Menschenrechte und Demokratie
oder der Mythos von den europäischen Werten
Viel wird heutzutage von den Werten geredet, die Europa verteidigen, ja sogar auf der ganzen Welt verbreiten müsse, wie es Angela Merkel und Wolfgang Schäuble bei der Verleihung des Nobelpreises an die Europäische Union verlauten ließen. Es klingt wie eine Drohung. Von Rationalismus ist die Rede, von Freiheit, Toleranz, Demokratie und Menschenrechten. Die Arroganz des Westens entbehrt jedoch jeglicher Grundlage. Denn lange haben sich die europäischen Kolonialmächte dagegen gewehrt, die Menschenrechte zu akzeptieren. Und hat nicht auch dieses Europa, das so stolz darauf ist, sich vom Feudalismus befreit zu haben, feudale Strukturen und Stammesdenken in seinen Kolonien gefördert oder sogar erst eingeführt?
Tribalismus - ein europäisches Konstrukt
Während heute außereuropäische Mächte, vor allem China, dem Westen den Anspruch auf Vorherrschaft streitig machen, leidet der afrikanische Kontinent noch immer an den Folgen des Kolonialismus. Meist werden in den Medien ethnische Konflikte als Erklärung für fast alles herangezogen, was in Afrika passiert. Aber gerade die europäischen Kolonialmächte waren es, die Tribalismus, Clanismus und die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen für ihre Zwecke benutzt, gefördert und geschaffen haben. Die Bedeutung von Stamm als statische sprachlich-kulturelle Einheit, die sich gegen andere „Stämme“ klar angrenzen lässt, entspringt nämlich einem europäischen Bild, das von Ethnologen, Reisenden und Missionaren geprägt wurde. Dieses Konzept vom Stamm war sehr nützlich für die Missionierung und Verwaltung der kolonialisierten Länder (vgl. Bley 1996).
Die afrikanische Geschichte vor der Kolonialzeit ist aber im Gegensatz dazu durch die Vielfalt und Offenheit ihrer politischen und kulturellen Systeme gekennzeichnet. In Afrika existierten einerseits militärisch mächtige zentralisierte Königreiche, andererseits kleinere politische Einheiten wie die Stadtstaaten Oyo, Ife und Ibadan im heutigen Nigeria oder die Küstenstädte am Indischen Ozean. Gleichzeitig gab es dezentrale staatenlose Gesellschaften wie die der Igbo oder in Somalia, wo die Menschen in autonomen Dorfgemeinschaften bzw. als Nomaden lebten. In diesen Gesellschaften gab es wenig Konzentration von Autorität. Diese beschränkte sich auf einen Sektor des gesellschaftlichen Lebens, und somit gab es auch keine Vollzeit-Inhaber von Macht. Die Abwesenheit einer zentralen Regierung behinderte jedenfalls die Entwicklung einer spezialisierten und vielfältigen Wirtschaft nicht.
Wie ursprünglich überall auf der Welt waren die Völker Afrikas in Clans – einer Art erweiterten Großfamilie – oder in Föderationen von Clans organisiert. Diese sog. Kinship-Beziehungen boten den Mitgliedern Schutz und soziale Absicherung. Bei den Akan in Ghana zum Beispiel ist es zum Teil noch heute üblich, nach dem Tod eines Mitglieds seinen Besitz auf die weniger wohlhabenden Mitglieder eines Clans zu verteilen. Die Clan-Gemeinschaft beruhte zwar auf Blutsverwandtschaft, doch war es möglich und die übliche Praxis, Fremde – Zuwanderer, Flüchtlinge, Kriegsgefangene oder Sklaven – zu integrieren.
Zur Kontrolle der Clans schufen viele afrikanische Gesellschaften Institutionen, die quer zu den Kinship-Beziehungen verliefen, wie die Altersgruppen oder Geheimgesellschaften. Diese hatten die Aufgabe, die Clans bei Rivalitäten zu disziplinieren. Ein Beispiel dafür ist der Xeer Beg bei den somalischen Nomaden, ein Ältestenrat, der die Aufgabe hatte, bei Streitigkeiten zwischen den Clans Lösungen zu vermitteln und Konflikten vorzubeugen. Konnte eine Einigung nicht erzielt werden, wurden Abgesandte eines Xeer Begs aus einer anderen Region als Vermittler herangezogen. Solche Systeme haben auch zum Bewusstheit der Zusammengehörigkeit zum Entstehen einer kulturellen Einheit beigetragen.
Das System der indirekten Herrschaft
Um die Kolonien zu verwalten, die oft um ein vielfaches größer waren als ihre eigenen Länder, und sie gegen konkurrierende Kolonialmächte abzusichern, benötigten die europäischen Machthaber ein System, das es ihnen ermöglichte, mit möglichst wenig Ressourcen die Herrschaft in den Kolonien zu erlangen und aufrecht zu erhalten. Grenzen zwischen den Gebieten wurden gezogen, Plantagen für Exportgüter nach Europa angelegt und die Menschen umgesiedelt. Um das neue Rechtssystem durchzusetzen, brauchte es hierarchische Strukturen und Autoritäten, die bereit waren, sich anzupassen. Gab es keinen „Oberhäuptling“, wurde einer eingesetzt. Für ihre Loyalität erhielten sie eine Art Lohn, Korruption war somit Grundlage dieses Systems (vgl. Methmann 2014).
Territoriale Grenzen waren vor Auftreten der Kolonialmächte nirgends unverrückbar fixiert. Zugehörigkeit zur Familie des Vaters, des Mannes oder – in matrilinearen Gesellschaften – zur Familie der Mutter schufen für jeden einzelnen Menschen ein Netz von Verbindungen. Diesem ‚Treibsand von Identitäten und Loyalitäten, flexiblen Grenzen und umkämpften Rechten’ stülpten die Kolonialmächte ihr Stammeskonzept über. Damit wollten sie afrikanische Vielfalt für ihre Kolonialbeamten und Steuereintreiber überschaubar machen. Sie bestimmten Häuptlinge nach ihrem Gusto und machten sie zu ihren Handlangern. Manche der so geschaffenen Stämme wurden in der Kolonialzeit zu Empfängern von Schulen, Krankenhäusern und Straßen und nach der Unabhängigkeit von Entwicklungshilfe gemacht. Andere Gruppen gingen leer aus. Und schon gab es Stammeskonflikte. (Hauck 2002: Gesellschaft und Staat in Afrika)
Ein tragisches Beispiel für die Folgen der Teile-und-Herrsche-Politik ist Ruanda. Vor der Kolonialzeit gab keine strenge Trennung zwischen den Bevölkerungsgruppen Tutsi und Hutu, die eher Klassen als Stämme waren, das Überwechseln in eine andere Gruppe war möglich. Erst die belgischen Kolonialherren mit ihrer rassistischen Ideologie schrieben die Zugehörigkeit als biologisch und unverrückbar fest.
Menschenrechte und Demokratie
Schließlich stellt sich auch die Frage, ob Europa das alleinige Urheberrecht für Werte wie Demokratie und Menschenrechte beanspruchen kann. Die Menschenrechte sind keineswegs ein europäischer Export in die Welt. So können sich auch afrikanische Staaten auf eine eigene Menschenrechtskultur berufen. Die Charta der Mandè – die älteste Erklärung grundlegender Menschenrechte der Welt – wurde 1222 von den Repräsentanten des Reiches Mali als Schwur proklamiert. Sie besteht aus 44 Maßnahmen, die darauf abzielen, das Gemeinschaftsleben zu regeln, Krieg abzuwenden, Frieden, Stabilität, wirtschaftliches Wachstum, Gerechtigkeit, Toleranz, Teilhabe und wechselseitige Solidarität zu fördern. Die Charta ähnelt in erstaunlicher Weise den Menschenrechtserklärungen der westlichen Welt: Sie etablierte u.a. das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, die Gleichberechtigung aller Menschen, erklärte, dass Bildung ein Recht aller und gesellschaftliche Aufgabe sei, gewährte Fremden Sicherheit, installierte die diplomatische Immunität, rief zu Toleranz auf und verurteilte die Diskriminierung von Frauen.
Durch die Forschungen von Cheikh Anta Diop, Leo Froebenius und anderen wissen wir heute über die zivilisatorischen Fortschritte der afrikanischen Kulturen Bescheid, deren Weiterentwicklung durch den Kolonialismus unterbrochen und gewaltsam behindert worden sind. Im islamischen Reich Fouta Toro im Norden Senegals existierten politische Parteien, z.B. die Partei Torrodo. Der Reformer Thierno Souleymane Baal führte im 18. Jahrhundert den Regierungswechsel nach zwei Amtperioden als Regel ein und widersetzte sich der Sklaverei. In der ganzen Region Senegambia herrschte Meinungsfreiheit, und das Recht Organisationen zu gründen oder sich zu versammeln war an keinerlei Bedingungen geknüpft. Das unterscheidet sich doch recht wesentlich von den durch den Kolonialismus geprägten Vorstellungen von Afrika und rüttelt an unserem eurozentristischen Bild von der Welt (vgl. Der Thiam 2014).
Charta der Mandè (Auszug)
1. Die Jäger verkünden: Jedes (menschliche) Leben ist wertvoll. Zwar kann ein Leben vor dem anderen entstehen, aber dieses Leben ist deswegen nicht „älter“, nicht wertvoller als das nachfolgende. Kein Leben steht höher als ein anderes.
2. Die Jäger verkünden: Jedes Leben ist wertvoll. Deshalb darf kein Leben verletzt werden. Daraus folgt: Niemand soll sich über seinen Nächsten stellen. Niemand soll seinem Nächsten Unrecht tun. Niemand soll seinesgleichen Gewalt antun.
3. Die Jäger verkünden: Jeder soll sich um seinen Nächsten kümmern. Jeder soll seine Eltern achten. Jeder soll seine Kinder richtig erziehen. Jeder soll für seine Familie sorgen.
4. Die Jäger verkünden: Jeder soll seinem Vaterland dienen. Das Vaterland, Faso, sind vor allem die Menschen. Denn ein Land, das von seinen Bewohnern verlassen wird, ist voller Trauer.
5. Die Jäger verkünden: Der Hunger ist ein Übel. Die Sklaverei ist ein Übel. Auf Erden sind dies die größten Plagen. Doch solange wir mit Köcher und Bogen bereit stehen, wird niemand in Mandén diesen Plagen mehr zum Opfer fallen. Keine Hungersnot wird das Dorf mehr heimsuchen, kein Krieg es mehr zerstören und die Menschen versklaven. Niemand soll mehr geschlagen und niemand mehr getötet werden, denn es wird keine Sklaven mehr geben.
Ãœbersetzung: Adrian Widmann, Frankfurter Rundschau vom 26.10. 2009
Toleranz - eine europäische Errungenschaft?
Als Sieg der Toleranz wurde der Erfolg der österreichischen Drag-Queen Conchita Wurst beim Eurovision-Songcontest in den Medien bejubelt. Diese angebliche Toleranz ist allerdings in Europa ein sehr neues Phänomen. Wie wir aus Forschungen heute wissen, waren dagegen gleichgeschlechtliche erotische Beziehungen – sowohl bei Männern als auch bei Frauen – in vielen Kulturen außerhalb Europas gesellschaftlich akzeptiert und wurden meist auch nicht als Gegensatz zu heterosexuellen Beziehungen angesehen. Auch Missionare berichteten schockiert über solche Sitten bei afrikanischen und amerikanischen Kulturen. Für sie waren sie jedoch ein Beweis für die Barbarei dieser Völker und ein Grund, sich sogleich ans Werk zu machen, diese ihrer Meinung nach unmoralischen Sitten auszumerzen. Auch ein Wechsel der Geschlechterrollen war in vielen außereuropäischen Kulturen akzeptiert. Im vorkolonialen Amerika hatten sog. „Two Spirit People“ hohes Ansehen und waren oft Medizinmänner. In den südasiatischen Gesellschaften werden Hijras bzw. Khusras innerhalb der ihnen traditionell zugedachten Rollen akzeptiert. Vom Gesetz werden sie seit 2009 in Indien, seit 2011 in Pakistan, und seit 2013 in Bangladesch als drittes Geschlecht anerkannt.
Dies alles darf natürlich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Menschenrechtsverletzungen, Frauenunterdrückung und die Diskriminierung von Minderheiten heute in vielen Teilen der Welt an der Tagesordnung stehen. Viele der noch heute gültigen restriktiven Gesetze und Praktiken entstammen der Kolonialzeit. Es hilft den Völkern aber nicht weiter, die Schuld an den heute existierenden Problemen nur bei den Europäern zu suchen. Vielmehr kann die selbstbewusste Beschäftigung mit der eigenen Geschichte zur Entwicklung neuer Strategien und Lösungsmöglichkeiten inspirieren. Der Rückzug in reaktionäre Denkmuster und (vermeintliche) Traditionen kann jedenfalls nicht zur Befreiung vom Diktat des Imperialismus führen.
- Quellen und Literaturempfehlungen:
- Bley, Helmut 1996: Tribalismus oder Die Verzerrung der Afrikanischen Geschichte.
- Methmann, Ana-Cara 2014: Under Construction. Der koloniale Beitrag zur Bildung afrikanischer Stämme. Hinterland Nr. 15
- Iba Der Thiam: Dekolonialisierung als andauernde Herausforderung: 50 Jahre Afrikanische (Un)abhängigkeiten. Africavenir 2014
veröffentlicht in Talktogether Nr. 49/2014
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