Arbeit finden und nicht länger betteln müssen
Gespräch mit Samir und Alina vom Verein Phurdo
Jeden Tag brechen sie um sechs Uhr in der Früh auf vom meist überfüllten Container auf dem Park & Ride Parkplatz in der Alpenstraße, wo sie die Nacht verbracht haben, und machen sich auf den Fußmarsch in die Altstadt. Auch wenn sie mit dem Betteln oft nur ein paar Euro pro Tag einnehmen, ist das immer noch mehr, als sie in ihrer Heimat Rumänien verdienen könnten. In einem Land, in dem die meisten Menschen nur zwischen 200 und 300 Euro im Monat verdienen und die Preise fast so hoch sind wie in Österreich, ist es sehr schwer, eine Familie zu ernähren. In manchen ländlichen Gebieten sind bis zu 90 Prozent der Menschen arbeitslos. Erschwerend kommt die Diskriminierung hinzu, weshalb Angehörige der Volksgruppe der Roma kaum eine Chance haben, Arbeit zu bekommen.
„Es ist mir peinlich, auf der Straße zu sitzen“
Wenn die Situation nicht so aussichtslos wäre und es für ihn irgendeine andere Möglichkeit gäbe, Geld zu verdienen, würde er nicht nach Salzburg kommen um hier zu betteln, sagt der 18-jährige Samir. „Auch wenn mir bewusst war, was mich hier erwarten würde, ist es mir peinlich, auf der Straße zu sitzen, und ich fühle mich sehr schlecht dabei.“ Wenn er darüber redet, sieht man ihm an, wie depressiv ihn seine Lage macht.
In dem Dorf in Rumänien, aus dem er stammt, wohnen die Leute in kleinen Häusern, die sehr undicht sind und bei Regen jedes Mal überschwemmt werden, da ihre Siedlung in der Nähe eines Flusses liegt. Zu Hause hat Samir drei Geschwister und seine Mutter, der es gesundheitlich nicht gut geht. „Wir legen das Geld, das wir hier einnehmen, als Familie zusammen und schicken es der Mutter nach Hause, damit sie die Kosten für ihre Behandlung im Krankenhaus bezahlen kann“, sagt Samir, „und wenn Freunde von uns nach Rumänien fahren, geben wir es ihnen mit.“
Schon seit Jänner 2014 ist Samir mit Unterbrechungen in Salzburg. Das erste Mal ist er allein gekommen, dieses Mal hat er sich zusammen mit seinem Vater und ein paar Bekannten auf die Reise gemacht. In der Zwischenzeit war er zu Hause und zu Ostern in Frankreich, um seinen Vater ins Krankenhaus zu begleiten, wo dieser operiert wurde. Samirs Vater hat nämlich in Frankreich viele Jahre auf Baustellen gearbeitet, bis er vor zwei Jahren einen schweren Arbeitsunfall hatte, bei dem Teile seines Gesichts und des Schädels zertrümmert wurden. Weil ihn die Firma nicht angemeldet hatte, wurde ihm jedoch keine Entschädigung ausbezahlt. Er musste mehrere Operationen über sich ergehen lassen, wobei ihm Implantate eingesetzt werden mussten, die Kosten für eine Folgeoperation, die dringend nötig wäre, belaufen sich auf ca. 4000 Euro.
Samir hat schon Vieles versucht und Erfahrungen bei den verschiedensten Arbeiten gesammelt. In Rumänien hat er gemeinsam mit seinem Vater mit einem Pferdewagen Holz aus dem Wald geholt. Doch weil das illegal war und aus Angst vor der Polizei, haben sie diese Tätigkeit aufgegeben. Nach dem Schulabschluss versuchte Samir, in Frankreich Fuß zu fassen und hat dort Sperrmüll gesammelt. Doch auch in Frankreich ist die Situation schwierig. Um ein Dach über dem Kopf zu haben, bleibt den Leuten nur die Möglichkeit, sich im Wald Hütten zu bauen. Diese werden jedoch von der Polizei immer wieder niedergerissen und die Bewohner_innen vertrieben. In Wien hat Samir dann versucht, Straßenzeitungen zu verkaufen, das habe aber nicht so gut funktioniert. Gebettelt hat er das erste Mal in Salzburg.
„Fast alle haben Angehörige in Rumänien, die sie mit dem Geld unterstützen, das sie durch das Betteln einnehmen“, erzählt Alina, die früher ehrenamtlich in der Notschlafstelle der Caritas gearbeitet hat und Samir schon seit Jänner kennt. „Die meisten haben Kinder in Rumänien, deren Schulbesuch sie damit finanzieren. Das Wichtigste für sie sind ihre Kinder und dass die es einmal besser haben.“
Für Alina ist es einfach ein menschliches Anliegen, Menschen zu unterstützen, die in Not sind. Als die Notschafstelle geschlossen wurde und es gar nichts mehr gab, begann sie, den Notreisenden im Park Tee und Kaffee zu bringen. „Es wurde zwar dann der Container aufgestellt und eine Notschlafstelle für Frauen eröffnet“, sagt Alina, „aber trotzdem gibt es immer noch viele, die im Park schlafen müssen“. Inzwischen hat Alina ein bisschen Rumänisch gelernt, so dass sie sich mit den Leuten über das Wichtigste verständigen kann.
Als der Kontakt immer intensiver wurde, entschied sie sich, dem Verein Phurdo beizutreten: „Es ist einfach besser, einen Verein im Hintergrund zu haben, z.B. wenn man mit der Polizei zu tun hat. Und der Verein ist eine Selbstorganisation der Roma, was ich sehr befürworte“, sagt sie. Phurdo hat es sich neben anderen Aktivitäten zur Aufgabe gemacht, obdachlose Notreisende in Salzburg zu unterstützen. Obmann Raim Schobesberger hat Tische und Bänke organisiert und jeden Abend wird frisch gekochtes Essen zum Container gebracht. Manchmal kommen auch Einheimische zu Besuch, um die Menschen, die hier übernachten, kennenzulernen.
Fehlinterpretationen und Verleumdungen
„Das lustigste Erlebnis war“, erzählt Alina, „einmal stand in der Zeitung, ich glaube in der Krone, dass die Bettler ein Tablet haben. Als ich in den Park gekommen bin, sind sie gleich mit diesem Ding zu mir gelaufen. In Wirklichkeit war es kein Tablet, sondern ein kaputtes eBook, dass sie auf dem Flohmarkt gefunden haben.“ Traurig findet sie es, wenn die Leute nur an Bettelnden vorbeigehen, nichts über sie wissen und sich auch nicht dafür interessieren, was mit ihnen gerade los ist. „Wir müssen uns immer im Bewusstsein halten, dass es sich um Menschen handelt, die ihre persönlichen Geschichten haben, wie alle anderen auch.“
Am schlimmsten seien die Verleumdungen, die oft über die Presse verbreitet werden, dass es sich bei den Bettelnden um eine Mafia handle. Solche Zeitungsmeldungen werden von vielen einfach unhinterfragt geglaubt. Wenn die Leute mitbekommen, dass so etwas über sie in den Zeitungen steht, seien sie immer sehr entsetzt, erzählt Alina. Einmal habe sie gesehen, wie eine Person von Anderen Geld einsammelte. Als sie nachgefragt habe, wurde ihr erzählt, dass von dreien die Mutter gestorben sei, und sie Geld gesammelt hatten, um es für die Beerdigung nach Rumänien zu schicken. Von außen betrachtet könnte man so eine Szene so interpretieren, dass ihnen jemand das Geld abnimmt. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig es ist, genauer hinzusehen und nachzufragen, und nicht gleich Schlüsse zu ziehen, ohne diese zu hinterfragen.
Auf die Frage, warum ihrer Meinung nach die Menschen so heftig auf das Thema Betteln reagieren, meint Alina: „Ich glaube, das Thema Betteln ruft in den Menschen starke Emotionen hervor, meist negative Emotionen. Viele wollen sich mit dem Thema Armut nicht so direkt auseinandersetzen. Da tut man sich halt leichter, wenn man irgendwelche Ausreden hat, wie zum Beispiel ‚das sind eh organisierte Banden’. Dann habe ich einen Vorwand parat, um mich nicht damit auseinandersetzen zu müssen.“
Unterschiedliche Erfahrungen in Salzburg
Mit den Menschen in Salzburg habe er eigentlich großteils gute Erfahrungen gemacht, sagt Samir. „Sie lassen es zu, dass wir hier ein bisschen Geld verdienen können“. Und Essen und Kleidung könne man hier auch bekommen. Unterstützung erfahre er hauptsächlich auf der Straße, und er ist auch dankbar für die Hilfe der Caritas und der Freund_innen, die sich bemühen, ihm und seinen Kolleg_innen das Leben auf der Straße etwas zu erleichtern.
Weniger gut seien dagegen die Erfahrungen der Bettelnden mit der Polizei, weiß Alina zu berichten. „Die Leute, die ich betreue, haben innerhalb einer Woche sieben Strafverfügungen bekommen.“ Unter anderem werde ihnen organisiertes Betteln vorgeworfen. Wenn sie sich in der Früh oder zu Mittag irgendwo treffen, egal ob es sich um Ehepaare, Geschwister oder Freunde handelt, passiere es häufig, dass die Polizei komme und ihnen Strafverfügungen wegen organisierten Bettelns erteile. Dann müssen sie entweder 100 Euro bezahlen oder eineinhalb Tage ins Gefängnis gehen. „Das Problem ist jedoch, dass die Leute die Strafverfügungen nicht verstehen und deshalb gar nicht wissen, was sie falsch gemacht haben“, so Alina.
Manchmal bekommen sie auch eine Strafe wegen aggressiven Bettelns, dafür reicht es schon aus, nur die Hand auszustrecken und „Bitte“ zu sagen. Weil es einen Paragraphen gibt, der der Polizei erlaubt, „unrechtmäßig erworbenes Geld“ wegzunehmen, wird ihnen dann das Geld abgenommen, das sie bis dahin verdient haben. Im August gingen Polizeibeamte sogar zusammen mit rumänischen Kollegen durch die Innenstadt, um vermeintliche Hintermänner zu suchen und die Bettelnden vor Menschenhandel und Ausbeutung zu schützen, wie es hieß. Erzählungen der Betroffenen zu Folge haben sie jedoch versucht, die Leute mit der Androhung von hohen Strafen einzuschüchtern und zu vertreiben. Sieht so der Schutz von Hilfsbedürftigen aus?
Hilfe zur Selbsthilfe – aber wie?
Alina sieht es als die direkteste Form zu helfen an, einem Bettler Geld zu geben. „Ob ich an eine Organisation spende, die in Rumänien tätig ist, oder ob ich es den Leuten direkt gebe, macht für mich keinen Unterschied. Ich sehe es als Hilfe zur Selbsthilfe an, damit sie sich dort etwas aufbauen können oder zumindest ihre Kinder eine Schulausbildung bekommen. Sie wissen selbst am besten, was sie brauchen und können sich das mit dem Geld dann kaufen.“
„Natürlich müssten europaweit Maßnahmen gesetzt werden und sich in den Ländern, wo die Leute herkommen, etwas ändern,“ ist Alina überzeugt, „aber das haben wir weniger in der Hand, als das, was hier passiert und was wir hier machen können.“ Sie wünscht sich mehr Mut von den Verantwortlichen: „Wir müssen akzeptieren, dass diese Leute jetzt da sind. Wir müssen wahrhaben, dass es in Europa Armut gibt, und uns damit auseinandersetzen. Die Stadt Salzburg könnte im Umgang mit den Armutsmigrant_innen eine Vorreiterrolle einnehmen.“
Als EU-Bürger_innen steht Menschen aus Rumänien der österreichische Arbeitsmarkt prinzipiell offen. Um hier arbeiten zu können, brauchen sie nur eine Meldeadresse und ausreichende Deutschkenntnisse. Häufig erschwere aber auch das Fehlen einer Ausbildung und mangelnde schulische Bildung die Integration in den Arbeitsmarkt. „Für die Leute ist es zuerst einmal das Wichtigste, einen Platz zum Schlafen und Essen zu haben und Zugang zu ärztlicher Versorgung zu bekommen, denn viele von ihnen haben gesundheitliche Probleme, verursacht durch schlechte Ernährung und die mangelnde Gesundheitsversorgung. Das zweitwichtigste wären Deutschkurse“, sagt Alina, „denn mit Deutschkenntnissen haben sie eher Zugang zum Arbeitsmarkt und somit mehr Möglichkeiten, sich selbst zu helfen.“
Samir will nicht mehr betteln. Er ist jung und hat sein Leben vor sich. Sein größter Wunsch ist es, eine Arbeitsstelle zu finden, damit er seine Familie unterstützen und etwas aus seinem Leben machen kann. Warum sollte Samir nicht auch die Möglichkeit bekommen, eine Ausbildung zu machen und einen Beruf zu erlernen? Wäre es nicht eine Schande und eine Vergeudung von Potenzial, einen jungen Menschen daran zu hindern, seine Begabungen und seine Kreativität zu entfalten? Braucht unsere Gesellschaft denn nicht alle Kräfte, um die Herausforderungen der Zukunft zu meistern?
veröffentlicht in Talktogether Nr. 49/2014
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