Gespräch mit Zulphija aus Tschetschenien PDF Drucken E-Mail

Gespräch mit Zulphija aus Tschetschenien

„Eine Ausbildung gibt dir Selbstbewusstsein,
aber Freiheit bekommst du durch Bildung.“

TT: Wie lange lebst du schon in Österreich?

Zulphija: Im Mai wird es zehn Jahre. Ich bin 2003 vor dem Krieg in meinem Land geflohen. Damals war die Lage sehr schlimm. Jetzt ist die Situation zwar auch nicht viel besser geworden, aber es gibt nicht mehr diese offene Gewalt…

TT: Wie war es, als du in Österreich angekommen bist? War es schwierig für dich, Fuß zu fassen?

Zulphija: Ja natürlich war es schwierig, in ein Land zu kommen, wo alles fremd ist. Aber zehn Jahren Krieg, wenn du zehn Jahre lang in einem richtigen Krieg gelebt hast mit Bombenangriffen und allem, was dazu gehört, wenn du dann in ein Land kommst, wo es ruhig und friedlich ist, wird dir erst bewusst, wie schlimm der Krieg und wie wichtig der Frieden ist. Als ich nach Österreich gekommen bin, sprach ich kein einziges Wort Deutsch. Wir lebten mit damals zwei Kindern in einem Zimmer. Einerseits war das sehr hart, andererseits habe ich mich sicher gefühlt und ich hatte die Zuversicht, dass meine Kinder und ich hier eine Zukunft haben.

TT: Hast du lange auf Asyl warten müssen?

Zulphija: Das ist zum Glück relativ schnell gegangen. Nach acht Monaten habe ich den positiven Asylbescheid bekommen, dann habe ich noch zwei Monate in der Flüchtlingsunterkunft gewohnt. Nach einem Jahr war dann alles erledigt. Das war recht schnell im Vergleich zu heute, wo Leute oft fünf, sechs, sieben Jahre oder noch länger warten müssen.

TT: Hat es für dich auch einmal eine Zeit gegeben, wo du daran gezweifelt hast, hier eine Zukunft zu haben?

Zulphija: Ja natürlich, das gehört wohl auch dazu.

TT: War das in der Zeit, während du auf Asyl gewartet hast?

Zulphija: Nein, das war sogar nachher. Als ich auf Asylwerberin war, habe ich in einem Haus gewohnt, wo die Mehrzahl der Leute, die dort wohnten, aus Tschetschenien kam. Wenn du Menschen hast, mit denen du sprechen kannst, dann ist es leichter und du hast Hoffnung, wenn du siehst, dass die anderen Asyl bekommen. Es war schon Angst da, aber ich war zuversichtlich, dass ich auch als Flüchtling anerkannt werde. Als ich den Bescheid bekommen habe, dauerte es eine lange Zeit, bis mir das bewusst geworden ist, bis es bei mir angekommen ist, dass diese Sorge vorbei ist. Jetzt kam aber die Sorge: Wie geht es weiter? Ich war hochschwanger, als ich in Salzburg in eine Wohnung gezogen bin. Im Flüchtlingshaus hattest du immer jemand, der dir geholfen hat. Nun war niemand da und ich war auf mich allein gestellt. Ich hatte keine Freunde und ich habe niemanden gekannt. Ich konnte die Sprache nicht und musste von Null anfangen. Obwohl ich Russisch, Tschetschenisch und auch ein bisschen Latein kann, war es für mich am Anfang sehr schwer, die Sprache zu erlernen. Wenn du keine Freunde hast und niemanden kennst, fühlst du dich allein und einsam. Ich war einmal sogar so weit, dass ich mir gesagt habe, ich fahre trotz Krieg und Gefahr heim. Aber dann wurde mir klar, wenn ich die Sprache gelernt habe, dann werde ich auch Freunde und Arbeit finden. Nach ein paar Jahren ist mir das auch ganz gut gelungen, auch wenn ich die Sprache immer noch nicht so gut kann. Es ist schwierig, eine Fremdsprache zu erlernen, ich war dreißig Jahre alt, als ich her kam, und noch dazu hatte ich drei kleine Kindern, da hat man wenig Zeit und Ruhe, um zu lernen.

TT: Wie war das für dich, als du hier Arbeit gesucht hast?

Zulfphija: Ich war Geschichtelehrerin in der Hauptschule. Aber da ich ein realistischer Mensch bin, war mir klar, dass ich hier nicht als Lehrerin arbeiten können werde. Deshalb habe ich auch kein Problem gehabt, als Putzfrau in einem Haushalt anzufangen. Ich habe immer versucht, mich selber davon zu überzeugen, dass ich es schaffen werde, weiter zu kommen, wenn ich es wirklich will und mich bemühe. Aber dafür müsste ich die Kinder und alle Probleme zu Hause an die zweite Stelle stellen und nur an mich selber denken. Aber in einer Familie geht das nicht. Wenn du drei Kinder hast, kann ich nicht sagen, ich bin wichtiger und ihr müsst auf mich warten. Um weiter zu studieren braucht man viel Zeit und Kraft, und neben drei kleinen Kindern ist das schon sehr schwer. Ich hätte schon gerne eine Ausbildung gemacht, aber es war wichtiger für mich, Geld zu verdienen, damit ich die Wohnung bezahlen und Essen und Kleidung für meine Kinder kaufen kann. Ich wollte, dass meine Kinder bei allem mitmachen können wie alle anderen. Da gibt es einfach andere Prioritäten. Ich habe aber Selbstbewusstsein, weil ich weiß, dass ich es schaffen kann, wenn ich es will. Zurzeit sind aber meine Kinder und die Familie für mich einfach wichtiger.

TT: Du hast auch einmal in einem Kindergarten gearbeitet. Wie bist du dazu gekommen?

Zulfphija: Durch das Projekt MidA von Frau und Arbeit habe ich diese Stelle bekommen. Das war eine sehr schöne Zeit. Aber wenn du in einem Kindergarten arbeitest, reicht es nicht, gut Deutsch zu sprechen, sondern du musst die Sprache fehlerfrei und ohne Akzent beherrschen, weil du die Kinder erziehst und die Kinder nicht mit einer fehlerhaften Sprache auswachsen dürfen. Das hat zwar keiner so zu mir gesagt, aber ich habe das selber eingesehen.

Für mich ist jede Arbeit wertvoll. Ich habe meine jetzige Arbeit akzeptiert und bin damit zufrieden. Weißt du, was ich mir überlegt habe? Die Arbeit in der Schule, das war früher. Jetzt arbeite ich als Lagerarbeiterin. Auch hier habe ich Aufstiegsmöglichkeiten. Wenn ich in diesem Beruf weiterkommen will, muss ich natürlich auch die Sprache besser lernen, aber es muss nicht so perfekt sein wie in der Schule oder im Kindergarten. Die Kinder bemerken deinen Fehler sofort und weisen dich darauf hin. Sie möchten dich nicht beleidigen, sie sagen nur die Wahrheit.

TT: Wie sieht deine Arbeit als Lagerarbeiterin aus?

Zulphija: Du bekommst eine Liste mit den Nummern der Artikel, und die holst du aus dem Lager. Was mir vor allem an der 0Arbeit gefällt, dass die Atmosphäre gut ist. Die Leute sind sehr nett und vor unserem Chef muss man auch keine Angst haben. Wir sind imBetrieb alle per Du und ich fühle mich dort wohl. Als ich angefangen habe, dachte ich, die Arbeit ist nur für ein paar Monate und ich suche etwas anderes, was mir mehr entspricht, doch dann habe ich mich wohl gefühlt. Es gibt so viele Frauen, die solche Arbeiten machen, die Ausbildungen haben, von denen ich nur träumen kann. Am wichtigsten ist es, mit wem du arbeitest und dass das Arbeitsklima passt.

TT: Thema Frauentag: Wie wurde der Internationale Frauentag in deiner Heimat gefeiert?

Zulphija: In Tschetschenien wird diesem Tag viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt als in Österreich. Dieser Tag gehört neben Weihnachten oder Sylvester zu den wichtigsten Feiertagen. In der Schule bekam jede Lehrerin Geschenke, auf der Straße liefen immer viele Männer mit Blumensträußen herumund Parfums waren an diesem Tag ausverkauft. Bedeuten Blumen und Geschenke, dass es keine Unterdrückung gibt? Das natürlich nicht, aber sie bedeuten zumindest Aufmerksamkeit.

TT: In der Familie und in der Partnerschaft? Aber wie ist es in der Gesellschaft allgemein?

Zulphija: Welche Stellung die Frau in der Gesellschaft hat, hängt sehr stark von der Familie ab. Jede Familie hat eigene Regeln und Traditionen, unabhängig von Religion oder Nationalität, egal ob bei Russen oder Tschetschenen. Es gibt tschetschenische Frauen, die kein Wort sagen dürfen. Aber so bin ich nicht und mein Mann verlangt das auch nicht von mir. Wenn es Probleme gibt, besprechen wir alles an einem Tisch und versuchen, gemeinsam eine Lösung zu finden. Gleichberechtigung bedeutet für mich, mitreden zu können, denn das ist schon viel wert.

TT: Was sind deine Wünsche für die Frauen?

Zulphija: Ich wünschte, dass die Frauen weniger arbeiten müssen. Warum? Wenn eine Frau Kinder hat, braucht sie viel Zeit für die Familie und hat sie die doppelte Belastung. Wenn du einmal außer Haus bist, ist der ganze Tag schon weg, du musst die Kinder in den Kindergarten bringen oder in den Hort und du kannst nichts mit ihnen unternehmen. …also die bessere Vereinbarkeit von Beruf und Familie? Ja genau. Aber ich wünsche mir auch, dass die Männer mehr Geld verdienen, damit die Familie von dem Geld auch leben kann. Und dass die die Eltern ein bisschen mehr Zeit haben, für ihre Kinder da zu sein. Trotz des Wohlstands in der Gesellschaft gibt es viele Probleme, vor allem psychische Probleme. Wenn die Eltern keine Zeit haben, sich mit ihren Kindern zu beschäftigen, leiden die Beziehungen in den Familien. Was die Kinder etwas wollen, sprechen sie es deutlich aus, aber was sie wirklich brauchen und welche Bedürfnisse sie haben, das müssen die Eltern spüren und dafür braucht es Zeit.

TT: Was bedeutet für dich Integration?

Zulphija: Integration bedeutet für mich, dass ich mir mein Leben so einrichten kann, dass ich mich in dieser Gesellschaft wohlfühle. Ich muss die Spielregeln in der Gesellschaft kennenlernen und annehmen, wenn ich das nicht tue, bin ich auch respektlos gegenüber dieser Gesellschaft. Das bedeutet aber nicht, dass ich mich deswegen ändern muss. Das fällt aber Menschen, die keine Möglichkeit auf Bildung gehabt haben, sicher weniger leicht als dir… Natürlich. Ich denke, da müsste in Österreich noch viel mehr getan werden, um auch diesen Menschen Möglichkeiten zu bieten. Es sollte beispielsweise in den Deutschkursen nicht nur Grammatik und Vokabel unterrichtet werden, sondern die Menschen sollten auch mehr über die österreichische Kultur und Geschichte von Österreich erfahren, damit sie das Land kennenlernen, in dem sie leben.

TT: Wie ist die Stellung der Frauen im Islam? Du bist eine selbstbewusste und emanzipierte Frau und trägst kein Kopftuch. Wie wird das von deinem Umfeld wahrgenommen?

Zulphija: Das ist überhaupt kein Problem, weil wir in Tschetschenien früher nie solche Kopftücher getragen haben, wie sie zum Beispiel die Araberinnen tragen. Die Frauen trugen meist nur ein kleines symbolisches Kopftuch, und es ist für die tschetschenische Gesellschaft auch nichts Außergewöhnliches, wenn eine Frau keines trägt. Es gibt aber Frauen aus anderen islamischen Ländern, für die ich deshalb keine richtige Muslimin bin. Aber für mich ist nicht das Äußerliche, die Fassade, wichtig, sondern das, in einem Menschen drinnen steckt.

TT: Viele Europäer denken, im Islam sind die Frauen unterdrückt. Wie siehst du das?

Zulphija: Wie ich schon gesagt habe, hängt das sehr stark von der Familie ab und davon, welchen Mann du geheiratet hast. Ich finde, wenn eine Frau in der Ehe unglücklich ist, ist es besser, wenn sie sich von ihrem Mann trennt und sich scheiden lässt, denn eine Frau sollte sich nicht unterdrücken lassen.

TT: Man sieht muslimische Frauen oft als unterwürfige Wesen an. Woher nimmst du dieses Selbstbewusstsein?

Zulphija: Ich glaube, sie kennen Tschetschenien nicht. Bei uns haben alle eine Schule gemacht, fast 80 Prozent haben studiert. Wenn du lernst und liest, bekommst du Selbstbewusstsein. Aber wenn du nur zwei Jahre Volksschule hast und zuerst nur auf deinen Vater und dann auf deinen Mann hörst, ist deine Welt klein und du lebst in dieser kleinen Welt und kannst nicht nach draußen schauen. Das heißt, Bildung ist der Schlüssel? Ja, das sehe ich so. Und Ausbildung bedeutet Unabhängigkeit. Wenn du einen Beruf hast, kannst du dich scheiden lassen, wenn du in der Ehe unglücklich bist. Ist Ausbildung Teil der persönlichen Freiheit? Eine Ausbildung gibt dir Selbstbewusstsein, weil du weißt, dass du auch unabhängig von deinem Mann oder deiner Familie leben kannst, Freiheit aber bekommst du durch Bildung.

TT: Was sagst du zu Rassismus und Vorurteilen?

Zulphija: Dass es Menschen und Parteien mit unterschiedlichen Einstellungen gibt, finde ich ganz normal, das gibt es doch überall. Ich muss aber sagen, dass ich persönlich nur wenige schlechte Leute in Österreich kennengelernt habe. Die Menschen, mit denen ich zu tun habe, respektieren mich, so wie ich bin. Wenn ich mit den Leuten spreche, kann ich ihnen erklären, wie ich bin oder wie die Tschetschenen sind. Wie sind denn die Tschetschenen? Ganz normale Leute, wie alle anderen! Vorurteile können aber nur durch das Kennenlernen und Gespräche überwunden werden, denn dann erkennen die Menschen, dass ich auch nicht anders bin als sie.

veröffentlicht in Talktogether Nr. 43/2013