien, den Wirtschaftsbossen hinterherhecheln. Deswegen lesen wir eure Zeitungen nur mit kritischer Distanz oder gar nicht. Es ist nicht im allgemeinen Interesse, dass wir jeden Tag Aktienkurse um die Ohren geschmissen bekommen. Revolutionäre Parolen (Vorschläge für Ideen, zukünftige Projekte, Wahrheiten etc.) dürfen wieder Eingang in die Medien finden und müssen diskutiert werden! Rettet das Denken in den Medien und damit Themen, die von öffentlichem Interesse sind! Gegen die „Meinungsmache“ und das ideologisches Einlullen!

5) Die Wissenschaft befindet sich in einer schrecklichen Lage.

Manchmal hat man den Eindruck, als wären die Gesellschaftswissenschaften einzig zur Evaluierung von Meinungen verdammt. Statistische Verfahren und statistische Erhebungen sind hoch im Kurs. Weiters gibt es fade Diskussionen über Studiengebühren, jedoch kaum Diskussionen über die Inhalte. Europaweite Bakkalaureat-Studien und Nivellierung der Lehre, jedoch keine Diskussionen über die Ausrichtung von Universitäten abseits ihrer (wirtschaftlichen) Verwertbarkeit.

- Ein Psychologiestudium, ohne auch nur ansatzweise Sigmund Freud oder Jaques Lacan und ihre wesentlichen Aussagen zu lehren. Schrecklich.
- Philosophie, die sich darauf beschränkt, Unternehmensphilosophie zu sein, und das Potenzial des Denkbaren ignoriert. Schrecklich.
- Biogenetik, die im Labor am dreiarmigen Menschen arbeitet und die wahren Revolutionen der Physik und Mathematik nicht begreift. Schrecklich.
- Geistes- und Naturwissenschaften wie auch Physik und Mathematik müssen wieder unabhängig von ihrer Verwertbarkeit organisiert werden.

Hier ist eine Wiedererweckung notwendig! Freunde der Wissenschaft: Wenn die richtigen Angebote (Vorlesungen, Seminare etc.) fehlen, dann richtet sie ein! Rettet den Universalismus! Gegen die universitäre Herabstufung der Wissenschaft auf die Ebene wirtschaftlicher Interessen!

6) Wir haben den Eindruck, dass sich in der Kunst restaurative Momente breitgemacht haben. Menschen, die die Kunst des 20. Jahrhunderts isolieren und vergessen lassen wollen. Vielleicht sind die großen Kunstwerke des 21. Jahrhunderts noch nicht geschaffen, aber wir lassen nicht zu, dass die großartigen Künstler des 20. Jahrhunderts diffamiert werden. Wir werden sie verteidigen! Wir würdigen ihre Arbeiten!

Kunst heißt, dem Ereignis Gerechtigkeit widerfahren lassen! Lassen wir die Künstler ihre Ereignisse produzieren! Schauen wir ihnen bei ihrer lustvollen Arbeit zu! Betrachten wir ihre Schöpfungen! Rettet die Uneigennützigkeit der Kunstproduktion! Gegen die Restauration alter barocker oder romantisch-klassizistischer Ideale!

7) „Es geht ein Gespenst um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“, das waren die Anfangssätze im Kommunistischen Manifest (1848) von Karl Marx.

Aber auch heute scheint die Zeit wieder gespenstisch geworden zu sein. Gespenstisch das Kapital, das anonym zirkuliert und zu dem wir keinen Zugriff mehr haben. Wir schmeißen unsere Steuergelder den anonymen Banken und Aktionären in den Rachen. Das Kapital schafft es, alle sozialen Bindungen und jede feste Orientierung im Nichts aufzulösen. Die Menschheit ist bedroht, und sie droht mehr und mehr „substanzlos“ zu werden – wir verlieren unser Vertrauen ins Leben, unsere Gewissheit über den Ablauf der Jahreszeiten etc. Die Ware und monetäre Zeichen als einzige Orientierung haben eine orientierungslose Welt geschaffen!

Wird die Welt gespenstisch, tauchen alle möglichen obskuren Phantasien auf. Deswegen ist es notwendig, vernünftige Worte zu finden, der herrschenden Ordnung wahre „neue“ Worte und Parolen entgegenzusetzen, die Neues wagen. Rettet die radikal-emanzipatorische Politik. Gegen die „historische Notwendigkeit“, die Banken retten zu müssen.[2]

Noch etwas: Vielleicht erreichen wir unsere Anliegen, als emanzipatorisches Projekt gedacht, nicht in diesem Staat, aber bestimmt im kommenden!

Ich empfehle folgende Bücher zur Lektüre:

Slavoj Žižek: „Die Bösen Geister des himmlischen Bereichs. Der linke Kampf um das 21. Jahrhundert“

Alain Badiou: „Wofür steht der Name Sarkozy?“

Alain Badiou: „Paulus. Die Erfindung des Universalismus


[1] Die Aufzählung, die nun folgt, ist im Wesentlichen in eigene Worte gefasst, jedoch das theoretische Konzept dem Werk von Alain Badiou „Wofür steht der Name Sarkozy?“ entnommen.

[2] Alle Parolen sind nur als ein Denkanstoß gedacht, sie können und sollen diskutiert und ausformuliert werden. Gerne fügen wir weitere diskussionswürdige Punkte hinzu.

erschienen in Talktogether Nr. 39/2012