Gespräch mit Sigi Stupnig
Verein ASPIS Klagenfurt, Leiter des Projekts „TschetschenInnen – Menschen wie wir“
Fotos: FC Chechnya, Film von Ferhad Mustafa (links); Sigi mit der tschetschenischen Hobbyfußballmannschaft Marsho aus Villach (rechts)
TT: Wie hat die intensive Zusammenarbeit zwischen dir und tschetschenischen Flüchtlingen begonnen?
Sigi: Ich habe an der Universität Klagenfurt Psychologie studiert und wir hatten im Rahmen des Studiums Praktika zu leisten. Das zweite Praktikum wollte ich unbedingt beim Therapieverein ASPIS machen, weil ich Klaus Ottomeyer gekannt habe und besonderes Interesse an Flüchtlingsarbeit hatte. Zufälligerweise fiel der Beginn meines Praktikums mit dem relativ großen Zustrom – wie immer man das nennen mag – tschetschenischer Flüchtlinge zusammen, und ich habe dann dort einen Deutschkurs für tschetschenische Männer abgehalten. Zum ersten Mal habe ich dabei eine größere Gruppe von Flüchtlingen aus Tschetschenien kennengelernt, die teilweise ein sehr großes Mitteilungsbedürfnis gehabt haben. Vielen hat man angesehen, dass sie Extremes erlebt haben. Das hat mein Interesse erweckt. Wir haben ziemlich schnell eine gemeinsame Sprache gefunden, mit Händen, Füßen, ein bisschen Tschetschenisch und ein bisschen Deutsch. Außerdem stürzte ich mich in die damals noch kärgliche Literatur über dieses Land hinein, so hat es damals angefangen.
TT: Was sind die Aktivitäten von ASPIS?
Sigi: ASPIS bietet psychotherapeutische Betreuung an für traumatisierte Kriegsflüchtlinge und Asylwerber, übrigens auch für andere Gruppen, beispielsweise sehr alte Menschen, die Opfer der Nazis waren, oder auch deren Nachkommen. Die Projekte zur psychosozialen Unterstützung leite ich, ich bin ja kein Therapeut sondern „nur“ Psychologe. Projekte wie das Tschetschenienprojekt erhalten jedoch keine Förderungen und müssen deshalb auf ehrenamtlicher Basis durchgeführt werden. Ein Grundprinzip ist, dass tschetschenische Menschen in den Projekten selbst aktiv mitarbeiten. Es soll nicht darum gehen, dass wir diejenigen sind, die zeigen, wie es funktioniert, es soll eine Zusammenarbeit sein, nämlich wirklich eine kulturspezifische Zusammenarbeit. Es nützt ja nichts, wenn wir jemandem, der aus einer anderen Kultur stammt, einen Stempel aufdrücken wollen, sondern es soll so sein, dass auch die Tschetschenen ihre Wertvorstellungen einbringen können.
TT: Wie kam es zur Gründung des FC Tschetschenien?
Ich habe erkannt, dass viele Tschetschenen nicht für auf unsere Kultur ausgerichteten Therapiemethoden zugänglich sind, und dass auch Sport traumatische Ereignisse aufzuarbeiten hilft. In den ersten sechs oder sieben Jahren standen Deutschkurse im Mittelpunkt. Im Deutschkurs haben wir gemeinsam überlegt, was noch sinnvoll, lustig und hilfreich wäre. Damals haben die meisten Familien noch kein Asyl und damit keinen Zugang zum Arbeitsmarkt gehabt und mussten den ganzen Tag in den Asylquartieren verbringen. Wir haben uns gefragt, was wir tun können, damit diese Situation einigermaßen erträglich wird. Da haben wir den FC Tschetschenien gegründet, eine Mannschaft, die inzwischen nicht mehr ganz unbekannt ist.
Der Fußballverein wurde von der Vätergeneration gegründet, dann haben deren Söhne die Mannschaft übernommen und u. a. auch mich als Spieler aus der Mannschaft gekickt, weil ich für sie zu langsam war. Natürlich habe ich freiwillig das Feld geräumt, weil es sehr spannend ist, den Jungen zuzuschauen, da sind ganz tolle Fußballer dabei. Später ist das Fußballprojekt ein Sport-Integrationsprojekt geworden, auch mit sportlichen Erfolgen, die Mannschaft hat einige Hobby-Turniere gewonnen. Mittlerweile gibt es beim FC Tschetschenien den Versuch zum Aufbau einer dritten Generation. Im Laufe dieser Jahre haben sich viele Freundschaften zwischen Österreichern und Tschetschenen entwickelt, und das ist ja der Sinn und Zweck.
TT: Wie erklärst du dir die Vorurteile gegenüber Menschen aus Tschetschenien?
Sigi: Weil man im Sozialbereich nur mit schwierigen Familien zu tun hat und man die Familien, die sich ohne große Hilfeleistung problemlos integrieren, gar nicht kennt, zum Beispiel intellektuelle und gebildete Familien. Diese ziehen sich aber oft auch zurück, denn die Tschetschenen sind leider untereinander sehr gespalten, das hat der Krieg mit sich gebracht, und die Religion, die im Krieg mit hineinspielt. Die Spaltung hat mit Ende des ersten Tschetschenienkrieges begonnen, es war die einzige Möglichkeit, die Tschetschenen zu besiegen. Man hat mit Hilfe des Geheimdienstes radikal religiöse Gruppierungen einsickern lassen, in Russland nennt man sie Wahabiten, und die haben einen Islam nach Tschetschenien getragen, der den Menschen im Grunde fremd ist, weil er nicht mit den Sittengesetzen der tschetschenischen Gesellschaft harmoniert.
Ich habe mir kürzlich von einem Kärntner Hauptschuldirektor sagen lassen müssen, dass die Gewaltbereitschaft bei Tschetschenen genetisch veranlagt wäre. So ein Denken ist leider oft vorhanden und wird durch fast alle politischen und medialen Kräfte geschürt. Das ist natürlich ein gutes Werkzeug, um Empathieverweigerung zu erzeugen.
TT: Wie kommt es zu einer Empathieverweigerung?
Sigi: Wir haben als Menschen einen Schutzmechanismus, der uns davon abhält, eine besondere Form von schlechten Informationen aufzunehmen, man nennt das die Abwehr des Grauens. Die Vorfälle in Tschetschenien in den letzten 20 Jahren waren extrem brutal. Man muss sich vorstellen: Ein Volk von einer Million verliert 250.000 Menschen, jeder vierte Tschetschene ist getötet worden. Und die Foltermethoden in Tschetschenien – das können viele Ärzte und Therapeuten bezeugen, denn viele Tschetschenen erzählen es ja, wenn sie dazu in der Lage sind – sind extrem brutal. Weil wir mit diesem Entsetzen nicht zurechtkommen, wehren wir es von uns ab und damit auch die Menschen. Wir wissen es zwar nicht wirklich, aber wir wissen unbewusst, was diese Menschen erlebt haben.
Das ist generell bei Flüchtlingen der Fall, deshalb die große Abwehr, die aber in den letzten Jahren extrem instrumentalisiert worden ist, weil Politiker immer feiger und verantwortungsloser werden und nur mehr auf ein Thema einhacken, wo sie sicher sind, hier können wir punkten. Das ist einer der Hauptgründe. Es herrscht ja heute eine Flüchtlingspolitik, die nur darauf abzielt, möglichst niemanden aufzunehmen und möglichst viele abzuschieben, egal wie lange die Menschen schon bei uns leben. Auch das hat mit einer Negativkampagne zu tun, denke ich.
TT: Euer Projekt versucht durch Kulturveranstaltungen wie Lesungen von tschetschenischen Schriftstellern ein anderes Bild von Tschetschenien zu präsentieren …
Sigi: Öffentlichkeits- und Menschenrechtsarbeit ist ein wichtiger Aspekt der Arbeit von ASPIS. Wir haben letzten Sommer eine Pressekonferenz gemeinsam mit Susanne Scholl abgehalten, weil viele tschetschenische Familien, die schon sieben oder acht Jahre hier leben, plötzlich abgeschoben werden sollen. Susanne Scholl ist als jahrelange ORF-Korrespondentin eine relative Autorität, auf die hoffentlich auch Kärntner Fremdenpolizisten ein bisschen hören. Sie hat deutlich ausgesprochen, dass eine Abschiebung bei den Strukturen, die heute in Tschetschenien herrschen, in einem Foltergefängnis enden kann. So gibt es Berichte von Amnesty, und auch die russische Menschenrechtsorganisation Memorial hat kürzlich einen Bericht veröffentlicht, dass es gerade Rückkehrern sehr schlecht ergehen kann, nicht sofort, so dumm sind die dortigen Machthaber auch nicht, sondern der Zugriff erfolgt halt dann erst nach einige Monaten.
TT: Wie ist die Situation in Kärnten allgemein?
Sigi: Ich habe den Eindruck, dass seit dem verantwortungslosen Unfalltod von unserem ehemaligen Landeshauptmann die Stimmung etwas besser geworden ist, und zwar in dem Sinne, dass nicht mehr so viel Angst herrscht. Früher musste jeder, der irgendeine kritische Äußerung von sich gegeben hat, berechtigte Sorgen um den Job haben, es sind auch viele direkt unter Druck gesetzt worden, sich an bestimmten Kampagnen nicht zu beteiligen. Außerdem gab es ein Spitzelsystem, wie das immer so ist bei Leuten, die nicht mit ganz demokratischen Mitteln herrschen.
Unter Dörfler ist es besser geworden, er ist für mich nicht schlechter als andere österreichischen Landeshauptleute. Die Salzburger Landeshauptfrau etwa hat nicht nur heuer Jean Ziegler ausgeladen, sondern sich vor einigen Jahren auch gegen eine Einladung des bekannten französischen Philosophen André Glucksmann als Festredner bei den Salzburger Festspielen ausgesprochen, der sich damals mit dem Thema Tschetschenien intensiv auseinandergesetzt hat und auch durch Tschetschenien gereist ist. So eine Feigheit ist meiner Meinung nach nicht zu übertreffen.
TT: Werden Menschen, die schon durch den Krieg traumatisiert wurden, nicht durch den Umgang der Behörden mit ihnen erneut traumatisiert?
Sigi: Richtig. Dazu gibt es ein ganz großartiges Buch von Klaus Ottomeyer, es heißt: „Die Behandlung der Opfer“. Mit Behandlung ist hier nicht nur die therapeutische Behandlung gemeint, sondern auch die Behandlung durch die Behörden. Man darf zwar nicht alle verurteilen, aber es gibt in den Behörden Leute, die glauben, Flüchtlinge verhören zu müssen und in Situationen hineinzutreiben, in denen sie eigentlich nicht mehr antworten können. Tatsächlich gibt es diese Einfühlungsverweigerung traumatisierten Menschen gegenüber, von der ich vorher gesprochen habe, bei allen möglichen Behörden. Wenn jemand über traumatische Erlebnisse erzählen muss wie im Asylverfahren, kann das zu einer Abwehrhaltung bei Menschen führen, die selbst mit unaufgearbeiteten psychischen Problemen zu tun haben, und das haben wir ja alle, mehr oder weniger. Als gesund gelten die, die damit zurechtkommen.
Es ist ja ohnehin für jeden, der auf Sozialhilfe angewiesen ist, extrem demütigend. Die Leute, die zu uns kommen, waren gewohnt zu arbeiten und ihre Familien selbst zu versorgen. Jetzt werden sie doppelt gedemütigt. Erstens, indem sie um Geld bitten müssen, das ihnen eigentlich zusteht, und dann noch durch den stillen oder auch lauten Vorwurf: Was tust du überhaupt hier? So kommt es logischerweise zu Konflikten. In den Behörden erwartet man, dass Flüchtlinge als demütige Bittsteller auftreten. Manche Beamte sehen sich in ihrer Arroganz als die Gnädigen, die Flüchtlinge aufnehmen. Es hat in Kärnten Vorfälle gegeben, wo tschetschenische Flüchtlinge einen Tagesmarsch auf sich genommen hatten, um über Missstände in den Flüchtlingsquartieren zu klagen, und das hat wohl dazu beigetragen, dass man sich die Tschetschenen als Lieblingsfeindbilder auserkoren hat, weil manche von ihnen nicht bereit sind, sich alles gefallen zu lassen.
TT: Entsprechen tschetschenische Menschen dem Bild, wie es in der Öffentlichkeit präsentiert wird, oder ist es total falsch?
Sigi: Sie sind, und so nenne ich auch mein Projekt, einfach Menschen wie wir. Unter meinen besten Freunden und Freundinnen sind vor allem Tschetschenen und Tschetscheninnen. Es gibt hier wie überall ganz unterschiedliche Menschen, aggressive Menschen genauso wie extrem sensible und liebenswürdige Personen, die aber für die Öffentlichkeit nicht so interessant sind. Der intellektuelle Geschichtsprofessor ist für die Kronenzeitung oder die FPÖ nicht so interessant wie der 16-jährige Tschetschene, der Neonazis aufmischt. Sie sind in jeder Hinsicht total unterschiedlich, es gibt Atheisten, es gibt gläubige Muslime, manche sind extrem liberal eingestellt, manche sind sehr westlich orientiert, es gibt aber auch eine neue Generation von islamisierten Familien. Wenn man wollte, könnte man das Bild auch völlig umändern, je nachdem, welche Familien man präsentiert.
TT: Danke für das Gespräch!
veröffentlicht in Talktogether Nr. 40/2012
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