Welche Entwicklung und wem dient sie?
„Werdet so wie wir, dann werdet ihr erfolgreich sein“, lautete das Entwicklungsversprechen des Westens. Die global zunehmende soziale Ungleichheit, die politische Instabilität in vielen Regionen, die Finanz- und Schuldenkrise sowie die drohenden Klimakrise haben die Glaubwürdigkeit dieses Konzepts längst erschüttert. Obwohl sich überall auf der Welt Protestbewegungen formieren, herrscht in Bezug auf Alternativen Ratlosigkeit vor. Haben die Konzepte der Vergangenheit ausgedient? Oder können sie uns zu neuen Wegen inspirieren?
Die so genannten „entwickelten Nationen“ präsentieren sich selbst gern als Verfechter von Aufklärung, Rationalität, Gleichheit, Demokratie und Menschenrechten, während sie den „Anderen“ Rückständigkeit und Despotie zuschreiben. Dabei wird ausgeklammert, dass ihre Entwicklung auf Unterjochung und Ausplünderung dieser Anderen begründet ist – ob durch Kolonialismus und Sklavenhandel oder durch Gewinntransfers und Monopolpreise. Die Entwicklung der kolonialisierten Länder wurde gewaltsam behindert durch Enteignung und Landraub, die Zerschlagung einheimischer Industrien, den Ausschluss einheimischer ProduzentInnen vom Markt und die Zerstörung einheimischer Kulturen.
Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die kolonialisierten Völker jedoch entschlossen, die Unterdrückung nicht länger hinzunehmen. Zwei bedeutende Ereignisse in den bevölkerungsreichsten Ländern der Erde leiteten eine neue Epoche ein: Die nationale Unabhängigkeit Indiens 1947 und der Sieg der chinesischen Revolution 1949. Bei ihren politischen Führern, M. K. Gandhi und Mao Zedong, handelte es sich um höchst kontroverse politische Persönlichkeiten, deren Ideen unterschiedliche Widerstandsbewegungen wie die Unabhängigkeitsbewegungen in Afrika, die Bewegung gegen den Vietnam-Krieg, die Schwarze Bürgerrechtsbewegung oder die Black Panther Bewegung in den USA inspirierten. Während man Gandhi im Westen aufgrund seiner Gewaltlosigkeit heroisierte, wurde Mao verteufelt.
In ihren eigenen Ländern wurden Gandhi und Mao als Befreier ihrer Nationen bejubelt, ihre Ideen von ihren politischen Nachfolgern aber ignoriert. Nehru entschied sich für ein Bündnis mit der Sowjetunion und eine rasche Industrialisierung mithilfe von Auslandshilfen und Krediten. Maos Nachfolger setzte auf rasches Wachstums nach dem Prinzip „egal ob eine Katze schwarz oder weiß ist, Hauptsache sie fängt Mäuse“, und wandte sich vom Ziel der Überwindung sozialer Ungleichheiten ab. Indien und China wurden Teil des Systems, das Gandhi und Mao bekämpft hatten.
Zwei Wege - ein Ziel
Was können ein religiöser Asket, der sich der Gewaltlosigkeit verschrieb, und ein marxistischer Revolutionär, dessen Leitspruch lautete, „Politische Veränderung kommt aus den Gewehrläufen“, gemeinsam haben? Aus ihrer unterschiedlichen, vielleicht sogar gegensätzlichen Perspektive erkannten sie das westliche kapitalistische System als ausbeuterisch, unterdrückerisch, gewalttätig und entmenschlichend und sahen es als Hegemonie an, die danach strebte, die unabhängig gewordenen Nationen in neue Abhängigkeiten zu treiben. Dieser Entwicklung setzten ihre Visionen einer alternativen Zukunft entgegen, mit dem Anspruch, nicht nur ihre Länder sondern die gesamte Menschheit zu befreien. Dabei experimentierten sie mit neuen Formen politischer und ökonomischer Organisation und interpretierten kulturelle Traditionen neu, indem sie deren hierarchische, ausgrenzende und frauenfeindliche Elemente bekämpften. (vgl.1).
Sich auf die eigenen Kräfte stützen
Sowohl Gandhi als auch Mao identifizierten sich vor allem mit der verarmten Hunger leidenden ländlichen Bevölkerung, welche die überwältigende Mehrheit dieser Länder ausmachte, und machten die Dörfer zum Ausgangspunkt ihrer Entwicklungsbestrebungen. Nach Gandhis Vision sollte jedes Dorf eine Republik mit allen Vollmachten sein, die selbstständig im Stande wäre, mit den eigenen Angelegenheiten fertig zu werden. Jedes Dorf solle sich mit dem Lebensnotwendigen selbst versorgen können, was nicht ausschließe, dass es mit den anderen Dörfern und der ganzen Welt verflochten ist im Hinblick auf die vielen Bedürfnisse, bei denen Abhängigkeit notwendig ist. „Vorausgesetzt, dass dieser Charakter der dörflichen Industrie erhalten wird, wäre nichts dagegen einzuwenden, wenn die Dorfbewohner jene modernen Maschinen benutzen, die sie selbst herstellen und verwenden können. Sie dürfen nur nicht zum Mittel der Ausbeutung werden“ (Harijan, 29. August 1936).
Die Überwindung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land und zwischen intellektueller und manueller Arbeit waren Grundprinzipien in Maos Modell, das dieser im Gegensatz zu Gandhi auch in der Praxis erproben konnte. Um die Landbevölkerung medizinisch zu versorgen, wurden Barfußärzte und -ärztinnen ausgebildet und Jahrhunderte alte Heilmethoden wie die Akupunktur, die von im Westen ausgebildeten Medizinern ignoriert wurden, eingesetzt und mit westlichen Methoden kombiniert. Zur Produktion traditioneller Medikamente wurden aus vorhandenem Material einfache Maschinen hergestellt. Sowohl Gandhis Dorfrepublik als auch Maos Volkskommunen folgten dem Prinzip der Eigenständigkeit und der Mobilisierung vorhandener Ressourcen. Die Menschen sollten in der Lage sein, die Technologien verstehen, sie zu beherrschen und selbst weiterzuentwickeln ohne von Experten und Technokraten abhängig zu sein.
Abeit und Erziehung - Ergänzung statt Gegensatz
Gandhi und Mao lehnten auch die intellektuellen Traditionen und Erziehungsmethoden des Westens ab, borgten sich aber, was sie davon als sinnvoll erachteten (vgl.1). Erziehung solle immer in Verbindung mit der praktischen Arbeit und zur sozialen, wirtschaftlichen und natürlichen Umwelt der Schüler und Schülerinnen stehen. Kinder wurden als politisch bewusste und autonome Persönlichkeiten angesehen, die fähig sind, Verantwortung zu übernehmen, und in die für die Gemeinschaft nützliche produktive Arbeit einbezogen.
Die Erziehung folgte nicht dem Prinzip des Expertentums, sondern des Voneinander Lernens. Von den Massen lernen hieß das Prinzip Maos und in Gandhis Augen war ein Lehrer, der nicht von seinen Schülern lernt, wertlos. Nicht der persönliche Erfolg, sondern die Nützlichkeit des Gelernten für die Gemeinschaft solle im Vordergrund des Unterrichts stehen. Sinnbild dafür ist der Film „Mit alten Ideen brechen“ aus dem China der Kulturrevolution. Er handelt von der Auseinandersetzung in einer Landuniversität zwischen jenen, die überzeugt sind, dass das erworbene Wissen den Bauern und Bäuerinnen dienen solle, und den Technokraten, die nur die Begabtesten fördern und somit eine neue Elite von Intellektuellen und Experten schaffen wollen.
Gandhis Salzmarsch, Produktion traditioneller Medizin mit selbstgebauten Maschinen, China 1975
Vertrauen in die Massen
Zur Durchsetzung ihrer politischen Ziele vertrauten Gandhi und Mao in die Mobilisierung der Massen. Am 12. März 1930 marschierten Tausende Inder und Inderinnen zum Meer und machten ihr eigenes Salz und brachen damit britische Kolonialgesetze. Dieser simple Akt der Missachtung war ein direkter Schlag gegen die ökonomische Untermauerung des Britischen Empire. Im Gegensatz zu Gandhi, dessen Vision deutlich anarchistische Züge trug und der jede Zentralgewalt ablehnte, war für Mao die Sicherstellung der politischen Macht entscheidend. Um die revolutionäre Umgestaltung nicht nur von Wirtschaft und Politik, sondern auch des Alltagslebens zu verteidigen und voranzutreiben, setzte auch er sein Vertrauen in das Korrektiv der Massen, die er aufrief, gegen das System und die eigene Partei zu rebellieren. Auf dem Höhepunkt der Kulturrevolution, als die Shanghaier Kommune versuchte, den Partei- und Staatsapparat abzuschaffen, griff Mao jedoch ein. Hat Mao die Massen rücksichtslos manipuliert, wie im oft vorgeworfen wird? Oder wusste er, dass eine solche Organisation zu schwach war, um die Ziele der Revolution zu verteidigen?
Es ist nicht Anliegen dieses Artikels, eine Bewertung oder Beurteilung vergangener Ereignisse und ihrer Protagonisten vorzunehmen, sondern Ideen vorzustellen und zu diskutieren, damit sie uns als Ijnspiration für die Bewältigung zukünftiger Herausforderung dienen können. Wie die Kämpfe der Zukfunft aussehen werden, wissen wir nicht. Wer aber durch ein afrikanisches Land oder ein anderes Land im globalen Süden gereist ist und gesehen hat, wie die Abhängigkeit vom Kapital die Entwicklungsbemühungen der Menschen trotz Ressourcenreichtums lähmt und behindert, kann sich vorstellen, welche Potenziale durch eine Entwicklung aus eigener Kraft freigesetzt werden könnten. Und auch im Sinne der Erfordernisse einer ressourcenschonenden und klimaverträglichen Entwicklung scheinen einige der Aspekte von Gandhis und Maos Entwicklungsmodellen ihre Aktualität nicht verloren zu haben.
Selbstorganisation und Macht
Dass Chinas Premierminister Wen kürzlich vor einer neuen Kulturrevolution gewarnt hat, kann als Zeichen dafür gesehen werden, dass Maos Visionen in China nicht vergessen sind. Gandhis und Maos Ideen leben auch bei den zahlreichen Bauern-, Fischer-, Umwelt- und Indigenenbewegungen in Indien und auf der ganzen Welt weiter, die gegen die Enteignung im Namen des Fortschritts Widerstand leisten. Ein Fortschritt, von dem nicht sie profitieren, sondern nur eine konsumorientierte städtische Mittelklasse. Weil Land für sie Brot, Würde und Selbstbestimmung bedeutet, wehren sie sich mit enormem Einsatz, Ausdauer und Opferbereitschaft gegen den Bau von Megastaudämmen und Bergwerken, die Vergiftung ihrer Umwelt, den Raub ihrer Ressourcen und die Vereinnahmung durch multinationale Konzerne.
In ihren Kämpfen entwickeln die Menschen Selbstbewusstsein und neue Formen der Selbstorganisation, gründen Samenbanken, bauen Schulen oder Mikrostaudämme. Doch ohne politische Rahmenbedingungen, die sie schützen und fördern, bleiben sie in der Defensive. Heute erleben wir in vielen Regionen einen Umbruch und überall formieren sich Protestbewegungen, denen jedoch eine gemeinsame positive Vision zu fehlen scheint. Ist es möglich, die unterschiedlichen Kämpfe zu verbinden, um ihnen so mehr Stärke und Einfluss zu verschaffen? Jedenfalls sollten wir Europäer uns davor hüten, uns als diejenigen zu sehen, die alles besser wissen, und stattdessen die Solidarität mit den kämpfenden Menschen in den Vordergrund stellen.
Herstellung von traditioneller Medizin mit selbstgebauten Maschinen in China: Video Barefoot Doctors of Rural China
veröffentlicht in Talktogether Nr. 41/2012
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