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Geschichte und Macht der Schulden
Was ist dieses rätselhafte Geld, das unser ganzes Leben steuert, und woher stammt es? Ist es, wie Marx sagt, im Austausch entstanden, als Äquivalent, um den Wert unterschiedlicher Waren besser vergleichen zu können? Oder hat es seinen Ursprung in der Schuld, wie es der US-amerikanische Völkerkundler David Graeber in seinem neuen Buch „Schulden. Die ersten 5000 Jahre“ behauptet?
Geld und Schulden sind seit der Finanz- und Schuldenkrise Thema Nummer eins in jeder Nachrichtensendung. Von der Bändigung des Finanzkapitals und davon, dass Geld in die Realwirtschaft fließen solle, damit die Unternehmen wieder arbeiten könnten, wird bei den Gewerkschaften gesprochen. Wir brauchen Wachstum, sagen Politik und sog. Wirtschaftsexperten, gleichzeitig fordern sie Sparprogramme, um die Schulden abzubauen, die das Wachstum aber wiederum behindern. Gibt es kein Entrinnen aus diesem Dilemma?
Der Ursprung des Geldes
Das virtuelle Geld sei keine Erfindung der Neuzeit, sondern die ursprüngliche Form des Geldes, sagt David Graeber, und Kreditsysteme habe es schon lange vor der Erfindung des Münzgeldes gegeben. Frühe Formen des Geldes wie Federgeld oder Kauri-Schnecken hätten weniger dem Tauschhandel gedient als der Festigung oder Auflösung sozialer Beziehungen. Geld sei erst erfunden worden, um Soldaten zu bezahlen, und das moderne Bankensystem in Europa sei entstanden, um Kriege zu finanzieren, so Graebers These. Aber schon zu Zeiten der ersten Agarreiche (von 3500 bis 800 v. C.) habe es Märkte gegeben, auf denen nicht mit Metallgeld bezahlt, sondern die Schuld angeschrieben wurde. Auch im Mittelalter sei Bargeld bei der Bevölkerung kaum verbreitet gewesen, stattdessen gab es Holzstückchen, auf denen die Schulden mit Kerben aufgezeichnet wurden. Bis heute existiert bei uns die Redewendung „etwas auf dem Kerbholz haben“.
Weiters argumentiert Graeber, dass die meisten Rebellionen und Aufstände der Geschichte auf einen Kampf zwischen Schuldnern und Gläubigern zurückzuführen seien. Wegen der hohen Zinsen schlitterten Bauern bei schlechten Ernten schnell in Schuldsklaverei. Um den sozialen Frieden zu wahren und damit die Schuldknechte wieder zu ihren Familien zurückkehren konnten, habe es in allen Kulturen und Epochen periodische Schuldenerlässe gegeben, so auch im mesopotamischen Reich. Eines der ersten Begriffe für Freiheit ist demnach das sumerische Wort „amarga“, das buchstäblich „zurück zur Mutter“ bedeutet. Im alten Israel war es das „Jubiläum“, das alle sieben Sabbath-Jahre (49 Kalenderjahre) wiederkehrte. In diesem Jubeljahr wurden die verschuldeten Bauern von allen Schulden befreit und bekamen ihr Land zurück (1). Über Solon (630–560 v. C.) sagte Aristoteles, seine größte Leistung sei nicht die Erarbeitung einer Verfassung für Athen gewesen, sondern die Entschuldung der Bürger. Noch heute scheint diese Strategie wirksam zu sein: Als die saudische Regierung aufgrund der Aufstände in den arabischen Ländern in Panik geriet, verkündete der König kurzerhand einen Schuldenerlass.
Das Mittelalter
Das Zentrum der mittelalterlichen Weltwirtschaft lag nicht in Europa, sondern in der islamischen Welt und in Asien. Der Islam sah eine rechtliche Struktur vor, die nicht nur den kaufmännischen Tätigkeiten förderlich war, sondern auch friedliche Beziehungen zwischen den Kaufleuten in einem großen Teil der Welt und eine Schaffung von anspruchsvollen Kreditinstrumenten erlaubte. Laut Graeber stammen die heutige Ideologie vom freien Markt, aber auch viele Beispiele, die Adam Smith anführt, aus dem mittelalterlichen Islam. Wie ursprünglich auch im Christentum ist im Islam das Verleihen von Geld gegen Zinsen jedoch verboten. Bis heute treten Islamische Banken als Mitinvestor auf, wobei Gewinne und Verluste mit den Kunden geteilt werden und jedes Bankgeschäft zweckgebunden und mit einem realen Wirtschaftsgut hinterlegt sein muss.
Im 16. Jahrhundert wurde in Europa das Zinsverbot aufgehoben. Damit war der Siegeszug des Kreditsystems nicht mehr aufzuhalten. Bei Kreditgeld handelt es sich um Geld, für das die Leistung erst in der Zukunft erbracht werden muss. Der Schuldner verpflichtet sich, diese Schuld in einem vereinbarten Zeitraum zu begleichen. Der nächste Schritt ist der Handel mit diesen Versprechen. Dazu Karl Marx im „Kapital“: „Das Kreditgeld entspringt unmittelbar aus der Funktion des Geldes als Zahlungsmittel, indem Schuldzertifikate für die verkauften Waren selbst wieder zur Übertragung der Schuldforderungen zirkulieren.“ (2)
Aber schon Aristoteles wusste: Geld wirft keine Jungen. Wenn Zinsen gezahlt werden, entstammen sie dem Arbeitsfleiß. Geld befähigt den Kapitalisten, ein bestimmtes Quantum an unbezahlter Arbeit aus den ArbeiterInnen herauszuziehen und sich anzueignen. Danach fließt es zurück zum Eigentümer, und dieser erhält für seinen Vorschuss einen Anteil am erzielten Mehrwert in Form von Zinsen.
Schulden bezahlen – eine moralische Pflicht?
Der Grund, dieses Buch zu schreiben, war, sagt Graeber, dass die Verschuldung heute beinahe jeden Aspekt unseres Lebens durchdringt. Nicht erfüllbare Schuldenforderungen haben viele Menschen in den Ruin getrieben, die all ihr Hab und Gut verloren haben, und ganze Staaten verwüstet. Doch während in der Vergangenheit Systeme geschaffen wurden, die eine Kontrolle über die katastrophalen Folgen der Verschuldung ausübten und die Schuldner zu schützen versuchten, seien globale Institutionen wie IWF und Weltbank vor allem nur noch zum Schutz der Gläubiger tätig.
Üblicherweise lautet der Einwand, dass Schuldenerlässe katastrophale Auswirkungen auf die Wirtschaft hätten und Wachstum verhindern würden. Aber brauchen wir wirklich ein Wachstum, das so viele Menschen in Not, Armut und Verzweiflung treibt?
Die Schuldenbegleichung wird jedoch nicht nur als moralische Pflicht angesehen, sondern auch mit staatlichen Zwangsmaßnahmen vollstreckt. Müssen Schulden aber wirklich immer beglichen werden oder nur dann, wenn man nicht „zu groß zum Scheitern“ ist? Aus der Finanzkrise hätten wir jedenfalls gelernt, dass sich die Märkte nicht selbst regulieren, so Graebers Fazit, aber auch, dass Schulden weggemogelt werden können, wenn das so gewollt ist. „Aber wenn das wahr ist, wenn Schulden nur ein Versprechen sind und Versprechen verhandelt werden können, und wenn Demokratie irgendeine Bedeutung hat, dann muss es bedeuten, dass wir, die Öffentlichkeit, das Sagen haben, wie das vonstatten geht ...“ (3)
Schuldenstreichung - eine Lösung im Kampf gegen Armut und soziale Ungleichheit?
Schulden haben die Menschen seit der Erfindung des Privateigentums begleitet. Doch nicht nur Privatpersonen, auch Staaten fielen in Schuldknechtschaft. Seit dem 19. Jahrhundert wurde die Auslandsverschuldung als Instrument der Herrschaft über die Völker Lateinamerikas, Afrikas, Asiens und der Karibik benutzt. Haiti musste seine Unabhängigkeit teuer bezahlen: Frankreich forderte Entschädigungszahlungen für entgangene Profite durch Kolonialismus und Sklaverei, noch im Jahr 1900 verschluckten die Rückzahlungen immerhin 80 Prozent des Staatshaushalts.
Im 19. Jahrhundert begann auch der Kampf gegen die Verschuldung. 1861 beschloss der erste indigene Staatsführer Lateinamerikas, der mexikanische Präsident Benito Juarez, die Schuldenrückzahlung seines ausgebluteten Landes an die Europäer zu stoppen, was Napoleon einen Vorwand für eine militärische Intervention lieferte.
Nach der Unabhängigkeit haben viele afrikanische Staaten Kredite aufgenommen, um ihre Länder zu industrialisieren. Die weltweite Überproduktion hat jedoch in den späten 1970er und den 1980er Jahren einen rapiden Rohstoffpreisverfall ausgelöst, so dass viele vom Rohstoffexport abhängige Staaten in die Schuldenfalle gerieten. Ein Großteil der Steuereinnahmen musste für Schuldenrückzahlung und Zinsen aufgebracht werden und konnte nicht für die Befriedigung der Bedürfnisse der Bevölkerung eingesetzt werden.Als Bedingung für einen Schuldenerlass wurden von den internationalen Finanzorganisationen einschneidende Maßnahmen wie ein Subventionsabbau (z. B. für Grundnahrungsmittel) und die Privatisierung von staatlichen Einrichtungen gefordert. Mit den Schulden werden aber auch gute Geschäfte gemacht, indem sie an Fonds weiterverkauft werden, die dann gleich Inkassobüros versuchen, diese Schulden einzutreiben. Auch Angehörige der herrschenden Klassen des Südens profitieren von dieser Verschuldung, wenn sie Auslandsschuldentitel erworben haben.
Erst gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde die Schuldenstreichung zu einer internationalen Kampagne. Die Netzwerke Jubilee South und CADTM (Comité pour l’Annulation da la Dette du Tiers Monde) treten dafür ein, dass die Rückzahlungen jener Schulden verweigert wird, die für illegitim erachtet werden, weil sie zur persönlichen Bereicherung von Despoten, für die Aufrüstung oder zur Unterdrückung der Bevölkerung eingegangen wurden.2007 hat die ecuadorianische Regierung einen Anfang gemacht. Sie berief eine Kommission zur Prüfung der öffentlichen Schulden ein, welche daraufhin die Legitimität der Schulden der letzten 30 Jahre untersuchte. Anhand der Ergebnisse wurden Rückzahlungen für Kredite für nie umgesetzte Projekte, oder mit denen die Aufrüstung oder die Bereicherung korrupter Eliten finanziert wurden, eingestellt.
Eine Annullierung der Staatsschulden sei zwar unerlässlich für einen strukturellen Wandel, sagt CADTM-Gründer Eric Toussaint, solange sich die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen aber nicht änderten, könne auch sie nicht verhindern, dass die Probleme erneut entstehen.
(1) vgl. Peter Fleissner 2012: Und vergib uns unsere Schuld … in: Volksstimme, Februar 2012
(2) Kapitel I, S. 153f.
(3) Elmar Altvater 2004: Eine andere Welt mit welchem Geld?
veröffentlicht in Talktogether Nr. 40/2012
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