Alle Räder stehen still: Geschichte des Streiks
Schon lange vor dem Zeitalter Industrialisierung war die Arbeitsverweigerung als Mittel bekannt, um Forderungen durchzusetzen. Aus dem alten Ägypten sind mehrere Streiks überliefert. Weil es damals noch kein Geld gab, wurden die Arbeiter, die in den Steinbrüchen arbeiteten, die Königsgräber instand hielten, Steinschneidearbeiten verrichteten oder Grabwände bemalten, mit Getreide bezahlt. Der erste dokumentierte Streik der Geschichte fand 1159 v. C. in Deir el-Medineh statt, weil die Arbeiter die versprochenen Getreiderationen nicht bekommen hatten. Die Streikenden zogen in einem Protestmarsch zum Tempel des Königs und blieben dort den ganzen Tag sitzen. Die Ereignisse sind auf einem Papyrus überliefert, das heute im Ägyptischen Museum in Turin aufbewahrt wird. Darauf ist zu lesen: „Entgegengenommen die Klage der Arbeiterschaft durch den Schreiber Amennakhte: Heute sind zwanzig Tage im laufenden Monat vergangen und unsere Zuteilungen haben wir noch immer nicht erhalten.“
Die Streiks der Handwerksgesellen im Europa des 18. und frühen 19. Jahrhunderts trugen bereits viele jener Handlungselemente, ohne die die Arbeitskämpfe ohnmächtige Proteste geblieben wären: die Erklärung über die konkreten Ziele des Streiks, die an Konjunktur und Jahreszeit orientierte Planung und Organisation der Arbeitsniederlegung, die Koordination und Leitung von Massenaktionen, Strategien zur wirksamen Bekämpfung des Streikbruchs sowie die Anlage eines Fonds zur Unterstützung der Verdienstlosen. In der ersten Industrialisierungsphase erhoben Tausende Anspruch auf dieses Widerstands- und Verweigerungsrecht, zwischen der Jahrhundertwende und Ende des Ersten Weltkriegs waren es Millionen.
Aufstand der Handwerksgesellen in Hamburg 1791
Der Erste Mai 1886: Kampf für den Achtstundentag
„Acht Stunden Arbeit, acht Stunden Schlaf und acht Stunden Freizeit“ lautete die Forderung der Arbeiter, die in den Straßen in Chicago, New York, Philadelphia, Detroit und vielen anderen nordamerikanischen Städten marschierten. Am 1. Mai 1886 hatte in Chicago ein mehrtägiger von den Gewerkschaften organisierter Streik begonnen, um eine Reduzierung der täglichen Arbeitszeit von zwölf auf acht Stunden durchzusetzen. Er endete mit blutigen Unruhen und einem Massaker auf dem Chicagoer Haytmarket, nachdem die Polizei eingeschritten war, um eine Versammlung Streikender aufzulösen, und dabei sechs Arbeiter tötete und mehrere verletzte. Der Ruf nach Verkürzung der Arbeitszeit konnte aber trotzdem nicht zum Verstummen gebracht werden, solange bis der Achtstundentag in den meisten Industrieländern durchgesetzt und gesetzlich festgeschrieben worden war. 1889 erklärte die Sozialistische Internationale den Ersten Mai zum Internationalen Kampftag für den Achtstundentag, der seit 1890 jedes Jahr in Erinnerung an die Ereignisse in Chicago weltweit mit Feiern und Demonstrationen begangen wird.
Haymarket Chicago, Mai 1886
Der „Sitdown Strike“ in Flint, Michigan 1936:
In den USA verloren während der Großen Depression in den 1930er Jahren Millionen Menschen ihre Arbeit und zahlreiche Familien wurden obdachlos. Wer noch Arbeit hatte, war meist gezwungen, Lohnkürzungen und schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren. Gewerkschaftsarbeit war in dieser Zeit eine gefährliche Angelegenheit. Der Polizeichef, der Richter, der Bürgermeister und auch die einzige Zeitung von Flint waren so gut wie in den Händen des Konzerns. Außerdem beschäftigte der Konzern eigene Spione und Schlägertrupps und sogar Auftragskiller der Mafia.
Deshalb schlossen sich die Arbeiter von General Motors 1936 zusammen, um sich zu wehren und diese Zustände zu beseitigen. Als sie bemerkten, dass das Unternehmen plante, die Fabrik abzubauen, besetzten sie blitzartig die gesamte Anlage und sorgten dafür, dass keine Maschinen abtransportiert werden konnten. Die Frauen organisierten Essen und bewaffneten sich mit Stöcken, um die Streikposten zu unterstützen, während Angehörige und Freunde der Fabrikbesetzer Lebensmittel von Kleinbauern aus der Umgebung organisierten. Mit dieser Fabrikbesetzung lösten die Arbeiter von Flint eine Streikwelle aus, die bald die gesamte US-amerikanische Autoindustrie erfasste und mit einem gigantischen Sieg – der Durchsetzung von Gewerkschaftsrechten in der Autoindustrie – endete.
United Auto Workers Sit Down Strike, Flint MI 1936 (Walter P. Reuther Library)
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Streiks in Österreich
Ab 1820 hielt die Dampfmaschine auch in den Wirtschaftszentren der Habsburgermonarchie ihren Einzug. Die Maschine ersetzte viele Arbeitskräfte und trieb viele kleine Handwerksunternehmen in den Ruin. Die Arbeitslosen standen um Arbeit bettelnd vor den Fabriken. Dort wurde bis zu 16 Stunden täglich gearbeitet und die Löhne waren so niedrig, dass die Arbeiter auch ihre Frauen und Kinder in die Fabrik schicken mussten. Die Kinder, die keine Arbeit hatten, mussten auf ihre kleineren Geschwister aufpassen, so dass ein Schulbesuch für Arbeiterkinder unmöglich war. Arbeitervereine waren verboten.
Wenn sich die Arbeiter als gleichberechtigte Menschen entwickeln sollten, mussten sie Lesen und Schreiben lernen. Das Verbot von Arbeitervereinen und Gewerkschaften ließ sich bald nicht mehr aufrechterhalten: 1867 konnte das Recht auf Bildung von Arbeiterbildungsvereinen durchsetzt werden und 1870 wurde das Koalitionsverbot aufgehoben, weil die Obrigkeit Angst vor einer Radikalisierung der Arbeiterschaft hatte. In den folgenden Jahren begannen die Arbeiter und Arbeiterinnen, sich in Gewerkschaften zu organisieren. Die Folge waren zahlreiche Streikkämpfe, darunter die Massenstreiks für das allgemeine Wahlrecht, die Teuerungsdemonstrationen von 1911 und die riesigen Aufstände während des Ersten Weltkriegs, die im Jännerstreik 1918 gipfelten.
Jänner 1918: Streik für Frieden und Brot
Die größte Streikaktion in der österreichischen Geschichte wurde durch Nahrungsmittelknappheit und Kriegsmüdigkeit ausgelöst. In den Daimler-Motorenwerken in Wiener Neustadt legte die Belegschaft am 14. Jänner 1918 die Arbeit nieder, als sie von der 50-prozentigen Kürzung der Mehlrationen für die Arbeiter erfuhr. In Windeseile breitete sich der Streik auf alle Industriegebiete Österreich-Ungarns aus. Nach russischem Vorbild wurde eine überbetriebliche Streikleitung gewählt und damit hatte die Arbeiterrätebewegung in Österreich begonnen. Am 19. Jänner befanden sich in der gesamten Habsburgermonarchie 750.000 Arbeiter im Ausstand.
Der Jännerstreik war ein durch und durch politischer Streik, der die Beendigung des Krieges beschleunigte. In der Folge weigerten sich die Soldaten an der Ostfront, weiter zu kämpfen, und verbrüderten sich mit ihren russischen Kameraden. Im Februar kam es zum Aufstand der Matrosen in Cattaro (Kotor), dessen Ziele von den Prinzipien der Oktoberrevolution in Russland beeinflusst waren, nämlich Frieden ohne Annexionen und Selbstbestimmungsrecht der Völker bis hin zum Recht auf Bildung unabhängiger Staaten. In den folgenden Monaten kam es wieder Streiks und Meutereien in der Armee, Soldatenräte wurden gegründet. Schließlich verlor Österreich-Ungarn den Krieg und die Monarchie zerfiel unter dem Druck der Unabhängigkeitsbestrebungen der Nationen und Völker.
Wiener Neustadt, November 1917 (Bild: Industrieviertelmuseum W.N.)
Der Oktoberstreik 1950
Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs lagen die Lasten des Wiederaufbaus sehr einseitig auf den Schultern der Arbeiterklasse. Während unmittelbar nach dem Krieg die Versorgung mit Lebensmitteln im Vordergrund stand, lag 1950 die Produktion schon mit 142 Prozent über dem Vorkriegsstand, während die Löhne noch weit unter dem Vorkriegsniveau lagen.
Der Sturm brach aus, als die Einzelheiten des vierten Lohn-Preis-Abkommens bekannt wurden, welches in Geheimverhandlungen von Regierungs-, Kammer- und Gewerkschaftsvertretern ausgehandelt worden war. Der Pakt sah drastische Preiserhöhungen für Lebensmittel, Strom und Verkehrstarife mit bis zu 64 Prozent vor, was einer nur zehn- bis vierzehnprozentigen Erhöhung der Löhne entgegenstand. Der Streik nahm seinen Ausgang in der amerikanischen Besatzungszone, in der VOEST-Linz, in Großbetrieben wie Steyr, Voith und der Großbaustelle Kaprun. Von hier breitete er sich nach Wien, Niederösterreich, die Steiermark bis nach Vorarlberg aus. Insgesamt streikten an die 200.000 ArbeiterInnen gleichzeitig, noch mehr nahmen an Demonstrationen und Protestaktionen teil.
Die Behörden gingen jedoch mit Waffengewalt gegen die streikenden Arbeiter vor. Schließlich schickte die Bau- und Holzarbeitergewerkschaft unter der Führung von Franz Olah Schlägertrupps aus, um die Arbeiter am Weiterstreiken zu hindern. Die Folge war, dass an die 1000 Arbeiter gekündigt, zahlreiche Betriebsräte entlassen und insgesamt 85 Mitglieder aus den Landesgremien des ÖGB ausgeschlossen wurden. Die Niederschlagung des Oktoberstreiks ermöglichte nicht nur die Durchsetzung des vierten Lohn-Preis-Abkommens, sondern in der Folge auch die Einführung der „Sozialpartnerschaft“, die fortan die ÖGB-Politik prägte und das Ziel hatte, Interessensgegensätze zwischen ArbeiterInnen und Unternehmen im Konsens zu lösen.
Streiks und Gewerkschaften
Es gibt die unterschiedlichsten Formen von Streik. Meist streiken die Angehörigen einer bestimmten Branche, um ihre Forderungen nach besseren Arbeitsbedingungen, einer Herabsetzung der Arbeitszeit und höheren Lohn durchzusetzen. Es gibt jedoch auch Generalstreiks, bei denen Menschen, die in den verschiedensten Berufen arbeiten in den Ausstand treten, um politische Forderungen durchzusetzen. In Indien etwa geschieht das häufig durch einen „Bandh“ (Hindi: geschlossen), wo nicht nur Arbeiter und Beamte streiken, sondern auch alle Geschäfte geschlossen bleiben. Streiks und Bandhs sind in Indien sehr häufig, in Westbengalen gibt es durchschnittlich 40-50 Bandhs im Jahr.
Während das Recht, sich in Gewerkschaften zu organisieren, hart erkämpft werden musste und ein wichtiger Schritt für die Arbeiterklasse war, als Verhandlungspartner auf Augenhöhe respektiert zu werden, sehen wir aber auch, dass Gewerkschaften oft als Bremse eingesetzt wurden und werden, um die Forderungen der Arbeiter zu mäßigen. Gewerkschaften agieren heute außerdem meist nach einer betriebswirtschaftlichen Logik. Doch gerade die Drohung von Betriebsschließungen zeigt uns, wie notwendig es ist, den Blick auch über die Perspektive des Standortes und der Branche hinaus zu richten.
Wenn die ArbeiterInnen den Eindruck, haben, dass Gewerkschaften nicht ihre Interessen vertreten und mit dem Staat oder den Unternehmen zusammenarbeiten, sehen sie sich gezwungen, sich selbst zu organisieren und Streiks ohne Zustimmung der Gewerkschaften durchzuführen. Der größte sogenannte „Wilde Streik“ Europas fand im Mai 1968 in Frankreich statt. Nach den Unruhen, die durch die Studentenproteste ausgelöst worden waren, kam es zu einem Generalstreik, der das ganze Land lahmlegte. Langfristig zog diese Revolte kulturelle, politische und ökonomische Reformen in Frankreich nach sich.
Aber auch die Lohnstreiks in China 2010 – u.a. in der Autoindustrie und in der Elektronikindustrie – wurden spontan und ohne gewerkschaftliche Beteiligung durchgeführt. Mit dieser Streikwelle konnten die chinesischen Arbeiter und Arbeiterinnen teils sehr beachtliche Lohnerhöhungen durchsetzen. Das beunruhigte westliche Investoren, die um ihre hohen Profite fürchteten, die ihnen die niedrigen Löhne in China ermöglichen. Auch die Bergarbeiterstreiks in Südafrika 2012 fanden ohne Unterstützung der offiziellen Gewerkschaft statt, weil sich diese weigerte, sich gegen die Regierungspartei ANC zu stellen und für angemessene Lohnerhöhungen einzutreten. Aufmerksamkeit in den internationalen Medien erhielt dieser Arbeitskampf durch ein blutiges Massaker im August 2012, als die Polizei auf die streikenden Arbeiter der Platinmine in Marikana schoss und 34 Menschen tötete und viele verwundete.
Weil die Schließung ihres Standortes droht, legten Beschäftigte des Bochumer Opelwerks, die das Vertrauen in die Betriebsräten verloren hatten, im September 2013 die Arbeit spontan nieder und blockierten die Produktion sieben Tage lang. Zitat eines Streikaktivisten: „Nach so vielen Standortsicherungsvereinbarungen, auf denen Verzicht unsererseits ohne vertragliche Gegenleistung festgeschrieben wurde, würde ich am liebsten sagen: Es gibt keinen Verzicht mehr, wir haben genug verzichtet!“
Veröffentlicht in: Talktogether Nr. 48/2014
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