Geschichte der Baumwolle PDF Drucken E-Mail

Wie die „Dritte Welt“ gemacht wurde

Die Geschichte der Baumwolle: eine Geschichte von Reichtum und Elend

Ohne Baumwolle können wir uns heute unsere Kleidung kaum vorstellen. Ihre Leichtigkeit, Saugfähigkeit und Zähigkeit machen diese Naturfaser zu einem unentbehrlichen Rohstoff für unsere tägliche Kleidung. Die Geschichte von Anbau, Verarbeitung und Vermarktung der Baumwolle ist auch eine Geschichte von kolonialer Ausplünderung, Sklaverei und kapitalistischer Ausbeutung.

Die Domestizierung der Baumwolle dürfte nach den Erkenntnissen der Wissenschaft an verschiedenen Orten der Welt unabhängig voneinander erfolgt sein. Die ältesten Baumwollfasern wurden im Indus-Tal bei Ausgrabungen zu Tage befördert und können auf 6000 v.Chr. datiert werden. Schriftlich wird die Baumwolle das erste Mal im indischen Rigveda (1.500 v. Chr.) erwähnt. Tausend Jahre später schrieb der griechische Geschichtsschreiber Herodot: „Es gibt wildwachsende Bäume, aus deren Frucht man eine Wolle gewinnen kann, die die Schönheit und Qualität der Schafwolle weit übertrifft. Die Inder machen aus dieser Baumwolle ihre Kleider.“

Im Alten Ägypten wurde Baumwolle zur Mumifizierung verwendet und ist seit dem Neuen Reich durch Grabfunde belegt. Auch bei den Völkern des amerikanischen Kontinents wurde Baumwolle gezüchtet und verarbeitet. Die ältesten Funde von Baumwollstoffen aus Peru, Ecuador und Mexiko sind bis über 6000 Jahre alt. In verschiedenen Gebieten und Kulturen Süd- und Mittelamerikas wurde Baumwolle als begehrtes Gut teuer gehandelt. Kolumbus, Cortes, Magellan und andere berichteten bewundernd über die bunten Mäntel der Einheimischen. Die Bedeutung der Baumwolle für die Mittelamerikanischen Kulturen zeigte sich auch darin, dass es bei den Olmeken einen Baumwollgott gab.

Auf dem indischen Subkontinent wurden schon sehr früh verschiedene Kultursorten kultiviert. Bengalen, Gujarat, der Punjab und die Küste Tamil Nadus entwickelten sich zu Zentren einer hochspezialisierten Textilindustrie, deren Erzeugnisse bis in den Nahen Ostens und nach Ostafrika gehandelt wurden. Man benützte einfache Entkörnungsmaschinen, Spinnräder und Webstühle. Zwei Jahrtausende lang die hatte Indien die weltweite Vormachtstellung in der Baumwollverarbeitung.

Über die Seidenstraße gelangten Baumwollstoffe auch in den Mittelmeerraum. Ab dem 14. Jahrhundert zog Venedig das Handelsmonopol für Baumwolle an sich. Bis ins 18. Jahrhundert blieb die Baumwolle in Europa jedoch eine Luxusware. Grund dafür war der hohe Arbeitseinsatz bei der Verarbeitung. Europäische Spinner waren nicht in der Lage, Baumwollfäden zu spinnen, die fest genug waren, um ein reines Baumwollgewebe herzustellen.

Armut und Hunger als Folge der Kolonialisierung

Erst als neue Verarbeitungsmöglichkeiten Baumwollprodukte billiger machten, wurde die Baumwolle zur wichtigsten Handelsware der Welt, die die Industrialisierung in Gang brachte. Eine der Voraussetzungen für die industrielle Revolution in England war die Ausplünderung der Kolonien. Die Baumwolle gehörte zu den Kerngeschäften der Britischen Ostindien-Kompanie. Diese private Handelsgesellschaft, die von der britischen Krone mit vielen Privilegien ausgestattet war, monopolisierte den Handel mit Bengalen. Bengalische Handwerker wurden mit Gewalt gezwungen, ihre Waren zu einem geringen Preis zu liefern und hohe Steuern zu bezahlen. Als die Engländer dann noch den Reis aufkauften und ihn zu überhöhten Preisen verkauften, war das Resultat die Hungersnot von 1769 bis 1770, in der zehn Millionen Menschen starben.

Die Erfindung der Spinnmaschine „Spinning Jenny“ 1764 ermöglichte erstmals eine effiziente Verarbeitung der Baumwolle in Europa. Damit war der Grundstein für die Entwicklung der englischen Textilindustrie gelegt. Indien sollte fortan nur mehr billige Rohstoffe liefern und nicht länger ein Konkurrent für englische Industrieprodukte sein. Deshalb schützte England seine Textilindustrie durch hohe Einfuhrzölle und Einfuhrverbote und verbot seiner Kolonie auch den Handel mit den anderen europäischen Ländern, so dass die englische Textilindustrie eine weltweite Monopolstellung innehatte.

Gleichzeitig stellte der indische Subkontinent einen wichtigen Hoffnungsmarkt für englische Erzeugnisse dar. Nur gab es in Indien keinen Bedarf für englische Textilien. Dhaka, die heutige Hauptstadt von Bangladesch, war damals das Zentrum einer Textilproduktion, die fortgeschrittener und produktiver als die englische war. Doch durch die Überschwemmung des Marktes mit billigem englischen Garn und englischen Baumwollstoffen wurden die einheimischen Handwerksbetriebe in den Ruin getrieben. Nach dem durch die Kolonialmacht herbeigeführten Bankrott ihrer Manufakturen flüchteten Millionen von indischen Spinnern und Webern auf das Land, das diesen Zustrom nicht verkraften konnte. Hinzu kam, dass die Kolonialverwalter Angehörige höhere Kasten als Zamindare (Steuereintreiber) einsetzten, die sich zu einer Klasse von Großgrundbesitzern entwickelten. Damit wurde in Indien ein Feudalsystem eingeführt, das vorher nicht existiert hatte. Weil sich diese neuen Grundbesitzer mehr um die Vermehrung ihres eigenen Reichtums kümmerten als um die Allgemeinheit, ließen sie Jahrhunderte alte Bewässerungssysteme verfallen.

Die Zerstörung der einheimischen Industrien und die Degradierung Indiens zum billigen Rohstofflieferanten stellten die ökonomische Basis des kolonialen Ausbeutungssystems dar. Deshalb erregte Gandhis Spinnrad-Kampagne im Unabhängigkeitskampf großes Aufsehen. Gandhi rief dazu auf, selbst Stoffe herzustellen und keine englischen Stoffe mehr zu importieren. Das Spinnrad wurde so zum Symbol für die indische Unabhängigkeit und ziert noch heute die indische Flagge.

„Cotton is King“ – Sklaverei in den USA

Weil mit dem „weißen Gold“ viel Geld verdient werden konnte, war der Bedarf danach unersättlich. Auch in den Südstaaten von Nordamerika wurden Baumwollplantagen angelegt. Da das Entfernen der Samen von Hand jedoch sehr arbeitsintensiv war, war das Geschäft nur profitabel, wenn die Arbeitskräfte möglichst billig waren. Niemand eignete sich in den Augen der Plantagenbesitzer mehr für diese Arbeit als afrikanische Sklaven, die keinen Cent für ihre Arbeit erhielten. Der transatlantische Sklavenhandel führte in den USA zu einer gewaltigen Steigerung der Profite. Nach der Unabhängigkeit 1776, als sich andernorts bereits Widerstand gegen den Sklavenhandel regte, verschlechterte sich die Lage der Sklaven sogar noch: Sie wurden regelrecht „gezüchtet“ wie Vieh und zu Fußmärschen über Hunderte Meilen in den Süden gezwungen.

Als 1793 die Entkörnungsmaschine „Cotton Gin“ erfunden worden war, ersetzte diese die Arbeit von 3000 Sklaven, die nun auf die Felder geschickt wurden. In Folge wurde der Baumwollanbau immer mehr intensiviert. „Cotton is king – die Baumwolle regiert“, erklärte James Henry Hammond 1858, Senator aus South Carolina und ein Verfechter der Sklaverei. In der Mitte des 19. Jahrhundert arbeiteten zwei Millionen Sklaven und Sklavinnen auf 74.000 Plantagen. Baumwolle machte lange Zeit mehr als die Hälfte der US-amerikanischen Exporte aus, und in vielen Distrikten des amerikanischen Südens bildeten afrikanische Sklaven die Bevölkerungsmehrheit.

Die „freien“ Sklaven der Industrie

Die neu entwickelte Textilindustrie führte für einige zu großem Reichtum und Kapitalanhäufung, während sie für viele bittere Armut und Ausbeutung bedeutete. Friedrich Engels beschrieb in seiner 1845 herausgegeben Schrift „Die Lage der arbeitenden Klasse in England“ diese Entwicklung: „Vor der Einführung der Maschinen geschah die Verspinnung und Verwebung der Rohstoffe im Hause des Arbeiters. Frau und Töchter spannen Garn, das der Mann verwebte oder das sie verkauften, wenn der Familienvater nicht selbst es verarbeitete. Diese Weberfamilien lebten meist auf dem Lande, in der Nähe der Städte, und konnten mit ihrem Lohn ganz gut auskommen“.

Anfangs brachte die neue Spinnmaschine den Familienbetrieben mehr Aufträge und Einkommen, weil das Rohmaterial Garn billiger wurde. Doch die Bewegung der Industrie blieb nicht stehen. Es folgten weitere Erfindungen wie der mechanische Webstuhl und die Dampfmaschine, die jedes Jahr verbessert wurden. Damit war der Sieg der Maschinenarbeit über die Handarbeit in der englischen Industrie entschieden. Die Handarbeiter wurden aus einer Position nach der andern vertrieben und es blieb ihnen nichts anderes übrig, als sich vor den Fabriktoren um Arbeit anzustellen. Der mechanische Weber konkurrierte gegen den Handweber und die Arbeiter konkurrierten unter sich, genau so wie die Fabrikherren unter sich konkurrierten. Engels schreibt: „Dieser Krieg, ein Krieg um das Leben, um die Existenz, um alles, also auch im Notfalle ein Krieg auf Leben und Tod, besteht nicht nur zwischen den verschiedenen Klassen der Gesellschaft, sondern auch zwischen den einzelnen Mitgliedern dieser Klassen.“

Die Fabrikbesitzer nutzten die Konkurrenz zwischen den Arbeitern, um den Arbeitstag bis an die Grenzen des physisch Erträglichen zu verlängern und den Arbeitslohn bis zum absoluten Existenzminimum zu drücken. Weil der Lohn der Familienväter nicht mehr ausreichte, um die Familie zu ernähren, mussten auch Frauen und Kinder mitarbeiten. Schon sechsjährige Kinder wurden in die Fabriken geschickt. Obwohl ihr Arbeitstag um fünf oder sechs Uhr morgens begann und oft erst um sieben oder acht Uhr abends endete, bekamen sie nur einen Bruchteil des Lohnes von Erwachsenen. Diese Kinder waren häufig sehr krank, weil sie in den Fabrikhallen ständig verpestete Luft einatmeten und bei wenig Licht an lauten Maschinen arbeiten mussten.

Baumwollanbau und -verarbeitung heute

Die Geschichte der Industrialisierung wird als die Erfolgsgeschichte Europas und Nordamerikas gefeiert. Sie hat die wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Beziehungen nicht nur in den europäischen Gesellschaften von Grund auf verändert. Die Textilindustrie gehörte zu jenen Industrien, in denen diese Veränderungen zuerst auftraten. Während die Industrialisierung in einem Teil der Welt zu Entwicklung und Wohlstand führte, bedeutete sie für die kolonialisierten Länder den Abstieg in Armut und Abhängigkeit.

Durch die Mechanisierung beim Anbau, der Ernte und der Verarbeitung sind Baumwollprodukte heute zur Massenware geworden. Innerhalb von hundert Jahren sanken die Herstellungskosten für ein Baumwolltuch auf etwa ein Prozent. Doch Ausbeutung, Enteignung und Ungleichheit sind geblieben: Während westafrikanische Baumwollproduzenten gegen die übermächtige Konkurrenz einer hoch subventionierten Agrarindustrie kämpfen, haben die Machenschaften von Biotechnologiekonzernen eine Massenselbstmordwelle bei Baumwollbauern in Indien ausgelöst, die durch die Abhängigkeit von teurem genmanipulierten Saatgut in die Verschuldung getrieben wurden. Die Textilproduktion dagegen wurde weitgehend in Länder wie China, Bangladesch oder Kambodscha verlagert, wo sich Arbeiter und Arbeiterinnen gegen extrem ausbeuterische Arbeitsbedingungen und Hungerlöhne zur Wehr setzen müssen.

veröffentlicht in Talktogether Nr. 49/2014

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