Gespräch mit Waltraud Krassnig
Lehrgangskoordinatorin des Bildungsprojekts Minerva
TT: Seit wann gibt es Minerva und wie ist das Projekt entstanden?
Waltraud: Das Bildungsprojekt Minerva wurde 2008 ins Leben gerufen und ist aus einem brennenden Bedürfnis heraus entstanden. Für die Jugendlichen im Clearinghouse gab es nämlich kein geeignetes Bildungsangebot. Sie konnten nicht zum AMS gehen – weil das nur die können, die bereits einen Aufenthaltsstatus haben – und alle anderen Kurse waren kostenpflichtig. Von der Grundversorgung des Landes werden wohl seit einigen Jahren für jeden Flüchtling 200 Unterrichtsstunden Deutsch bezahlt, aber die sind schnell verbraucht. Mit 200 Unterrichtseinheiten kommt jemand, der Lesen und Schreiben kann, das Lernen gewohnt ist und nicht in einer anderen Schrift alphabetisiert worden ist, ungefähr auf A1- Niveau. Seit langem gibt es zwar das Angebot der Hauptschule Nonntal, mit Abendkursen zum Externisten-Hauptschulabschluss zu kommen. Nur war dieses Angebot überhaupt nicht auf MigrantInnen ausgerichtet, so dass unsere Jugendlichen kaum Chancen hatten, mitzukommen. Dort wird nur der Stoff der achten Schulstufe durchgenommen, alles andere wird vorausgesetzt. Man muss also schon eine grundlegende Bildung und Sprachkenntnisse mitbringen, um dort einsteigen zu können. Von unseren Jugendlichen schaffte das kaum jemand. Vielen von denen, die zu uns kommen, fehlen nämlich nicht nur die Deutschkenntnisse, sondern beispielsweise auch Grundlagen im Rechnen, die sie in ihren Heimatländern nicht erwerben konnten.
TT: Wer ist der Träger des Projekts und wie wird es finanziert?
Waltraud: Die Idee dazu hatte Hans Svager, der damalige Leiter des SOS-Clearing-house. Es hat einige Zeit für Vorbereitungen gedauert, bis wir soweit waren, das Projekt über eine EU-Förderung einreichen zu können. Wir waren erfolgreich und das Projekt wurde vier Jahre lang jeweils zur Hälfte vom Europäischen Sozialfonds und vom Unterrichtsministerium finanziert. In dieser Periode arbeitete Minerva in einem Netzwerk mit der Volkshochschule und dem Jugendzentrum Iglu zusammen, diese Kooperation war eine Voraussetzung für die Förderung. Minerva übernahm den Vorbereitungslehrgang, die VHS organisierte den Hauptschulabschlusslehrgang und das Jugendzentrum Iglu flankierende Maßnahmen wie Lernhilfe oder interkulturelle Workshops.
Nachdem die Förderungsperiode abgelaufen war, mussten wir eine andere Finanzierungsmöglichkeit suchen, um das Projekt weiterführen zu können. Seit eineinhalb Jahren läuft das Projekt nun im Rahmen der Initiative Erwachsenenbildung – einer österreichweiten Initiative zur Förderung grundlegender Bildungsabschlüsse, und wird vom Land Salzburg und vom Bund gefördert. Der Kampf um die Finanzierung ist ein ständiger Bestandteil des Projekts.
Wir haben wohl hier im Haus seit Anbeginn Deutschkurse, die zur Hälfte von der Grundversorgung und zur Hälfte vom SOS-Kinderdorf finanziert werden, und die es immer noch gibt. Dort werden die Leute alphabetisiert, wenn es nötig ist, sie lernen Deutsch, aber auch Rechnen und wir vermitteln grundlegende Kenntnisse über Österreich, quasi einen niedrigschwelligen Zugang für alle, egal, welche Voraussetzungen sie haben. Die Leute steigen ein und aus – je nach Bedarf. Wer ins Clearinghouse kommt, nimmt schon am nächsten Tag am Unterricht teil. Natürlich kann man hier nicht so zielgerichtet unterrichten. Minerva ist dann die nächste Stufe. Für den Lehrgang werden zwei Gruppen zusammengestellt, die elf Monate lang zusammenarbeiten und gewisse Ziele anvisieren.
TT: Welche Zielsetzungen sind das?
Waltraud: Der offizielle Titel unseres Projektes lautet „Basisbildung und Vorbereitung auf den Einstieg in den externen Pflichtschulabschluss“. Das Ziel ist, dass die AbsolventInnen so gute Deutschkenntnisse erwerben, um damit in ein Hauptschulabschlussprogramm einsteigen zu können. Alle TeilnehmerInnen schließen, wenn sie aus Minerva herausgehen, mit dem österreichischen Sprachdiplom A2 (Grundstufe Deutsch 2) ab, ungefähr ein Viertel schafft auch die B1-Prüfung.
TT: Welche Voraussetzungen gibt es, um aufgenommen zu werden?
Waltraud: Die TeilnehmerInnen müssen bereits Lesen und Schreiben können, es muss zudem eine Existenzsicherung gegeben sein – entweder durch Mindestsicherung, die Eltern oder Grundversorgung –, weil wir keine Taggelder vergeben können. Der Kurs ist für die TeilnehmerInnen gratis, wir übernehmen auch Lehrmittel und Fahrtkosten, aber die Schüler und Schülerinnen müssen ja auch von etwas leben können.
TT: Wer ist eure Zielgruppe?
Waltraud: Unsere Zielgruppe sind Migrantinnen und Migranten im Alter von 15 bis 25 Jahren, die intensiv Deutsch lernen wollen und einen Basisbildungsbedarf haben. Also Leute, die geringe Deutschkenntnisse haben, nicht wissen, wie das Leben in Österreich funktioniert, die wenig Kenntnisse in Mathematik und Englisch haben. Wir haben aber auch TeilnehmerInnen, die in der Pflichtschule nicht reüssieren können, weil sie zu spät eingestiegen sind und dort keine ausreichende Förderung erhalten konnten.
Wir unterrichten Geschichte, Geographie und Biologie, Englischunterricht bieten wir nicht von Anfang an, sondern erst ab dem zweiten Drittel. Den Fächern können uns wir aber nur schwerpunktmäßig annähern. Im Moment wird zum Beispiel das Thema Wasser durchgenommen – immer vor dem Hintergrund des Deutschlernens und des Erwerbs eines Fachwortschatzes, der für den Hauptschulabschlusslehrgang benötigt wird. Außerdem machen wir Exkursionen und Stadtwanderungen, zum Beispiel in die Stadtbibliothek, die sich auch als Lern-ort anbietet. Das ist von Beginn an wichtig, da viele TeilnehmerInnen keinen ruhigen Platz zum Lernen haben.
TT: Welchen Status haben die TeilnehmerInnen?
Waltraud: Grundsätzlich können alle MigrantInnen kommen, Asylwerberinnen und Asylberechtigte, subsidiär Schutzberechtigte, MigrantInnen aus Drittstaaten aber auch EU-BürgerInnen. Der Zugang ist offen, wer will, kann sich bewerben. Es ist aber sehr schwierig, die Gruppen zusammenzustellen, weil es drei Mal so viele InteressentInnen gibt, als Plätze zur Verfügung stehen. Deshalb müssen wir leider viele BewerberInnen abweisen. Wir sind, soweit wir wissen, in Salzburg die einzige Einrichtung, die den intensiven Spracherwerb in Verbindung mit anderen Fächern, mit integrativen Inhalten, Lernen lernen und Sozialem Lernen über einen längeren Zeitraum anbietet. Weil der Bedarf auch ständig zunimmt, haben wir bereits Anträge gestellt, um die Zahl der Plätze zu vermehren, aber da wurde uns schon zu verstehen gegeben, dass das wahrscheinlich nicht möglich sein wird. Wir bieten auch sozialpädagogische Unterstützung an, und die Leute können mit ihren Problemen zu uns kommen. Es ist sehr wichtig, bei Problemen Hilfestellung zu leisten, um das Lernen zu erleichtern.
Einen großen Anteil unserer Tätigkeit nimmt auch die Bildungsberatung ein, damit die KursteilnehmerInnen wissen, welche Möglichkeiten sie im Anschluss haben und nach Abschluss des Lehrgangs nicht stecken bleiben. Wir unterstützen die TeilnehmerInnen auch dabei, einen Platz in einem Hauptschulabschlusskurs zu finden. Aber nicht alle wollen einen Hauptschulabschluss machen, und auch nicht alle schaffen es, so weit zu kommen. Dann versuchen wir, sie in eine Maßnahme weiterzuvermitteln, oder, sofern sie einen Aufenthaltsstatus haben, beim Einstieg in den Arbeitsmarkt zu unterstützen.
TT: Welche Möglichkeiten gibt es für AsylwerberInnen im Anschluss an Minerva?
Waltraud: Seit Herbst 2012 gibt sechs Externisten-Lehrgänge zur Erlangung des Hauptschulabschlusses, an der Volkshochschule, am BFI, beim Verein Einstieg und einen speziell für Frauen beim Verein VIELE, die für alle unabhängig von ihrem Status zugänglich sind. Das bedeutet einen gewaltigen Fortschritt. Dann gibt es noch die Möglichkeit über das AMS beim Verein Einstieg, aber nur für Personen mit Aufenthaltsstatus.
TT: Gibt es auch Schwierigkeiten und Hindernisse?
Waltraud: Jugendliche, die in einem Asylverfahren stecken, sind oft schweren Belastungen ausgesetzt. Es sind Phasen zu beobachten, meist nach einem negativen Bescheid, wenn eine Antwort auf ein Ansuchen erwartet wird oder wenn nichts weiter geht, wo die Motivation sinkt. Diesen Druck haben Asylberechtigte zwar nicht mehr, dafür kommt aber der Druck, Geld verdienen zu müssen, weil die Familie zu Hause auf Unterstützung wartet. Das ist für viele ein Hindernis, nach dem Hauptschulabschluss eine Lehre zu beginnen. Es kommt auch vor, dass Leute deshalb nach dem positiven Asylbescheid den Kurs abbrechen. Aber insgesamt haben wir nicht viele Abbrecher.
TT: Wie sehen die Chancen nach dem Hauptschulabschluss für die Jugendlichen aus? Habt ihr hier Erfahrungen?
Waltraud: Ja, sofern der Kontakt mit den ehemaligen TeilnehmerInnen aufrecht bleibt. Wir haben beobachtet, dass es für die meisten auch nach dem Hauptschulabschluss wichtig ist, weiterhin Begleitung zu haben, denn die Suche nach einer Lehrstelle gestaltet sich oft sehr schwierig.
Wir haben die Bildungsverläufe einiger ehemaliger Minerva-TeilnehmerInnen dokumentiert. Es gibt hier verschiedenste Biographien. Ein ehemaliger Teilnehmer zum Beispiel ist jetzt in einer weiterführenden Schule, steckt aber immer noch im Asylverfahren. Stellt euch vor, was mit solchen Leuten wäre, wenn sie keine Möglichkeiten hätten! Eine junge Dame, die in ihrem Heimatland keine Schule besucht und nur durch Familie und Freunde das Lesen und Schreiben gelernt hat, war sehr fleißig und eine sehr gute Schülerin. Während der Minerva-Ausbildung hat sie Asyl bekommen. Weil sie schon volljährig war, hat das Sozialamt großen Druck gemacht, dass sie arbeiten geht. Wir haben sie unterstützt, damit sie den Kurs fertig machen konnte. Sie hat dann eine ungelernte Erwerbstätigkeit begonnen und neben der Arbeit begonnen, den Hauptschulabschluss zu machen.
TT: Wie werden die Bildungsangebote angenommen und geschätzt?
Waltraud: Auch wenn es manche gibt, die so schnell wie möglich in einen Arbeitsprozess eintreten wollen, sind die meisten sehr interessiert und dankbar für die Angebote, weil sie diese Möglichkeiten in ihrem Herkunftsland nicht gehabt haben. Unsere Erfahrung ist aber, wenn jemand ganz ohne Schulbildung und ohne Alphabetisierung kommt, liegt der Hauptschulabschluss in nahezu unerreichbarer Ferne. Das wäre so, als wenn man zu Kindern sagen würde, so, du bist jetzt drei Jahre lang in die Schule gegangen, mach nun den Schulabschluss, dazu noch in einer fremden Unterrichtssprache.
Lesen und Schreiben zu lernen ist nicht der Fokus von Minerva, das passiert im internen Bildungsprogramm hier im Clearinghouse, Hier haben wir eine Kollegin, die auf die Alphabetisierung spezialisiert ist. Da der Bedarf dafür sehr schwankt, müssen wir mit unseren Angeboten sehr flexibel reagieren. Es gab Zeiten, da gab es eine ganze Gruppe von Jugendlichen, die an den Alphabetisierungskursen teilgenommen hat. Darunter waren auch einige, die noch schulpflichtig waren, doch die Schule hatte nicht die Kapazitäten, diese Aufgabe zu leisten. Deshalb sind wir eine Kooperation mit der Pflichtschule eingegangen, in der Form, dass ein Teil der Stunden in unserem Bildungsprogramm absolviert wurde Jetzt kommen sehr viele Flüchtlinge aus Syrien zu uns, da gibt es diesbezüglich kaum Bedarf.
TT: Wie läuft der Unterricht bei Minerva ab?
Waltraud: Wir machen nicht nur Frontalunterricht, sondern arbeiten wir auch viel in Form von Projekten und mit Erlebnispädagogik. Im Rahmen des Unterrichts geben wir eine SchülerInnenzeitung heraus, die erste Ausgabe ist kurz vor Weihnachten erschienen. Dabei lesen die SchülerInnen Zeitungen, um zu studieren, wie so eine Zeitung aufgebaut ist, verfassen Texte, führen Interviews, fotografieren, zeichnen Logos, danach schwärmen sie in Gruppen aus, um die Zeitungen zu verteilen, sie gehen also vielfältige Lernprozesse durch. Im Rahmen des Deutschlernens gibt es auch ein Theaterprojekt. Welche Methoden wir verwenden, hängt stark von den Ideen der Mitglieder unseres LehrerInnen-Teams ab, das sehr engagiert ist.
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