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Ist ein Neubeginn möglich?
von Abdullahi A. Osman
Frieden und Konflikte des Landes waren einst von den Jahreszeiten – Gu, Jiilal, Dayr und Xaggaa – bestimmt. Gu und Dayr sind die Hauptregenzeiten, im Xaggaa regnet es, aber nicht stark, und Jiilaal ist die Trockenzeit, die sich leider in den letzten 30 Jahren immer mehr ausgebreitet hat, was Dürren und Hungersnöte verursacht hat.
Nehmen wir an, es ist Gu: Nach der langen Zeit des Wartens kommen endlich die drei Regenmonate. Alle Teiche sind voll mit Wasser, das Gras sprießt und die Weiden sind grün, so weit das Auge reicht. Während dieser Zeit paaren sich die Tiere und die Menschen räumen ihre Stöcke weg, mit denen sie das Vieh auf der Suche nach neuen Weidegründen oder zur Wasserstelle angetrieben haben. Man legt Speere und Dolche auf die Seite und Hochzeiten werden angekündigt. Es gibt Milch im Überfluss und nur selten muss ein Tier geschlachtet werden. In dieser Zeit gibt es keinen Krieg, nicht einmal Raubtiere greifen das Vieh an. Diese Zeit nannte man Berisamaad (die schöne Zeit) oder Nabad iyo Barwaaqo (Frieden und Wohlstand). Es sieht so aus, als ob Diebe, Löwen, Hyänen, Schakale und Füchse Frieden mit den Tierbesitzern geschlossen hätten.
Allmählich trocknen die Teiche aber wieder aus, die Früchte liegen reif auf dem Boden und verfaulen. Danach verlieren die Bäume langsam ihre Blätter und die Weideplätze werden immer kleiner. Die Stöcke werden wieder aus ihren Verstecken geholt und niemand verlässt mehr ohne sie seine Hütte. Die Dürrezeit Jiilaal beginnt und damit auch die Spannungen zwischen Raubtieren, Dieben und Nomaden.
Wasser war und ist immer eine Mangelware in Somalia, vor allem in den Provinzen Zentralsomalias, wo es wenig Wasser aber die größten Viehbestände gibt. Von dort wurde die somalische Politik immer geleitet und alle bisherigen Präsidenten der Republik stammten aus diesem Teil des Landes. Wenn es Wasser nur in einem zwei Meter breiten und acht bis zehn Meter tiefen Brunnen gibt und innerhalb kurzer Zeit Hunderte Kamele, Rinder, Ziegen und Schafe zur Wasserstelle getrieben werden, kann es leicht zu Streitigkeiten kommen.
Wer seine Tiere nicht rechzeitig mit Wasser versorgen konnte, wurde als Versager gesehen, und da das keiner wollte, versuchte jeder, sich mit Gewalt einen Platz am Brunnen zu erkämpfen. Streit und Schlägereien gehörten deshalb zum Alltag. Manchmal kam es soweit, dass Speere und Dolche eingesetzt wurden, trotzdem endete selten ein Kampf tödlich. Es gab überlieferte Traditionen und von den Menschen akzeptierte Regeln und deshalb war es nicht schwer, die Konflikte wieder zu lösen. Der Xeerbeeg (Ältestenrat) war immer zur Stelle, seine Aufgabe war es, die Konflikte zu lösen, und wenn es Verletzte oder einen Toten gegeben hat, so schnell wie möglich eine Vereinbarung zu finden, um die Verletzten oder die Familie des Toten zu entschädigen.
Nun kamen diese zum Machtkampf erzogenen Männer in die Stadt und versuchten, dort nach dem gleichen System zu leben, nur ohne die ausgleichenden Regeln des Xeerbeeg. Mit der Kolonialisierung sind auch viele Schusswaffen ins Land gekommen. Damals haben die Nomaden begonnen, bei Streitigkeiten auch Gewehre einzusetzen. Durch die „Teile und Herrsche“ Politik der Kolonialherren wurden die Spannungen zwischen den Stämmen noch vertieft, während gleichzeitig die nomadischen Konfliktlösungssysteme zugrunde gerichtet wurden.
Solidarität, Versöhnung, Kompromissbereitschaft und Unbestechlichkeit waren überlebenswichtige Grundprinzipien der nomadischen Gesellschaft gewesen, die in der Stadt ihre Bedeutung verloren. Die somalische Politik könnte man mit der damaligen Situation am Wasserbrunnen vergleichen. Doch heute ist die Lage schlimmer geworden, denn neben gefährlichen Waffen zerstört die Korruption den Frieden des Landes und entfernt die Stämme immer mehr voneinander. Wenn jemand ein Verbrechen begangen hat, hängt es davon ab, wie mächtig sein Stamm ist. Gehört er einem mächtigen Clan an, wird er – anders als früher – nicht verurteilt.
Am 10. September wurde nach 43 Jahren das erste Mal auf somalischen Boden ein Präsident gewählt. Auf der Kandidatenliste für die Präsidentschaftswahlen standen ausschließlich Männer, von denen viele im Bürgerkrieg an Kriegsverbrechen beteiligt waren. Gewählt wurde nicht vom Volk, sondern von den Parlamentsabgeordneten. Doch wer sind diese Abgeordneten? Sie vertreten keine Parteien, sondern sind von ihren Stämmen ins Parlament geschickt worden. Früher hat man einen mutigen Mann zur Wasserstelle geschickt mit dem Auftrag, dafür zu sorgen, dass die Tiere genug Wasser bekommen. Heute schickt man sie ins Parlament und sagt: „Cadkeen noo soo quaad“ (Bring uns unser Stück mit), was so viel bedeutet wie, möglichst viel Macht, Posten und Einfluss für den Stamm sichern. Nicht die Verantwortung für die Allgemeinheit, sondern die Begehrlichkeiten des Stammes stehen im Vordergrund.
Von 1978 bis heute sind unzählige Menschen enteignet, vertrieben, getötet und vergewaltigt worden. Mutige Menschen wie Elman, Starlin oder Yahya, die dem Volk gezeigt hatten, dass ein Leben ohne Gewalt und Korruption möglich ist, wurden ermordet. Eines der letzten Opfer der alltäglichen Gewalt war der Komiker Malaaq, der im Radio gesagt hatte: „Warum verschwenden wir viel Zeit und Geld für diese Wahl, wo die Stimmen der Abgeordneten gekauft werden.“ Er wurde getötet, als er das Studio verlassen hatte. Keiner der Kriegsverbrecher hat sich bisher vor einem Gericht verantworten müssen. Diese 34 Jahre lang angewachsene Gewalt hat Misstrauen und Rachegefühle ausgelöst, die überall in der somalischen Gesellschaft zu spüren sind.
Viele Menschen haben die Hoffnung, dass nach den langen Kriegsjahren mit den Wahlen am 10. September eine neue, friedliche Ära eingeleitet wird. Doch ist Versöhnung ohne Dialog und ohne Auseinandersetzung mit der Vergangen überhaupt denkbar? Viele fragen sich nun, ob der neu gewählte Präsident weiter führen wird, was seine Vorgänger betrieben haben, oder ob er stark und selbstbewusst sein wird, einen neuen Weg einzuschlagen.
veröffentlicht in Talktogether Nr. 41/2012
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