Syrisch-Kurdistan: Kampf um Kobanȇ PDF Drucken E-Mail

Kampf um Kobanȇ –
Kampf um die Zukunft

Seit 15. September leistet die Bevölkerung der kurdischen Stadt Kobanȇ erbitterten Widerstand gegen die Angriffe der Terrormiliz IS. Hätte sie die Angriffe nicht so lange abwehren können, wäre ihr in den Medien kaum so große Aufmerksamkeit zuteilgeworden. Heute kennt jeder aus den Fernsehnachrichten diese syrische Stadt, die so nahe an der türkischen Grenze liegt, dass man von dort aus die Kämpfe beobachten kann. Viele bewundern den ungebrochenen Willen der BewohnerInnen, ihre Stadt zu verteidigen. Weniger bekannt ist, dass sich die Menschen in dieser Region schon seit mehr als zwei Jahren gegen die Angriffe von IS und anderen Dschihadisten verteidigen müssen. Woher schöpfen sie ihre Kraft?

Als Rojava oder Westkurdistan wird die nordsyrische Region entlang der Grenze zur Türkei und zum Nordirak bezeichnet, die sich aus den drei Kantonen Efrîn, Kobanê und Cizîrê zusammensetzt. Als der Bürgerkrieg in Syrien entbrannte, beschloss die mit der PKK verbündete kurdische Partei der Demokratischen Einheit (PYD), sich nicht auf die Seite einer der Bürgerkriegsparteien zu stellen, sondern einen eigenständigen dritten, friedlichen Weg zu gehen. Dieser Prozess begann bereits 2011, als die Bevölkerung von Kobanȇ die von der Assad-Regierung beschlagnahmten Ländereien wieder unter ihre Kontrolle brachte. Die Befreiung vom Assad-Regime schließlich erfolgte größtenteils durch Verhandlungen, und es gab nur wenige Tote.

Die PYD stellte gemeinsam mit der christlichen Suryoye-Partei und weiteren Parteien eine autonome Übergangsverwaltung für die Region auf mit dem Ziel, das Bildungssystem wieder aufzubauen, die Verwaltung und Versorgung der Bevölkerung zu organisieren sowie Dörfer und Städte zu verteidigen. Dabei wird auf ein System der demokratischen Selbstverwaltung gesetzt, deren unterste Organisationseinheiten die Kommunen sind, die meist aus 30 bis 150 Haushalten bestehen. Inmitten des Mordens und Plünderns ist es hier gelungen, einen Raum relativen Friedens zu schaffen, der auch zu einem Zufluchtsort für Menschen wurde, die vor dem Terror aus anderen Teilen Syriens und aus dem Nordirak fliehen mussten.

„Es sind bewaffnete Banden, die sich selbst Dschihadisten nennen, die unser Land und unsere Leute angreifen. Wenn sie Frauen sehen, die an der Front kämpfen, macht es sie ganz verrückt. (...) Sie kommen mit ihren riesigen Körpern und Bärten und haben zwar den Mut zu kämpfen, wissen aber nicht wie.“

Sarina Efrin, 17 Jahre, Rojava Report, 02.10.2013


Nähereikooperative in Derik (Foto: Janet Biehl www.biehlonbookchin.com)

Die deutsche Politikerin Ulla Jelpke, die im August 2014 zwei Wochen lang kurdische Gebiete in Syrien und im Irak besucht hat, erzählt in einem Interview[1]: „Kurden machen rund ein Drittel der Bevölkerung aus. Daneben leben in Rojava Araber, christliche Minderheiten wie Assyrer und Aramäer, Turkmenen, Tscherkessen und andere. Viele dieser Bevölkerungsgruppen standen anfangs dem Modell der Selbstverwaltung und den Räten skeptisch gegenüber. Doch inzwischen beteiligen sie sich immer stärker daran. Für die Ministerposten der Kantonalverwaltungen gilt das Prinzip, dass jeder Minister und jede Ministerin zwei Stellvertreter aus den anderen ethnisch-religiösen Bevölkerungsgruppen haben muss.“ In den Räten wird eine Frauenquote von 40 Prozent angestrebt, Führungspositionen werden jeweils mit einem Mann und einer Frau besetzt.[1] Doch den regionalen und internationalen Mächten, die in der Region ihre eigenen – oft gegensätzlichen – Pläne verfolgen, hat diese Eigenständigkeit nicht gefallen.

Die Region wurde ökonomisch und politisch isoliert, Medikamente, dringend benötigte Maschinen und medizinische Geräte konnten aufgrund des Embargos nicht nach Rojava eingeführt werden. Die Türkei errichtete im Norden einen Zaun, und Südkurdistan (Nordirak) sperrte die Grenze durch einen befestigten Graben ab. Barzanis PDK scheint wohl selbst großes Interesse an den Ölquellen von Rimelan zu haben, wobei ihr die selbstverwaltete Regierung im Weg steht. Erst als die IS Şengal einnahm und die jesidische Bevölkerung jagte und ermordete, wurde die Grenze für Flüchtlinge geöffnet. Doch das Abgeschnittensein vom Weltmarkt hatte nicht nur negative Konsequenzen. Die Bevölkerung schloss sich in Kooperativen zusammen, um den Alltag zu organisieren und lebenswichtige Dinge wie Kleidung und Nahrungsmittel selbst zu produzieren.

Die Verwaltung Rojavas ist weit davon entfernt, fehlerfrei zu arbeiten, was angesichts der bedrohlichen Lage auch eine unrealistische Erwartung wäre. Auf die Kritik der internationalen Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch hinsichtlich Verstößen gegen Menschenrechtsstandards durch Sicherheitskräfte kann entgegnet werden, dass die administrativen und politischen Strukturen ganz neu aufgebaut werden mussten und einer sehr bedrohlichen Gefahr durch terroristische Organisationen ausgesetzt sind. Ein weiterer Kritikpunkt der Menschenrechtsorganisation war, dass bereits 16- bis 17-Jährige in den militärischen Selbstverteidigungseinheiten aktiv sind – für manche junge Frauen mag es vielleicht sogar eine Möglichkeit sein, familiären Zwängen oder einer Heirat zu entgehen. Warum will man ihnen nicht das Recht auf diese Entscheidung zugestehen?

Auch wenn das System in Rojava nicht perfekt sein mag, im Vergleich zu dem, was ringsherum geschieht, stellt Rojava eine Alternative dar, die geschützt werden muss und eine Hoffnung für den ganzen Nahen Osten bedeuten kann. Die türkische Regierung würde es gerne sehen, dass Rojava scheitert, die PKK wird von der EU noch weiterhin auf der Terrorliste geführt, und die Luftschläge der USA scheinen eher ein halbherziges Unterfangen zu sein. Die Hilfe, die die Kämpfer und Kämpferinnen von Kobanȇ nach langem Zögern nun endlich erhalten, ist zweifellos keine uneigennützige, und es bleibt zu hoffen, dass sie sich für die Bevölkerung nicht letztendlich als Falle entpuppt.

Veröffentlicht in Talktogether Nr. 50/2014