Bosnischer Frühling mit Protesten und Plena PDF Drucken E-Mail

Bosnischer Frühling mit Protesten und Plena

von Sabaha Sinanović

Die (süd-)osteuropäischen Staaten in der Transition (Systemwechsel vom „Sozialismus“ zur „Demokratie“) zeigen alle das gleiche Bild: kleine Cliquen von Oligarchen und Politikern plündern die Staaten aus, die breite Masse verarmt und Nationalismus, Korruption und Sündenbockpolitik entsolidarisieren die Bevölkerungsgruppen. Diese Art von Demokratie brachte ein Wirtschaftssystem mit, das die ArbeiterInnen ausbeutet, die Umwelt zerstört, ein Leben und Arbeiten verunmöglicht und die Menschen schutzlos den neuen Umständen und der Globalisierung überlässt.

In Tuzla, der ehemaligen Industriestadt in Nordostbosnien mit ca. 120.000 EinwohnerInnen, begannen am 5. Februar 2014 die massiven Proteste mit einer Demonstration mit ca. 3.000 TeilnehmerInnen, die sich rasch auf zahlreiche Städte Bosniens und der Herzegowina ausbreiteten. Die Menschen gingen auf die Straße, um auf ihre Unzufriedenheit mit dem politischen System und der tristen wirtschaftlichen Lage aufmerksam zu machen. Im Herzen Europas wird aber das Leid der einfachen Bevölkerung, egal welcher ethnischen oder religiösen Gruppe, ignoriert. Die friedlichen Proteste wurden von der Weltpresse nicht beachtet, bis die Bilder der brennenden Gebäude um die Welt gingen. Seit 20 Jahren ist der Krieg beendet (1995 wurde Bosnien und die Herzegowina mit dem Vertrag von Dayton als souveräner Staat mit zwei Entitäten international anerkannt), aber der Frust über die Korruption, die Arbeitslosigkeit und den Hunger sowie die immer krasser werdenden Unterschiede zwischen den Menschen, die Arbeit, und denen, die keine haben, wird täglich schlimmer.

Die Menschen möchten nicht mehr (ethnisch) getrennt werden und ums Überleben kämpfen müssen. Diese soziale Explosion, ja Revolution, ist neu für Bosnien und die Herzegowina. Viel zu lange sind die Menschen in einer Art kollektiver Nachkriegsdepression erstarrt, haben sich gegeneinander ausspielen lassen und dieses korrupte System ertragen, Babies und PensionistInnen vor Krankenhäusern sterben sehen, und sind endlos in den Schlangen vor den Suppenküchen gestanden. Die nationalistische Proporzpolitik hat den bosnischen Staat ausgeplündert, EU-Geld oder Investitionsgeld aus dem Ausland verschwindet und landet auf den Konten korrupter Politiker. Natürlich haben diese und ihre Günstlinge, die von diesem System einen Arbeitsplatz erhalten haben, kein Interesse an einer Veränderung des derzeitigen Zustandes. Weil die Bürgerinnen und Bürger Bosniens und der Herzegowina nicht mehr auf die Hilfe irgendwelcher Institutionen, Protektorate oder hoher Politikvertreter hoffen, haben sie sich selbst organisiert.

Einmalig ist diese Art der direkten Demokratie: Die Plena sind untereinander vernetzt und in Sektionen aufgeteilt, alle ethnischen Gruppen, Angehörige aller Religionen, arbeitende Menschen und Arbeitslose, Studierende und PensionistInnen sind vertreten. Auf dem Föderationsgebiet sind die BürgerInnenversammlungen in Tuzla, Sarajevo, Mostar, Bihac und Zenica und 20 weiteren Städten sehr aktiv. In der Republika Srpska sind die Proteste noch vereinzelt und nicht gut vernetzt, denn die Propagandamaschinerie suggeriert den Menschen dort, dass es den Protestierenden um die Zerstörung ihrer Teilrepublik geht.

Aber auch in den Nachbarländern schauen die Menschen auf das Beispiel in der Föderation und beginnen ebenfalls, sich zu organisieren. Der Nationalismus ernährt die Menschen nicht, und sie haben genug von leeren Versprechen und grausamen Heldentaten. Die Plena sind multiethnisch, gut organisiert und schlagen inhaltlich fundierte Lösungen vor, und das macht sie sehr stark! Und so hoffen wir auf die Parlamentswahlen im Oktober 2014, die Plena werden aktiv und wachsam bleiben und die Unzufriedenen auf den Straßen halten, bis alle in BiH lebenden Menschen Zugang zu Wohnen, Gesundheit, Arbeitsmarkt und Bildung erhalten, am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und ihr Leben selbst bestimmen können.

Die Erfolge der Proteste bis jetzt sind der Rücktritt von fünf Kantonsregierungen und fünf Premierministern. Das Plenum Sarajevo fordert neben dem Rücktritt der Regierung und der Einstellung aller Anklagen gegen die Protestierenden u.a. den sofortiger Stopp aller Privatisierungen sowie ein Rückgängigmachen bereits vollzogener Privatisierungen, die Anhebung und Angleichung der Renten an den durchschnittlichen Lohn, die Senkung der Mehrwertsteuer vor allem für Lebensgrundlagen, sowie die Einführung eines progressiven Steuersystems, so dass alle nach ihrem Einkommen gerecht besteuert werden.

Infos zu den Plena: http://bhplenum.info

veröffentlicht in Talktogether Nr. 48/2014