Vom Zwang, ein Opfer sein zu müssen PDF Drucken E-Mail

Vom Zwang, ein Opfer sein zu müssen

Stopp der Instrumentalisierung der muslimischen Frau!

Wissen Sie:

- dass das Land Steiermark Kürzungen im Frauen- Bildungs- Sozial- Jugend-, Kultur- und Gesundheitsbereich in Höhe von 25 Prozent angekündigt hat?

- dass damit viel zu viele jener Frauen und Mädchen in Österreich die 300.000 Mal pro Jahr Opfer von Gewalt innerhalb der Familie werden, von Anlaufstellen wie Frauenhäusern, Beratungsstellen und Kriseninterventionszentren nicht mehr betreut werden können?

- dass damit Infrastrukturen, die von der Frauenbewegung erkämpft worden sind, bewusst der Erosion preisgegeben werden, und dass das nicht anderes bedeutet als eine - massive Zunahme struktureller Gewalt, die sich selbst und damit tausende ihrer Opfer potenziert?

Wann gibt es eine Fachtagung, die Entscheidungsträger dafür zur Verantwortung zieht?

Immer wieder führen uns erschreckende Zahlen über Kindesmissbrauch und Kinderprostitution die brutale Realität in unserer Gesellschaft vor Augen: Laut Statistik ist in Österreich jährlich jedes vierte Mädchen und jeder siebente Bub von Kindesmissbrauch betroffen. Missbrauch passiert am häufigsten innerhalb der Familie. Die Dunkelziffer bei Internetpornographie ist nicht fassbar. Sextourismus und Kinderprostitution sind weitere Verbrechen des modernen Kolonialismus.

Wo ist die städteübergreifende Allianz gegen diese Täter und ihre Strukturen?

Wie immer in Krisenzeiten, spart die männlich dominierte Staatsmacht bei jenen Bevölkerungsgruppen, die ihre Macht vermeintlich am Wenigsten gefährden, darunter Frauen. Unter ihnen wiederum zählen Migrantinnen zu den Hauptbetroffenen. Ihnen ist es nur unter schwersten Bedingungen möglich, überhaupt nach Österreich zu gelangen. Tausende sterben auf dem Weg hier her, auch Kinder. Einmal angekommen, begleitet sie ein ständiges Zittern um eine mögliche Aufenthaltsgenehmigung. Täglich werden in Österreich Frauen mit Kindern deportiert und so in miserabelste Situationen geworfen, aus denen es kaum mehr einen legalen oder auch nur irgendwie menschenwürdigen Ausweg gibt. 500.000 Frauen und Mädchen geraten durch die Abschottungspolitik der EU in die Fänge von Menschenhändlern und landen in Sklaverei und Prostitution. Gleichzeitig werden in kriegerische Interventionen, an denen die EU immer mehr Anteil nimmt, Milliarden an Euros investiert, um damit neue Flüchtlingsbewegungen und wieder mehr und mehr Elend zu produzieren.

Warum werden Bleiberechtsinitiativen nicht mit Mitteln der Allgemeinheit unterstützt?

Diese Tatsachen und ihre Verursacher und Profiteure und Mitläufer bedienen sich eines durchsichtigen und bekannten Manövers, um von der eigenen Verantwortung und dem, was dagegen schon längst hätte getan werden müssen, abzulenken: Schnell ist der Schwenk hin zum Islam gefunden, ein gut eingeführtes Feindbild. Prompt zum 8. März fühlen sich staatstragende Männer berufen, die Frauenbewegung daran zu erinnern, dass sie doch nun die „besseren Männer“ seien; Gilt es doch vereint mit aufgeklärten, europäischen Damen das islamische Patriarchat zu bekämpfen (Mann will sich doch nicht durch eine mögliche Frauenquote den eigenen Sessel wegnehmen lassen). Es soll sogar katholische Männer geben, die gerne vom eigenen intern streng patriarchalen Regiment ablenken, um sich eine kleine Verschnaufpause von den zunehmenden Widerständen der gläubigen Frauen zu verschaffen und ein wenig karitatives Image zu schinden.

Mann war sich schnell einig: das Thema Zwangsheirat muss her. Obwohl monatelang propagiert, wollte das Thema nicht so recht greifen. Gegründete Arbeitskreise verloren sich wieder. Angebote bestehender Einrichtungen zur Unterstützung betroffener Frauen und Mädchen und Dialogangebote von MuslimInnen wurden nicht aufgegriffen. Der traurige Fall einer türkischen Frau, die Selbstmord begangen hatte, wurde groß in den Medien mit Motiv Zwangsheirat präsentiert. SOMM-Informationen zu Folge hatte die Frau kein solches Motiv. Im Vorfeld der Tagung vom 10. März wurde prompt wieder ein angeblicher „Fall von Zwangsheirat“ in den Medien bedient. Die Artikel dazu waren voll mit Falschinformationen und unüberprüften Aussagen. Bezeichnend für die Instrumentalisierung dieses Themas ist, dass Initiativen und Widerstände gegen Gewalt an Frauen und Kindern seitens der muslimischen Gemeinschaft und muslimischen Frauen selbst bzw. ihren NGOs von Medien, Politik und etablierten Einrichtungen ignoriert werden. Auch das ist eine Form von Sexismus. Die muslimische Frau wird dann wahrgenommen, wenn sie Opfer ist. Als aktive, tätige, selbstbestimmte Frau eignet sie sich nicht als Objekt zur Darstellung vermeintlicher Überlegenheit Anderer. Auch Frauen dient sie als Selbstvergewisserung der eigenen Überlegenheit und Scheinfreiheit. Mitleidig werden SOMM-Kolleginnen bei Veranstaltungen gefragt: “Na, wie bist du denn zu deinem Mann gekommen?“

Die Fachtagung „Zwischen Zwangsheirat und Selbstbestimmung“ und das damit präsentierte Caritas-Projekt DIVAN (beachtenswert der eindeutig ins Orientalische verweisende Name), ist ein politisch motiviertes Projekt. Wann war zuletzt eine Tagung im Rahmen des 8. Märzes übergebucht? Ehrliche Absicht oder Voyeurismus? Zielrichtung der Kampagne sind Mehrheitsangehörige, darunter vor allem Frauen, mit dem Ziel, sie in einer antiislamischen Riege hinter Weiße Politmänner zu scharen. Stimmen, die keine Klischees bedienen, finden in obrigkeitsergebenen Medien wie der Kleinen Zeitung keinen Platz, - nicht einmal Leserinnenbriefe. Hingegen wird wieder das Kopftuch als Symbol der Unterdrückung in Szene gesetzt (welches die unterdrückte Frau nach ihrer „Befreiung“ natürlich ablegt) und Zwangsheirat als unbedingter Bestandteil eines religiösen und kulturellen Hintergrundes von MigrantInnenfamilien abgehandelt. Dabei werden Prozentangaben gestreut, die bestimmte MigrantInnengemeinschaften unter Pauschalverdacht stellen und die durch nichts belegbar sind.

In Österreich wird jede Woche eine Frau von einem ihr nahe stehenden Mann ermordet, weil er ihre Trennung nicht akzeptieren kann. Das ist belegbar. Aber während es bei einem Mehrheitsangehörigen, d.h. „Österreicher“ heißt, „Familientragödie“, oder „Mord aus Eifersucht“ wird es bei einem muslimischen Mann „Ehrenmord“ genannt. Mord aus Eifersucht klingt psychologisch und fast wie eine Entschuldigung. Ehrenmord dagegen barbarisch. Beides aber wurzelt im Patriarchat, hinter beiden steht Besitzdenken.

Zu oft haben muslimische Eltern zu Recht den Eindruck, dass im Bildungs- und Berufsbereich Tätige an ihren Töchtern und Söhnen zerren, um sie – unter dem Deckmantel angeblicher Befreiung – aus einem als rückständig und eingeschränkt imaginierten Leben in den österreichischen Mainstream zu assimilieren. Notwendig sind aber eine wertschätzende Haltung gegenüber Lebensweisen und eine unbedingte Hinterfragung der eigenen Sichtweise, bevor ans Be- und Verurteilen gegangen wird. Muslimische Eltern sind nicht glücklich mit dem Gefühl, ihre Kinder vor der Gesellschaft in Österreich schützen zu müssen. Es gibt mittlerweile viele Jugendliche, die ein Leben als Muslim/a selbstbestimmt gewählt haben. Ihnen und ihren Eltern muss vermittelt werden, dass sie nicht nur akzeptiert sondern gern gesehen sind, dass man ihre Lebensentscheidung schätzt und respektiert und das mit gleichberechtigtem Zugang zu Bildung und Arbeit klar demonstriert. Investitionen in gute Ausbildung, Schaffung von Lehrstellen und Arbeitsplätzen – gerade für kopftuchtragende junge Frauen – bieten konkreten Schutz vor Zwangsheirat und Ehen im frühen Alter. Bleiberecht für alle und freie Zuwanderung würde ungewollte Ehen nicht erzwingen!

Solche Zugänge sind sichere Mittel gegen Zwang und Gewalt aller Art und mehr wert als tausende Beratungsstellen mit zwielichtiger Ausrichtung, die ein Thema hochspielen, anstatt an eigentlich verantwortlichen Pfeilern struktureller Gewalt zu rütteln. Ehrenmord, Eifersuchtsmord, Vergewaltigung und sexueller Missbrauch – Gewalt gegen Mädchen und Frauen sind ein weltweites Problem, dessen Ursachen im Patriarchat liegen, egal welcher Ausformung. Weder Opfer noch Täter lassen sich einer bestimmten Schicht oder Kultur zuordnen – konstruiertes Herausgreifen einer Form von Gewalt schadet der Frauenbewegung und schürt Ressentiments.

Die Frauenbewegung ist aufgerufen, sich zu solidarisieren und alle Spaltungsmanöver zu durchschauen und ihnen zu widerstehen! Es geht nicht an, dass Feministinnen im Namen der Befreiung vom Patriarchat Aussagen von Innenministerin Fekter zur Verschärfung des Fremdenrechts unterstützen oder es unwidersprochen hinnehmen, wenn Bürgermeister Nagl ein Staatsbürgerschaftsverbot fordert! Österreich ist keine Insel der Seeligen, kein vom Patriarchat befreites Land und seit wann gibt es hier nur Liebesheiraten mit Glücksgarantie? Jede fünfte Frau ist hier von Gewalt betroffen: es gibt genug zu tun - für uns alle gemeinsam!

Graz, 8. März 2011, SOMM - Selbstorganisation von und für Migrantinnen und Musliminnen, www.somm.at

veröffentlicht in Talktogether Nr. 36, 2011

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