Leben in Harmonie und Gleichgewicht
Sumak Kawsay, das Leitprinzip der ecuadorianischen Verfassung
von Elisabeth Schmid
Tatsächlich, ich habe die Avenida Velasco Ibarra, die von den Quiteños „La Oriental“ genannt wird, mit der Avendia Occidental verwechselt. Der Taxifahrer brachte mich somit weit in die entgegengesetzte Richtung. Dabei hatte ich einen Termin mit Mónica Chuji, der ehemaligen Sprecherin des Präsidenten! Zu erklären nur durch eine Freud'sche Verwechslung und Ausdruck der Zugehörigkeit zu den sich auf dem Holzweg befindlichen EuropäerInnen. Immerhin wurde ich bei einigen früheren Interviews, die ich im Rahmen der Recherchen zu meiner Masterarbeit bereits geführt hatte, mehrfach auf die Irrtümer und Verfehlungen des Abendlandes hingewiesen. Zu meiner großen Freude wartete Frau Chuji bis ich mich durch den katastrophalen Verkehr Quitos von Nord nach Süd durchgeschlagen hatte, empfing mich lachend und antwortete geduldig und ausführlich auf meine Fragen zum Leitprinzip in der ecuadorianischen Verfassung, dem „Sumak Kawsay“.
Sumak kawsay – so erklärte sie mir – ist ein sehr vielschichtiger Begriff aus der Sprache der Kichwa. Sumak umfasst das Gute, das Schöne, das Erhabene, kawsay bedeutet leben, verstanden als aktiver, gestaltbarer Prozess. In der Verfassung wird sumak kawsay als buen vivir (gutes Leben) oder vivir bien (gut leben) übersetzt. Mit dieser Übersetzung wird der Begriff bereits verkürzt und an die Vorstellungswelt des Abendlandes angepasst, kritisieren einige VertreterInnen der indigenen Bevölkerungsgruppen. Die indigene Kosmovision ist allerdings damit nicht zu vergleichen, meinen sie und schlagen vor, sumak kawsay mit vida en plenitud (Leben in Fülle) angemessener zu übersetzen.
Die Vision der Verfassung Ecuadors
Wie die meisten Kolonialländer hat auch Ecuador mit dem Ende der spanischen Herrschaft keineswegs politische und wirtschaftliche Freiheit erlangt. Der Einfluss von Internationalem Währungsfonds, Weltbank und anderen inter- und supranationalen Organisationen war jahrzehntelang bestimmend für das Leben der Bevölkerung Ecuadors. In den 1980er und 1990er Jahren führten die mehr oder weniger aufgezwungene Wirtschafts- und Währungspolitik, die politische Instabilität, Klimakatastrophen und Korruption immer wieder zu Krisen. Den traurigen Höhepunkt erreichten diese aber in den Jahren 1998 bis 2000. Nach dem kompletten Zusammenbruch des Bankensystems kam es zur schnellsten Verarmung der Bevölkerung, die es auf dem lateinamerikanischen Kontinent je gegeben hat.
Aus dieser Krise gingen die indigenen Bewegungen gestärkt als relevante politische Kraft und als Kritikerinnen des herrschenden Systems hervor. Obwohl sich im neuen Jahrtausend die Situation einigermaßen beruhigte, schwelte die Unzufriedenheit und Spannung in der Bevölkerung weiter. Rafael Correa gelang es, diese Stimmung aufzugreifen. Er wurde 2006 mit Unterstützung der indigenen Bevölkerungsgruppen mit großer Mehrheit zum Präsidenten gewählt. Sein Wahlversprechen, eine neue Verfassung zu erarbeiten, löste er unverzüglich ein. Er setzte einen Prozess in Gang, an dem viele Bevölkerungsgruppen und -schichten aktiv teilnahmen, um das Zusammenleben neu zu definieren.
Die Leistung der Verfassung von 2008 liegt in der Sichtbarmachung der Vielfalt der Bevölkerung, der Kulturen, des sozialen Lebens, der Religiosität und Spiritualität Ecuadors. Die Aufnahme des sumak kawsay als Leitprinzip versteht sich als Kritik am und Alternative zum westlichen Weg, an der westlichen Auffassung von Entwicklung, Fortschritt und Wachstum. Ausgehend von der indigenen Kosmovision wurde das sumak kawsay in den Debatten rund um die Erarbeitung der Verfassung erweitert, neu definiert, unterschiedlich interpretiert, so dass man im Verfassungstext von einem ganzheitlichen, gemeinsamen Konzept ausgehen kann.
Die Natur als Rechtssubjekt
Im Zentrum des sumak kawsay steht ein Leben in Harmonie und Gleichgewicht mit sich selbst und mit der umgebenden Welt, ja dem gesamten Universum. Das Leben umfasst nicht nur Menschen, Tiere und Pflanzen, Berge und Wasser, sondern auch die geistige, spirituelle und mystische Welt. Ein dauerndes Ungleichgewicht in diesem allumfassenden System kann zu keinem Leben in Fülle führen. Die Aufgabe des Einzelnen besteht daher darin, das Gleichgewicht in der Gemeinschaft zu suchen, von der er Hilfe empfängt und der er Hilfe anbietet. Alle Beziehungen, sowohl soziale, wie auch politische oder wirtschaftliche, dienen der Schaffung und dem Erhalt von Leben.
In der indigenen Kosmovision ist die Erde unteilbar, heilig und eine Lebensspenderin. Der Gedanke, Teile der „Mutter Erde“ zu kaufen und zu verkaufen, einzuzäunen und exklusiv für die eigenen Bedürfnisse zu nutzen, scheint in diesem Kontext völlig absurd. Die Erde als Ware, Ressource oder Kapital anzusehen und zu behandeln, bedeutet für die indigene Gemeinschaft, die Grundlage des eigenen Seins und des eigenen Lebens zu verkaufen.
Der zentrale Gegensatz zur westlichen Auffassung von Leben zeigt sich in der Perspektive auf die Natur. In der jüdisch-christlichen Tradition wird der Mensch als Krone der Schöpfung und Herrscher über die Natur betrachtet. Diese Sichtweise setzt sich auch in der Moderne mit dem Glauben an Vernunft und technischem Fortschritt fort. Im Gegensatz dazu ist in der indigenen Kosmovision alles miteinander verbunden. Alles ist Teil des Ganzen, Mensch und Natur sind gleichberechtigte, aufeinander angewiesene Subjekte. Dieser Auffassung trägt die ecuadorianische Verfassung Rechnung, indem sie die Natur als Rechtssubjekt anerkennt und der Natur Rechte gibt. Von besonderer Bedeutung ist dabei, dass der Wert der Natur nicht durch eine Kosten-Nutzen-Rechnung erst bewiesen werden muss, sondern es wird der intrinsische Wert der Natur bejaht. Die Natur hat von sich aus ein Recht auf Existenz, auf Aufrechterhaltung und Wiederherstellung ihrer Kreisläufe.
Selbstverständlich sind die Diskussionen, die sich rund um die Anerkennung der Rechte der Natur ergeben, evident. Wie können diese Rechte durchgesetzt werden? Wer repräsentiert die Natur? Viele JuristInnen in Ecuador vertreten allerdings die Ansicht, dass es in Anbetracht der technischen Möglichkeiten, die Natur nicht nur zu beherrschen sondern sie auch zu zerstören, nicht so sehr um das „ob“ sondern vielmehr um das „wie“ gehen müsse: Wie können die Rechte der Natur wirksam durchgesetzt werden?
Eine andere Wirtschaft
Die Rechte der Natur wirken sich direkt auf die Art des Wirtschaftens aus. Die Natur einzig als Ressource zu betrachten, die zum gegenwärtigen Nutzen des Menschen ausgebeutet und ausgenutzt werden darf, ist im sumak kawsay nicht nachvollziehbar. Die indigene Mythologie geht von einem sich ergänzenden Dualismus aus. Mann und Frau bzw. das männliche und das weibliche Prinzip sind in alltäglichen und in rituellen Handlungen stets als Paar präsent. Diese allgegenwärtige Dualität symbolisiert die Differenz, aber auch den Respekt, die Liebe, die Gegenseitigkeit und die Gleichberechtigung in allen Beziehungen. Sie umfassen das gesamte Spektrum menschlichen, Komplementarität und Reziprozität geprägt. Diese Verbindung von Gegenseitigkeit und Ergänzung findet sich auch in der Konzeption von Wirtschaft wieder. Ein Wirtschaftssystem, das nur den eigenen Nutzen, den Wettbewerb und das Besser-Sein als der/die Andere zum Ziel hat, ist im sumak kawsay nicht vorstellbar. Auch wirtschaftliche Beziehungen dienen der Vorsorge und Fürsorge für alle. Diese Prinzipien sind im derzeitigen vorherrschenden Wirtschaftssystem sehr schwer zu verwirklichen. Deshalb geht das sumak kawsay, wenn es zu einer Lebensrealität für die Bevölkerung werden soll, nicht von Anpassungen und Reformen aus, sondern Handelns und sind von Solidarität von einer tiefgreifenden Änderung der Strukturen.
Differenz als konstituierendes Merkmal der Gesellschaft
In der Verfassung wird Ecuador als plurinationaler und interkultureller Staat definiert. Diese vehemente Forderung der indigenen Bewegungen baut auf der Existenz und der Diversität von kulturell, spirituell, sozial, ökonomisch und politisch unabhängigen Gruppen auf. Die Bezeichnung Plurinationalität erkennt die ecuadorianischen Realität an und stellt eine wichtige politische Aufwertung dar. Ziel ist jedoch, eine Gesellschaft aufzubauen, in der Differenz keine Möglichkeit für Über- oder Unterordnung darstellt, sondern ein wesentliches und bestimmendes Merkmal der Gesellschaft ist. Eine interkulturelle Gemeinschaft basiert nicht auf Homogenisierung und Anpassung sondern darauf, dass alle Gruppen eine Stimme im demokratischen Entscheidungsprozess haben und eine tatsächliche Partizipation möglich ist. Interkulturalität ist daher als Prozess und Werkzeug zu verstehen, um das Gemeinsame zu konstruieren.
Wenn wir uns nicht an unseren Träumen orientieren, woran dann?
Die Aufnahme der indigenen Kosmovision in die Verfassung wurde weit ĂĽber die Grenzen Ecuadors hinaus beachtet und hat die grundlegenden Diskussionen ĂĽber die Frage zum guten Leben mit neuen Inhalten belebt. Aus meiner Sicht besteht die ganz besondere Leistung des sumak kawsay in der Sichtbarmachung einer anderen Weltsicht und in der Einladung einen tiefgreifenden, radikalen Perspektivenwechsel zu versuchen.
Die Umsetzung des Leitprinzips der Verfassung gestaltet sich sehr schwierig. Inzwischen kritisieren viele ehemalige UnterstützerInnen des Präsidenten Correa seine an Eigeninteressen orientierte Vorgehensweise und seinen mangelnden politischen Willen, einen wirklichen systemverändernden Prozess durchzusetzen. Bei meinem Gespräch mit Mónica Chuji griffen wir auch diesen Punkt auf. Sie antwortete mir darauf, dass die Gefahr des Missbrauchs für eigene, machtpolitische Interessen wohl gegeben sei, dies aber nicht dem Konzept selber angelastet werden könne. Sie meinte: „Wenn wir uns nicht an unseren Utopien, an unseren Träumen orientieren, woran sollen wir uns dann halten?“
mehr darĂĽber: http://www.pfz.at/article1267.htm
Huanacuni stellt in seinem Text „Buen Vivir / Vivir bien. FilosofĂa, polĂticas, estrategias y experiencias regionales andinas“ klar, dass er mit Westen einen bestimmten Lebensstil meint, den er als individualistisch, konsumistisch, räuberisch, homogenisierend und unsensibel beschreibt, und nicht die BewohnerInnen einer bestimmten Region.
veröffentlicht in Talktogether Nr. 43/2013
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