Nordirak/Syrien: Gespräch mit Bassam Sido und Jijo Jamil PDF Drucken E-Mail

Diese Waffenlieferungen helfen uns nicht

Gespräch mit den jesidischen Kurden Bassam Sido und Jijo Jamil

„Die Menschen wollen nicht mehr zurück. Sie fragen sich: Wer kann dort für unsere Sicherheit garantieren? Der Krieg kann noch jahrelang dauern, wie können unsere Leute so lange als Flüchtlinge auf der Straße leben?“ 72 Vernichtungskriege haben die Jesiden im Laufe der Jahrhunderte überlebt, erzählt Bassam Sido aus Syrien. Sollte dieser 73. Vernichtungskrieg im Jahr 2014 die Kultur in ihrem Entstehungsgebiet auslöschen?

Bassam kam vor 12 Jahren als Flüchtling nach Österreich und hat in der Zwischenzeit die österreichische Staatsbürgerschaft erworben. Wie die meisten Jesiden in Europa ist er vor den Übergriffen fanatischer Islamisten geflüchtet. Besonders schlimm ist es geworden, als vor ein paar Jahren eine Organisation aufkam, die sich damals ISIS nannte, was so viel wie Islamischer Staat im Irak und in Syrien bedeutet. Diese versucht, mit Gewalt in Syrien und im Irak einen Staat zu etablieren und den Menschen ihre Gesetze mit Gewalt aufzuzwingen. Andere Religionen und Meinungen werden von ihnen nicht akzeptiert

Im Irak leben circa 600.000 Jesiden, die meisten davon in den Bergen von Shingal. Am 3. August wurden ihre Dörfer angegriffen. Obwohl Soldaten der kurdischen Peschmerga in der Region stationiert gewesen seien, haben diese sich zurückgezogen und die Menschen allein gelassen. Die unbewaffneten Jesiden seien eine Woche lang belagert und vor die Wahl gestellt worden, entweder zum Islam zu konvertieren oder zu sterben. „Die Jesiden wollen aber weder sterben, noch ihre Religion aufgeben“, betont Bassam.

Nach der Belagerung haben die IS-Milizen alle Männer erschossen und Frauen und Kinder mitgenommen. Die Frauen seien vergewaltigt und danach sogar in Mossul auf der Straße um 120 Dinar – nicht einmal 3 Euro – verkauft worden, erzählt Bassam. Nach dem Massaker setzte eine Massenflucht ein. Bassam „Jeder, der konnte, nahm Kinder, alte und kranke Menschen mit. Unter den Flüchtlingen waren auch schwangere Frauen, die ihre Kinder auf der Flucht zur Welt bringen mussten. Zehntausende haben es auf den Sinjar Berg geschafft, wo es jedoch weder Essen noch Wasser gibt, so dass viele starben. Viele mussten sogar ihre toten Kinder mit bloßen Händen in der Erde begraben.“

Schließlich sicherten PKK-Kämpfer den Flüchtenden einen Korridor, so dass sich die Überlebenden ins Autonome Kurdistan, nach Syrien oder in die Türkei retten konnten. Doch die Menschen haben all ihren Besitz hinter sich gelassen und viele müssen nun auf der Straße schlafen.

Unter den Flüchtlingen befinden sich auch die Frau und die Kinder von Jijo Jamil aus Sinjar im Irak. Früher besaß Jamil eine Firma, die einen Steinbruch betrieb und Baumaterial nach Kurdistan und Bagdad geliefert hatte. Doch dann wurde einer seiner LKW-Fahrer von den Terroristen entführt und seine Familie mit einer Lösegeldforderung konfrontiert. Obwohl die Familie das Geld bezahlte, sah sie denn Mann nie wieder.

Jamil wurde erpresst, Schutzgeld zu bezahlen. Die Bedrohungen nahmen immer mehr zu, bis es schließlich unmöglich geworden war, die Firma weiterzuführen, erzählt Jamil. Vor vier Jahren habe er sich schweren Herzens entschlossen, alles aufzugeben und nach Europa zu fliehen. Doch in Österreich wurde sein Asylantrag in erster Instanz abgelehnt und Jamil ist nun gezwungen, auf eine weitere Entscheidung zu warten. Doch das Warten fällt ihm angesichts der prekären Situation, in der sich seine Familie befindet, immer schwerer.

Seiner Familie in der Not nicht helfen zu können, ist für Jamil so unerträglich, dass er nicht mehr schlafen und essen kann. „Meine Frau und meine Kinder leben auf der Straße und haben nichts zu Essen. Am schlimmsten ist, dass meine jüngste Tochter krank ist und dringend ärztliche Behandlung benötigt. Sie hat Nierensteine. Gerade da wäre es wichtig, viel zu trinken, aber es gibt kaum Trinkwasser. Jedes Mal, wenn ich mit ihr telefoniere, weint sie, weil sie solche Schmerzen hat.“

„Wir brauchen keine Waffen, sondern Schutz“

Die Waffenlieferungen an die Peschmerga, die Deutschland beschlossen hat, hält Bassam für keine Lösung des Problems. Sie hätten auch schon vorher viele Waffen gehabt, die Verfolgten aber trotzdem im Stich gelassen. Seiner Meinung nach gehe es ihnen nur darum, die eigenen Gebiete zu verteidigen, aber nicht, gegen die IS vorzugehen. Auch dass die USA die IS-Milizen ernsthaft bekämpfen wolle, glaubt er nicht. „Das einzige, was wir von Deutschland, Österreich und allen europäischen Staaten erwarten, ist, dass sie die Flüchtlinge nach Europa holen. Wir können nicht mehr zurück. Diese Menschen respektieren uns nicht. Sie nennen uns Ungläubige und Teufelsanbeter. Sie wollen einfach nicht, dass wir dort leben. Wir wissen nicht wohin. Wer will uns, wer schützt uns?“

Die PKK bzw. deren syrischer Flügel YPG sind die einzigen, denen Bassam Vertrauen schenkt. Diese werden aber von den Europäern und Amerikanern als Terroristen abgestempelt. In Bassams Augen dagegen ist Abdullah Öcalan ein demokratischer Mann, der die Vision von einem kurdischen Staat hat, in dem alle zusammenleben können, egal welche Religion sie haben.

Die Organisation Islamischer Staat (IS) hat sich im Kampf gegen die syrische Regierung formiert. Die Leute, die dort kämpfen, kommen aus verschiedenen Ländern, auch aus Europa. Dass Geld aus arabischen Ländern wie Qatar und Saudiarabien an sie geflossen ist, gilt heute als nachgewiesen, ebenso, dass Waffen von der Türkei über die Grenze nach Syrien geschmuggelt worden sind. Deshalb versteht Bassam nicht, warum es der kurdische Führer Abdullah Öcalan ist, der im Gefängnis sitzt und dessen Organisation auf der Terrorliste steht.

Durch die Dörfer an der Grenze werden freiwillige IS-Kämpfer über die Türkei nach Syrien und in den Irak eingeschleust, Kosten für Reise und Ausbildung übernehme eine in der Türkei gegründete angebliche Hilfsorganisation, so Bassam. Gefangengenommene IS Kämpfer hätten nämlich ausgesagt, dass sie in der Türkei ausgebildet worden seien und türkische Polizisten ihnen beim Grenzübergang geholfen hätten. In der Türkei habe es auch Proteste der Bevölkerung in der Grenzregion gegen die Einschleusung von Terroristen gegeben.

Zuflucht Rojava

Die Stadt Mossul, die zweitgrößte Stadt im Irak, sei der IS vom Bürgermeister und den zuständigen Behörden ohne Gegenwehr einfach übergeben worden, ist Bassam überzeugt, mit all den modernen Waffen, mit denen die irakische Armee von den USA ausgerüstet worden war. „Nachdem sie Mossul übernommen haben, begann die IS, kurdische Gebiete anzugreifen.“Die Hälfte ihrer Leute habe die IS nach Syrien geschickt. Dort verteidigt nämlich die YPG – kurdische Volkseinheiten, die der PKK nahestehen – die Grenzregion gegen Angriffe sowohl der Assad-Regierung als auch islamischer Terrorgruppen. Die Region, genannt Rojava, steht de facto unter kurdischer Kontrolle und beherbergt Angehörige verschiedener Religionen und Nationen, die hier Schutz gefunden haben.

Wenn immer es IS Milizen gelingt, in die kurdischen Gebiete einzudringen, rauben sie Frauen und Kinder, um sie den Jihadisten für ihre Bedürfnisse zu übergeben, die ihre Frauen hinter sich gelassen haben. Dann würden sie den Leuten ihren ganzen Besitz wegnehmen, weiß Bassam zu berichten. „Es sind Verbrecher, die sich hinter dem Namen der Religion verstecken. Ich verstehe nicht, warum sie so viel Zulauf und Unterstützung bekommen.“

Auch in Europa würden sie sich Leute darauf vorbereiten, um im Syrien und im Irak in den Krieg zu ziehen. Jesidische Organisationen seien in Österreich schon mehrmals durch sie bedroht worden. Bassam habe zu Beginn der Katastrophe in Shingal in Hannover auf einer Demonstration teilgenommen, die von IS Unterstützern angegriffen wurde. „Sie haben uns als Ungläubige und Teufelsanbeter beschimpft. Ich bedanke mich bei der deutschen Polizei, dass sie alle festgenommen hat. Diese Leute sind eine Gefahr für alle Menschen, denn sie haben nur Tod und Sterben im Kopf.“

„Auch in Syrien sind Tausende unschuldige Menschen gestorben, nur weil sie Jesiden waren“, erzählt Bassam weiter: „Damals waren ihre Dörfer noch nicht unter kurdischer Kontrolle, weil die YPG noch nicht so stark war. Wir waren 50.000 Jesiden in Syrien, jetzt sind es nur mehr 3000-4000. Alle anderen sind nach Europa geflüchtet. Die Leute wollen ihre Kinder in Sicherheit bringen. Alle Familien, die etwas hatten, haben ihr Land und ihren Besitz verkauft oder Schulden gemacht, nur um aus Syrien heraus zu kommen. Sie wollen endlich in einem ruhigen und sicheren Land leben.“

Der Glaube der Jesiden

Die Jesiden, deren Sprache Kurdisch ist, sehen ihre Religion als den ältesten Eingottglauben an. „Unsere Religion ist 6000 Jahre alt und entstand schon vor dem Judentum, dem Christentum und dem Islam. Wir respektieren die anderen Religionen und wollen in Frieden mit den anderen Menschen zusammenleben“, erklärt Bassam. „Ezi oder Ezda ist der Name Gottes und bedeutet, der, der sich selbst erschaffen hat, und als Jesiden bezeichnet man diejenigen, die von Gott erschaffen worden sind, also uns Menschen. Außerdem glauben wir an sieben Engel, wobei Taus Melek der höchste der Engel ist und oft als Pfau dargestellt wird.“

Das größte Heiligtum der Jesiden ist in der Stadt Lalisch im Nordirak, wo sich ein Tempel befindet. Zwei Mal im Jahr gehen alle Jesiden, die sich das leisten können, dorthin auf Pilgerfahrt. Es gibt verschiedene Feste, die berühmtesten sind das Ezi Fest im Dezember, vor dem drei Tage lang gefastet wird, und der Rote Mittwoch im März. Die meisten Jesiden leben in der Nähe von Lalisch. Doch auch außerhalb von Lalisch gibt es verschiedene Tempel, meist Grabstädten von heiligen Männern. Die meisten Tempel, die sich außerhalb des kurdischen Autonomiegebietes befinden, sind jedoch von den IS-Milizen zerstört worden und kein Stein ist über dem anderem geblieben.

Die Unterdrückung der Jesiden begann im Osmanischen Reich. Weil ihre Religion nicht wie das Christentum und das Judentum als „Buchreligion“ anerkannt wurde, gab es immer wieder Versuche, die Angehörigen dieser Religion mit Zwang zu bekehren. Viele sind aus Angst zum Islam übergetreten, haben ihre kurdische Sprache weiter gesprochen. Manche sind in den Kaukasus geflüchtet, aber es gab auch andere, die Widerstand geleistet und sich in die Berge zurückgezogen haben.

Bassam erzählt: „Die meisten Einheimischen dort lebten als Bauern wie vor hundert Jahren. Sie hatten keine Elektrizität und verwendeten noch Petroleumlampen, es gab weder Wasserleitungen noch Kanalisation. Die Terroristen sind mit Kanonenwerfern in die Dörfer eingedrungen und haben auf alles geschossen, was sich bewegt hat, ohne zu wissen, ob sie damit ein Kind, eine Frau oder einen alten Mann treffen. Danach haben sie sogar die Tiere lebendig verbrannt. Auch die Knochen von Scheich Adi haben sie aus dem Grab genommen und verbrannt. Ich verstehe nicht, warum sie so einen Hass auf uns haben. Wir glauben doch auch an Gott und an ein Paradies. Wir lernen auch in unserer Religion, dass wir niemandem etwas Schlechtes antun dürfen und Respekt vor anderen haben müssen, egal ob sie Juden, Christen oder Muslime sind. Warum respektieren sie uns nicht?“

Dass Menschen, die vor dem Terror und der Verfolgung geflohen sind, Asyl verweigert wird, ist für Bassam unverständlich. Deshalb appelliert er an die österreichischen Behörden, angesichts der Flüchtlingskatastrophe im Nordirak, Jesiden als Angehörige einer verfolgten Minderheit Schutz zu gewähren.

veröffentlicht in Talktogether Nr. 49/2014

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